Ganztagsschule und Betreuung in Baden-Württemberg : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Wie können Kommunen und Schulen ihr Ganztagsangebot steuern? Die Hochschule Kehl hat das Pilotprojekt in Baden-Württemberg wissenschaftlich begleitet und legt nun im Handlungsleitfaden zehn Erfolgsfaktoren vor.

Während der Schuljahre 2018 bis 2021 haben zehn Pilotkommunen in Baden-Württemberg ausprobiert und getestet, ob und wie sich die Koordinierung zwischen Ganztagsschule und Betreuung in den Kommunen optimieren lässt. Um die Quintessenz des Projektes allen interessierten Kommunen und Schulen zur Verfügung stellen zu können, wurde ein Handlungsleitfaden erarbeitet, der Erfolgskriterien, grundlegende Fragen und Praxisbeispiele gut strukturiert aufbereitet hat.
Der knapp 25 Seiten umfassende Handlungsleitfaden versteht sich als Unterstützung zur strategischen Reflexion, der „helfen kann, im Rahmen wichtiger Fragestellungen die operative Umsetzung vor Ort zu organisieren“ (S. 3). Konkret geht es um die Koordinationsaufgaben zwischen Schule und Schulträger in der Steuerung von Angeboten sowie des Personals und der Finanzen, weil an deren Schnittstellen nicht selten Reibungspunkte durch die unterschiedlichen Zuständigkeiten auftreten.
Mit einem der bekannten Konfliktthemen räumen die Autorinnen und Autoren gleich zu Beginn auf. Sie schreiben: Aus Sicht der Kinder ist „die ‚Zuständigkeit‘ für die Angebote nicht entscheidend. Ob es sich, wie bei der Ganztagsschule nach § 4 a Schulgesetz (SchG), um eine Landesaufgabe handelt oder um ein kommunales Betreuungsangebot (…), ist für das ‚Wohl des Kindes‘ zweitrangig (S. 3). Aus diesem Grunde wird im Leitfaden ganz bewusst von „Ganztagsschule und Betreuung“ gesprochen. Es wird auch nicht zwischen Ganztagsschulen in verbindlicher Form und dem Ganztag als Wahlangebot sortiert – eine bekanntermaßen ebenfalls gerne geführte Diskussion.
„Wohl des Kindes“ statt bekannter Konfliktlinien

Statt sich an allen diesen Konfliktlinien abzuarbeiten, einigte sich das Forschungsteam der Hochschule Kehl um Prof. Dr. Jürgen Kegelmann und Prof. Dr. Jürgen Fischer darauf, gemäß Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention das „Wohl des Kindes“ zur Richtschnur des Pilotprojektes zu machen und dabei auch die Originalformulierung der Konvention „the best interests of the child“ („die besten Interessen des Kindes“) einzubeziehen. Absatz 1 lautet im Original:
„In all actions concerning children, whether undertaken by public or private social welfare institutions, courts of law, administrative authorities or legislative bodies, the best interests of the child shall be a primary consideration.” Und in der deutschen amtlichen Übersetzung: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“
Unter dieser Prämisse widmete sich das Team dem durch das Kultusministerium vorgegebenen Ziel. Es sollte ein Antwort auf folgende Frage gefunden werden: In welchem Maße kann eine kommunale Koordinierungsstelle bei der Organisation der Betreuungsangebote in der Kommune unterstützen sowie die Ganztagsschulen nach § 4 a des Schulgesetzes von Baden-Württemberg bei der Organisation und Abwicklung des Ganztagsschulbudgets entlasten?
Erfolgsfaktoren als strukturierende Elemente

Der Gefahr, dass aus diesem komplexen und anspruchsvollen Ziel eine sich mühsam zu erschließende Publikation werden könnte, sind die Autorinnen und Autoren mit einem kleinschrittigen Aufbau klug begegnet. Sie rahmen die Ergebnisse des durchaus aufwendigen Steuerungsprozesses, auf den sich die beteiligten Kommunen eingelassen haben, durch wegweisende Fragen. Gleich zu Beginn geben sie – sozusagen als Lesehilfe – einen Überblick über fünf Steuerungsdimensionen und vier Phasen eines Steuerungsprozesses und visualisieren die komplexen Zusammenhänge durch Tabellen und Grafiken.
Besonders hilfreich für das Verständnis der Leserinnen und Leser ist jedoch die Einordnung der Prozessergebnisse in zehn nachvollziehbare Erfolgsfaktoren, die dem Hauptteil der Publikation seine Struktur geben. Diesen Erfolgsfaktoren werden zur weiteren Veranschaulichung konkrete Umsetzungsbeispiele der Kommunen zugeordnet. So kann man direkt nachlesen, wie die Kommunen die „theoretischen“ Erläuterungen adaptieren und umsetzen.
Dazu ein Beispiel: Als Erfolgsfaktor Nr. 5 gelten die präzise Definition der Koordinierungsaufgaben sowie die Reflexion darüber, wo in Kommune und Schulen die entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen vorhanden sind, um das übergeordnete Ziel („die besten Interessen“ oder das „Wohl“ des Kindes“) effektiv und effizient zu erreichen. Der „Praxis-Kasten“ verweist auf die Lösungen der Stadt Wertheim. Dort werden die Aufgaben von unterschiedlichen Akteuren in einer „Verantwortungsgemeinschaft“ wahrgenommen (S. 13).
Zwei Grundmodelle der Steuerung

Bezüglich der Frage „Wer koordiniert die Aufgaben?“ haben sich im Verlauf des Pilotprojektes zwei Grundmodelle herauskristallisiert: In einem Modell steuern Schule und Kommune gemeinsam und übernehmen auch dann die Verantwortung für die Steuerung, wenn sie mit externen Partnern zusammenarbeiten. So arbeitet die Stadt Friedrichshafen zum Beispiel mit dem Modell eines „Betreuungsvereins e. V.“, in welchem die Schulleitungen aller 14 Schulen ebenso Mitglied sind wie städtisches Personal aus den involvierten Ämtern.
So bringt sich etwa der Amtsleiter für Bildung, Betreuung und Sport als Rechnungsprüfer ein, während die Leitung der Geschäftsstelle des Vereins durch eine sogenannte „entsendete Beamtin“ besetzt ist. Je nach Betreuungsangeboten beschäftigt der Verein bis zu 200 Mitarbeitende (S. 14). Eine gemeinsame Vereinsmitgliedschaft von Schule und Verwaltung gilt in diesem Beispiel als Grundlage für eine gute Kooperation und gemeinsame Verantwortung.
Im anderen Grundmodell werden die Aufgaben in unterschiedlichem Umfang ausgelagert. Externe Partner übernehmen dann entweder die Gesamtsteuerung oder Teilverantwortungen. Auch das kann gut funktionieren. So arbeitet beispielsweise die Stadt Rheinfelden mit freien Trägern der Wohlfahrtspflege wie der AWO, der Caritas, der SHK und anderen zusammen, die auch das Personal stellen. Das Ziel ist eine noch intensivere Vernetzung mit dem Jugendreferat und der Quartiersarbeit.

Das Thema Ganztagsschule und Betreuung wird auch als Standortfaktor gesehen, das heißt, qualitativ hochwertige Ganztagsangebote der Kommune ziehen junge Familien an. Die Stadt bietet daher Verwaltungsunterstützung und eine pädagogische Leitung für die Ganztagsschule und Betreuung, sucht aber auch die Attraktivität der Arbeitsorte für Schulleiterinnen und Schulleiter zu sichern.
„Warum?“ als wichtigstes Fragewort
Jenseits der unterschiedlichen Modelle und Strategien legt das Team der Hochschule Kehl den Akteuren nahe, die Frage nach dem „Warum?“ und der Haltung aller Beteiligten immer wieder neu zu stellen. Die Aufforderung, diese Reflexionsschleifen regelmäßig neu zu ziehen, wird mit einem Argument unterfüttert, das sicher alle Lesenden der Broschüre gut nachvollziehen können: In Zeiten, in denen zum Beispiel „aus Ressourcengründen nicht die wünschenswerteste Lösung gefunden werden kann“, kann die Rückbesinnung hilfreich sein, um sich auf das zu verständigen, was den Interessen des Kindes unter allen vorhandenen Einschränkungen am besten entsprechen wird.+

Die Quintessenz der Publikation leitet sich für die aufmerksam Lesenden ganz selbstverständlich ab: Dort, wo die kommunalen Interessen mit denen der Schulen und externer Organisationen zusammengeführt und gesteuert werden, kann sich eine konsistente kommunale Ganztagslandschaft entfalten. Idealerweise versteht sich diese als lernendes System und schafft für ihre stetige Qualitätsentwicklung selbst die Grundlagen, etwa durch Feedbackkreisläufe.
Wer noch tiefer in die Materie einsteigen möchte und sich für eines der kommunalen Steuerungsmodelle interessiert, findet auf S. 21 nicht nur die Liste der Pilotkommunen, sondern auch die Ansprechpersonen mit Kontaktdaten. Ein willkommener Service. Die großzügige Bebilderung und gute Gestaltung der Broschüre unterstreichen schließlich den Fokus auf das Kindeswohl und wirken als guter Kontrapunkt zu der sachlichen Thematik und den teilweise der Verwaltungssprache entlehnten Erläuterungen.
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