Lernzeiten im Ganztag: Impulse und Beispiele : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Immer mehr Ganztagsschulen haben in den letzten Jahren die Hausaufgaben durch Lernzeiten ersetzt. Im Sammelband „Lernzeiten im Ganztag in Theorie und Praxis" stellen acht Schulen verschiedener Schularten ihr Lernzeitkonzept vor.

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© Wochenschau Verlag

Wie sinnvoll sind Hausaufgaben? Über diese Frage wird seit mehr als drei Jahrzehnten diskutiert. Dass Hausaufgaben „Hausfriedensbruch“ seien, postulierte 2006 die damalige Vorsitzende des Bundeselternrates. Sie beobachtete in ihren ehrenamtlichen Funktionen und als Mutter, dass vor allem diejenigen Kinder gut durch die Schule kommen, die zu Hause bei den Hausaufgaben Unterstützung durch Eltern erhielten.

Die Forschung kommt zu differenzierteren Schlüssen, wenn es um die Effekte der Hausaufgaben für die Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler geht, : je nach Fach und je nach Umfang und Art der Aufgaben. Dass Hausaufgaben, die zu Hause erledigt werden sollen, wiederum die Chancenungleichheit verstärken, ist heute weitgehend Konsens. Deshalb gelten Lern- und Übungszeiten als hoffnungsvoller Ersatz für die kontrovers diskutierten Hausaufgaben. In NRW sollen bereits seit 2015 Hausaufgaben im Ganztag durch Lernzeiten ersetzt werden.

Lernzeiten, ein klarer Trend

Nun haben sich Gunild Schulz-Gade und Dörte Balcke als Herausgeberinnen eines Sammelbandes gezielt diesen Lernzeiten als Alternative zu Hausaufgaben angenommen und halten im Eingangskapitel fest, es zeige sich „ein klarer Trend“ zur „Institutionalisierung der Hausaufgabenbearbeitung“, die immer häufiger in der Schule im Rahmen einer Hausaufgabenbetreuung oder von „Lernzeiten“ stattfinde (S. 19).

Schulz-Gade leitet den Gymnasialzweig einer Gesamtschule im Landkreis Marburg, Balcke arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Pädagogik der Universität Augsburg. In dem von ihnen herausgegebenen, sorgfältig konzipierten und übersichtlich angelegten Sammelband „Lernzeiten im Ganztag in Theorie und Praxis“ befassen sich Autorinnen und Autoren mit der Konzeption und praktischen Umsetzung von Lernzeiten an Ganztagsschulen – in Grundschulen sowie in Sekundarstufe I und II.

Die leitenden Fragen lauten: Wie werden Lernzeiten im Ganztag platziert? Wie häufig und in welchem Umfang werden sie durchgeführt? Von welchem Personal werden sie begleitet? Wie können eigenständige Lernprozesse gefördert werden? An diesen Fragen lässt sich bereits erkennen, dass es den Autorinnen und Autoren darum geht, möglichst präzise die Umsetzung verschiedener Lernzeiten-Konzepte für die Praxis vorzustellen. Ihre Intention formulieren die Herausgeberinnen so: „Wir wollen (…) Denkanstöße und Impulse geben, die sich sowohl in praktischer als auch in theoretischer Perspektive mit der Gestaltung von (individuellen) Lernzeiten an Ganztagsschulen auseinandersetzen (...).“ (S. 9)

Beispiel: Lernzeit am Helmholtz-Gymnasium Dortmund

Lernzeit plus zur zusätzlichen individuellen Förderung
Lernzeit plus zur zusätzlichen individuellen Förderung © Britta Hüning

Am Helmholtz-Gymnasium Dortmund mit gebundenem Ganztag beziehen laut Autor Alexis Kuhn 60 Prozent der Eltern Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Dieser Umstand, verbunden mit der Zuwanderungsgeschichte der Familien und beengten häuslichen Verhältnissen – zahlreiche Kinder haben zu Hause weder ein eigenes Zimmer noch einen eigenen Schreibtisch oder Computer –, war der Grund, sich von klassischen Hausaufgaben zu verabschieden.

Kuhn, der auch Ganztagskoordinator der Schule ist, erläutert abwechslungsreich mit Zeichnungen und Schaubildern den Weg des Gymnasiums zum Lernzeitkonzept und dessen aus drei Säulen bestehenden Struktur: „Während die regulären Lernzeiten aus Ganztagsstunden gespeist werden, die in der Stundentafel einer gebundenen Ganztagsschule verankert sind“, dient die Lernzeit plus zusätzlich der individuellen Förderung, in der die Schülerinnen und Schüler „nachhaltig lernen, ihr Arbeitspensum besser zu bewältigen, ihre Schultasche besser zu packen und sich angemessen zu verhalten“ (S. 45). Seit 2019 kommt als weitere Säule das Lernbüro dazu, ein „Förder- und Forderangebot“ an die Klassenstufen 5 bis 7 in den Fächern Deutsch, Mathe und Englisch.

Die drei Säulen haben folgenden Umfang (S. 48): 1. Die Lernzeit besteht aus drei 45-Minuten-Einheiten für die Klassenstufen 5 bis 8 (ab Klasse 9 zwei Einheiten) und findet vor oder nach der Mittagszeit im Klassenraum statt. Hier wird lediglich formal kontrolliert, ob Aufgaben erledigt wurden; die inhaltliche Kontrolle erfolgt im Fachunterricht. 2. Die Lernzeit plus gibt es einmal pro Woche 90 Minuten in der Aula. Auch hier wird lediglich formal kontrolliert, ob die Aufgaben erledigt wurden; die inhaltliche Kontrolle erfolgt im Fachunterricht. 3. Im Lernbüro werden einmal pro Woche 90 Minuten in der Aula Wiederholungs- und Vertiefungsaufgaben, aber auch offene Aufgaben mit Sprachförderanteilen bearbeitet. Die anwesende Lehrkraft kontrolliert, alternativ stehen Materialien zur Selbstkontrolle zur Verfügung.

Lernzeiten an der Berkersheimer Grundschule Frankfurt am Main

Lernzeit als Band am Morgen, vor der Mittagspause oder als Einzelstunde
Lernzeit als Band am Morgen, vor der Mittagspause oder als Einzelstunde © Britta Hüning

Ein Umzug der einst kleinsten Grundschule Frankfurts und die gute Zusammenarbeit mit den Fachkräften der Nachmittagsbetreuung, in der bereits viele Kinder ihre Hausaufgaben erledigen, brachte das Kollegium dazu, die Hausaufgaben, aber auch die Art der Aufgaben zu überdenken. Bei einer Hospitation an einer anderen Schule lernte das Kollegium die Lernzeiten kennen. Die Autorin und Fachberaterin Petra Heinicke-Mathieu, bis 2023 Konrektorin und Ganztagskoordinatorin der Grundschule, erinnert sich, „wie eigenständig die Kinder in den gesehenen Lernzeiten agierten und wie beeindruckend die Atmosphäre in diesen Stunden war. Die Interaktion zwischen Lehrkraft und Kind bekam eine neue Nuance, Begleitung und individuelle Unterstützung waren gut sichtbar.“ (S. 114)

Eine Arbeitsgruppe entwickelte daraufhin ein Konzept, deren Ergebnisse auf Konferenzen und pädagogischen Tagen vorgestellt wurden. Es gab externe Unterstützung und ein transparentes Einbeziehen der Eltern. Die Kinder arbeiten mit einem Lernzeitplan und einer Lernzeitmappe, damit die Eltern einen Einblick in die Arbeitsweise der Kinder erhalten. Im Schnitt endet eine Lernplan-Einheit nach 14 Tagen, das heißt, nach vier bis sechs Lernzeitstunden. Das Kollegium ließ die eingeführten Lernzeiten bis heute zwei Mal evaluieren und wurde durch die Ergebnisse für ihr Engagement belohnt. Mittlerweile sind in den Klassen feste pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Betreuung und einem der umliegenden Horte zugeordnet, „sodass gute Absprachen stattfinden können und unsere Lernzeiten immer einen guten Platz im Stundenplan finden (…). Da sich mindestens zwei Erwachsene um eine Lernzeit kümmern, kann die Gruppe auch geteilt werden.“ (S. 116/117)

Der detaillierte, anschauliche Bericht der Autorin mit der Abbildung von Lernzeit-Unterlagen führt den Lesenden vor Augen, dass die Einführung eines neuen Konzeptes „kein Kinderspiel“ ist, sich aber aus mindestens zwei Gründen lohnt: Der Unterricht kann ohne den „Zeitfresser Hausaufgabenkontrolle“ vollumfänglich genutzt werden – und: Lernzeiten sind „ein gelungener und lohnenswerter Schritt in Richtung Lebenswirklichkeit der Kinder in der heutigen Zeit“. (S. 119)

Schaubilder, Fragenraster und eine Wegskizze

Das sind nur zwei von insgesamt acht Beispielen, die – neben dem Jakob-Fugger-Gymnasium Augsburg, der Sophie-von-Brabant-Grund- und Mittelstufenschule Marburg, der Gesamtschule Münster-Mitte, der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule Göttingen, der Heinz-Brandt-Schule Berlin und der Evangelischen Schule Neuruppin –, im Buch vorgestellt werden. Alle Schularten sind berücksichtigt, wenn auch weiterführende Schulen dominieren.

Lernzentrum in der IGS Solms
Lernzentrum in der IGS Solms © IGS Solms

Sicher zur Freude vieler Leserinnen und Leser endet der Band mit „Empfehlungen zur praktischen Umsetzung von Lern- und Übungszeiten“. Darin werden die unterschiedlichen Ganztagsschulmodelle in Verbindung gebracht mit einer möglichen Verortung und Ausgestaltung von Lernzeiten. Schaubilder verweisen etwa auf Lernzeiten als Band am Morgen, vor der Mittagspause oder als versetzte Einzelstunde an verschiedenen Wochentagen. Auch auf die Rahmenbedingungen, wie zeitliche, räumliche oder personelle Ressourcen, wird eingegangen.

Über vier Seiten erstreckt sich ein hilfreiches Fragenraster mit präzisen Leitfragen, die bei der Entwicklung und Organisation von Lernzeiten hilfreich sein können. Schließlich beenden eine Wegskizze „von den Hausaufgaben zu Lernzeiten“ sowie Tipps für den Entwicklungsprozess den fachlichen Teil. Eine Übersicht zu den Autorinnen und Autoren gibt Auskünfte zu deren beruflichen Schwerpunkten: Alle sind als Lehrkräfte und Schulleitungsmitglieder koordinierend für den Ganztag tätig und kennen somit aus praktischer Arbeit ihren Gegenstand sehr genau. Ein Kompliment zum Schluss: Die Autorinnen und Autoren folgen überwiegend einem erzählenden Sprachstil, der die Lesenden auf die jeweils ganz eigene Lernzeitenreise ihrer Schule mitnimmt.

Schulz-Gade, Gunild & Balcke, Dörte (Hg.) (2024): Lernzeiten im Ganztag in Theorie und Praxis. Grundschule, Sekundarstufe I und II. Frankfurt am Main. debus Pädagogik.

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