Ganztag gestalten in NRW: Jugendlichen mehr Stimme : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Mehr Partizipation und ein gutes Klima sind der Schlüssel zum Erfolg, wenn der Ganztag gerade für Jugendliche attraktiv sein soll. Das legen die Ergebnisse der Studie „Jugend – Bildung – Ganztag in NRW“ nahe.
Manchmal muss es gar nicht eine große, Aufsehen erregende Studie sein, die aufschreckt und nachdenklich stimmt. Es kann auch eine nur wenig repräsentative Befragung sein, die wie kleine Nadelstiche auf Praxis und Politik wirken könnte. Es geht um die Studie „Jugend – Bildung – Ganztag in NRW“ von Sarah Spannruft, Ramona Steinhauer und Nils Winkler von der Serviceagentur Ganztag NRW im Institut für soziale Arbeit e. V. in Münster, in der die Stimmen von rund 136 jungen Menschen zum Ganztag in Nordrhein-Westfalen eingeholt wurden. Diese legen im übertragenen Sinne den Finger in die Wunde.
Es gab eine Zeit, da wussten Journalistinnen und Journalisten, dass sie das Interessanteste einer Studie am Ende der Publikation lesen konnten; dort, wo die Zusammenfassung der Ergebnisse angekündigt wurde. Inzwischen haben sich die meisten Institute, Verbände und Stiftungen umgestellt. Ergebnisse gibt es entweder gleich vorweg und lesefreundlich aufbereitet, oder sie werden als Zwischenergebnisse prominent platziert. Solche Zwischenergebnisse finden sich zwar auch in der Publikation der Studie „Jugend – Bildung – Ganztag in NRW“, dennoch steht das, was aufmerken lässt, auf den hinteren Seiten.
Zu wenig Ruhe, mäßig interessante Angebote
Ab S. 24 der etwas mehr als 30-seitigen Broschüre geht es um den Ganztag aus Sicht der Jugendlichen. Und hier muss man konstatieren, dass deren Blick auf Ganztagsangebote die guten Absichten des seit Jahren voran getriebenen Ausbaus in mancher Hinsicht relativiert. Ganzheitliches Lernen, Talententfaltung und Begabungsförderung, außerschulische Bildungsorte, Angebote, in denen sich Schülerinnen und Schüler positiv erleben – das sind nur einige Ambitionen, die rund um das Thema Ganztag fallen. Doch die Verfasserinnen und Verfasser der Studie kommen nicht umhin, festzustellen:
„Auf die Frage, wie gerne die Jugendlichen Angebote an ihrer Ganztagsschule besuchen, zeigt sich (…) ein zwiegespaltenes Bild: Mit einem Mittelwert von 2,5 (…) bewegt sich die Einschätzung genau in der Mitte zwischen eher ungern und eher gern“. (S. 25) Die Frage etwa, ob die Jugendlichen in der Schule neue Themen kennenlernen konnten, die ihr Interesse geweckt haben, verneinen zwei Drittel der befragten Jugendlichen. Deutlich hervor tritt auch das Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug, wozu sie in der Schule zu wenig Gelegenheit finden (S. 27). Ebenso hält der Bericht fest, dass die Jugendlichen den Ganztagsangeboten „den geringsten Lerneffekt mit Blick auf den Schulabschluss“ zusprechen. (S. 26) Soweit die für manche im Ganztag engagierten Menschen vielleicht frustrierenden Aussagen.
Pandemie: Schwere Zeiten für Jugendliche
Nun muss man jedoch berücksichtigen, dass es hier um Heranwachsende im 9. und 10. Jahrgang geht, die hierzulande aufgrund ihres Alters andere Interessen haben mögen, als mehr Zeit als unbedingt nötig in der Schule zu verbringen. Dass die Teilnahmeintensität und somit auch das Interesse an den Angeboten mit steigendem Alter abnehmen, sei nicht verwunderlich, was auch die Autorinnen und Autoren mit Hinweis auf die Ergebnisse der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG) anmerken.
Auch die Pandemie mag eine Rolle spielen. Sie beeinflusste laut Bericht nicht nur den Forschungsprozess (die geplanten partizipativen Methoden vor Ort mussten digitalen Methoden weichen) und den geringen Rücklauf an Fragebögen von 25,6 Prozent (die Studie fand in den Jahren 2019 bis 2021 statt), sondern ebenso das Antwortverhalten der Jugendlichen und deren „tendenziell negative Bewertung der Ganztagsangebote“ (S. 26). Allerdings – und das ist sicher ein Mehrwert des partizipativen Forschungsansatzes – gibt es durch die eingefangenen Stimmen der Jugendlichen sehr spezifische Hinweise, mit denen es Akteuren des Ganztagsangebotes durchaus gelingen kann, die Passgenauigkeit zwischen den Anliegen der Heranwachsenden und den Angeboten des Ganztags zu erhöhen.
Durchgeführt wurden zunächst 2019 Expertenhearings mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Praxis, darunter mit Jugendlichen des 10. Jahrgangs einer Ganztagsschule. Von November 2020 bis Mai 2021 schloss sich eine Online-Fragebogenerhebung mit Jugendlichen des 9. Jahrgangs aus fünf gebundenen Ganztagsschulen Nordrhein-Westfalens an. Die 136 Jugendlichen besuchten zum Zeitpunkt der Erhebung zu 39 Prozent eine Gesamtschule, zu knapp 37 Prozent eine Realschule und zu 24 Prozent ein Gymnasium. Mit Schülerinnen und Schülern aus drei gebundenen Ganztagsschulen wurden danach drei leitfadengestützte vertiefende Einzelinterviews durchgeführt. Von Februar bis Juni 2021 folgten schließlich Online-Gruppeninterviews zu Ergebnissen aus der Fragebogenerhebung (S. 4-5).
Jugendliche wollen alltagspraktische Angebote
Die befragten Jugendlichen wurden zum Beispiel gebeten, anzugeben, was sie gerne lernen würden. „Ein Großteil der Nennungen fällt dabei auf die Kategorie Finanzwissen (30,5 %; z. B. Steuern, Umgang mit Geld, Versicherungen) sowie auf die Kategorie zum Erlernen alltagspraktischer Kompetenzen (28,2 %; z. B. Selbstständigkeit, Hauswirtschaft)“. Auch spezifische Inhalte wie Programmieren, Grafikdesign oder Medizin werden genannt. (S. 27)
Die Wünsche nach solchen Inhalten, die für den Übergang in das Erwachsenenalter relevant sind, decken sich, so die Autorinnen und Autoren, mit den Kernherausforderungen des Jugendalters:
- Qualifizierung im Sinne einer allgemeinbildenden, sozialen und beruflichen Handlungsfähigkeit,
- Verselbständigung im Sinne einer soziokulturellen, ökonomischen und politischen Verantwortungsübernahme,
- Selbstpositionierung im Sinne einer Balancefindung zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit. (vgl. S. 7)
Partizipation: die Chance für „mehr Lust auf Ganztag"
Berücksichtigen die Akteure im Ganztag also die Bedarfe der Jugendlichen, die sich aus ihren Entwicklungsprozessen ergeben, so steckt darin ein chancenreicher Ansatz für mehr Lust auf Ganztag. Anders formuliert: Mehr Partizipation und Hinhören bei Jugendlichen führt zu passgenaueren Angeboten. In den Handlungsempfehlungen am Ende der Publikation findet sich dies in dem Verweis wieder, wie bedeutsam sich die Partizipation in Zufriedenheit und Wohlbefinden von Jugendlichen niederschlägt (S. 31).
Der partizipative Forschungsansatz dieser Studie stützt sich auf mehrere methodische Vorbilder aus der Kindheits- und Jugendforschung sowie der Ganztagsschulforschung, die in jedem Kapitel als Referenz herangezogen werden. Darunter befinden sich zum Beispiel der Kinder- und Jugendbericht, die Shell-Jugendstudien, die Sinus-Milieu-Studien oder die internationalen Children´s Worlds-Studien zum Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, aber auch dien Bildungsberichterstattung Ganztagsschule NRW. Diese „Gemengelage“ wissenschaftlicher Rechercheergebnisse macht es nicht immer leicht, den Kern der Studie in Abgrenzung zu der herangezogenen Literatur zu erfassen. Dennoch lohnt sich das Durchdringen, denn gerade vor dem Hintergrund der theoretischen Auffächerung entfalten die subjektiven Aussagen der Jugendlichen ihre Relevanz.
„Die aus dem Sekretariat müssen halt nett sein“
Dies zeigt sich etwa, wenn es darum geht, wie sich Jugendliche an ihrer Ganztagsschule fühlen und von welchen Einflüssen das Schulklima geprägt wird. Herausgearbeitet wurde, dass Sicherheit ein hoher Faktor ist, um sich gut zu fühlen. „Je sicherer sich die Jugendlichen fühlen, desto besser wird auch die Stimmung in der Ganztagsschule empfunden“. Allerdings ist auffällig, „dass sich über zwei Drittel gegen die Antwort ‚sehr sicher‘ entschieden haben.“ (beide Zitate S. 12) Das Gefühl von Sicherheit ist wiederum stark beeinflusst durch die Kultur des Miteinanders und davon, wie Lehrkräfte, aber auch Erwachsene in Mensa und Sekretariat, das Klima prägen. Zitat: „Die aus dem Sekretariat müssen halt nett sein! Weil-, man geht halt dort hin, wenn man krank ist und zum Beispiel zu Hause anrufen will, oder so.“ (S.18)
Insgesamt fühlen sich die meisten befragten Jugendlichen im Unterricht gut unterstützt, vermissen aber die Möglichkeit, sich bei privaten oder sozialen Problemen an Lehrkräfte wenden zu können. Wenngleich auch nachzulesen ist – und das gehört zu den widersprüchlichen, wenn auch angesichts des Settings nachvollziehbaren Ergebnissen –, dass sich nicht alle Jugendlichen bei privaten Sorgen an Lehrkräfte wenden möchten (S. 20). Überraschend ist auch, dass über 19 Prozent der Jugendlichen angaben, gar kein Ganztagsangebot zu besuchen, obwohl es sich durchweg um gebundene Ganztagsschulen handelte.
Gut gemeint, ist nicht immer gut gemacht – so könnte wohl ein Fazit der Studie lauten. Die Autorinnen und der Autor resümieren, dass „für eine jugendorientierte Ganztagsschule (...) die Interessen und Bedarfe der Jugendlichen regelmäßig und altersspezifisch in Erfahrung gebracht werden müssen, um darauf aufbauend Ganztagsbildung zu gestalten“ (S. 32). Damit die Akteure im Ganztagsbetrieb Gelegenheit erhalten, sich damit auseinanderzusetzen, haben sie die Ergebnisse ihrer Studie trotz der geringen Datenlage und fehlenden Repräsentativität für alle Ganztagsschulen in Nordrhein-Westfalen veröffentlicht, nicht zuletzt als Wertschätzung gegenüber den Jugendlichen, die offen ihre Wünsche an den Ganztag dargelegt haben. Praktische Wirkungen hat die Studie schon jetzt: Die Serviceagentur Ganztag NRW wird die Ergebnisse nutzen, „um ein Konzept einer jugendorientierten Ganztagsschule gemeinsam mit den Jugendlichen zu entwickeln“ (ebd.).
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