"Wichtigstes Fach: Kopf hoch". Jahrbuch Ganztagsschule 2017 : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Das Thema beschäftigte 2016 in besonderer Weise die Schulen. So hat das neue Jahrbuch den Schwerpunkt „Junge Geflüchtete in der Ganztagsschule“ – mit Vorschlägen, wie Integration gestaltet und Chancen eröffnet werden können.

Jahrbuch
© Sabine Maschke, Gunild Schulz-Gade, Ludwig Stecher, Debus Pädagogik Verlag

Es ist schon eine gute Tradition, dass kurz vor dem Jahresausklang dieses Werk herauskommt. Für viele stellt das Jahrbuch Ganztagsschule eine Art Pflichtlektüre dar. Bündelt es doch stets den Blick auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Ganztagsschulen, liefert anschauliche Beispiele aus dem In- und Ausland, verweist auf vielerlei interessante Lektüre und wenn vorhanden auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse. So geschehen auch im aktuellen Band. Er widmet sich schwerpunktmäßig der Thematik „Junge Geflüchtete in der Ganztagsschule“.

Eine völlig neue Situation und Herausforderung

Bereits im Vorwort machen die Herausgeberinnen Sabine Maschke (Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Phillips-Universität Marburg), Gunild Schulz-Gade (Oberstudienrätin und Mitarbeiterin in der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen) sowie  ihr männliches Pendant Ludwig Stecher (Professor für Empirische Bildungsforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen) deutlich: „In den letzten Jahren sind nicht nur verstärkt Kinder und Jugendliche aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Deutschland gekommen, sondern auch aus den EU-Mitgliedsstaaten und aus Ländern, die zu den potenziellen Beitrittskandidaten der Europäischen Union gehören. Mit dieser veränderten Situation ist auch das Bildungssystem und sind in besonderer Weise die Schulen konfrontiert: Die Kinder sind in sehr unterschiedlicher Weise sozialisiert, sprechen verschiedene Sprachen, gehören andersartigen Religionen an, haben differenzierte Wertvorstellungen verinnerlicht, haben keinen einheitlichen Bildungsstand etc.“

Ein Thema, dass die Ganztagschulen bewegt

Damit ist eine Thematik umrissen, die Lehrerinnen und Lehrer, aber auch alle jene, die im Ganztag aktiv sind, in den vergangenen Monaten vielleicht am stärksten umgetrieben hat. In ihrem Beitrag stellen Leonie Herwartz-Emden (Professorin i.R. für Pädagogik der Kindheit und Jugend) und ihre Spartenkollegin Wiebke Waburg einen häufig unterschätzten, in Wirklichkeit aber elementaren Teilaspekt der Aufgaben von Schulen in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen: „Elternarbeit mit Migrant/-innen und Flüchtlingen“. Sie machen deutlich, dass von (Ganztags-)Schulen erwartet wird, Benachteiligungen auszugleichen. Das könne unter anderem durch schulische Elternarbeit gelingen. Vorausgesetzt, diese sei losgelöst von vorurteilsbelasteten Annahmen und setze an den Ressourcen der Eltern an.

Wörtlich schreiben die Autorinnen: „Das heißt, Eltern müssen in ihrer alltäglichen Sozialisations- und Erziehungsleistung respektiert werden, und es muss beispielsweise Wissen darüber vorhanden sein, welchen Konzepten die Eltern in der Erziehung folgen. Was sind ihre Vorstellungen vom Lernen, welche Erziehungsziele verfolgen sie, was sind ihre Konzepte der Elternschaft, wie sieht die Arbeitsteilung aus zwischen den Eltern?“ (S. 30) Und sie stellen die klare Forderung nach „grundlegender fachlicher Ausweitung auf eine interkulturelle Perspektive“. Die Lehrkräfte bedürften eines fundierten Reflexionswissens zu Umgangsweisen mit ethnischer Differenz und sprachlicher Vielfalt.

Das Kind als Dolmetscher: nicht immer unproblematisch

Ein Blick in den Schulalltag belegt, dass es neben der so beschriebenen Kompetenz im Umgang mit möglicherweise traumatisierten, auf jeden Fall aber von Fluchterfahrung geprägten Kindern auch einer Überwindung der Sprachbarrieren bedarf. Ohne sie kann Kommunikation nicht gelingen. Das machen auch die Autorinnen deutlich. Sie gehen auf den oft praktizierten Weg ein, die Kinder selbst oder ihre älteren Geschwister in Gesprächen mit Eltern als Dolmetscherinnen und Dolmetscher einzubinden, da die Kinder in der Regel schneller und besser Deutsch lernen und sprechen als ihre Mütter und Väter.

Juliane Winkler von der Friedenauer Gemeinschaftsschule Berlin während eines Vortrags
Juliane Winkler von der Friedenauer Gemeinschaftsschule Berlin bei der 11. Herbstakademie "ganz!willkommen" in Gelsenkirchen © Redaktion

Das aber bedürfe in einem Elterngespräch sehr viel Feingefühls, vor allem wenn Probleme besprochen werden müssten.  Die beiden Expertinnen greifen einen Rat der Fachberaterin für Psychotraumatologie im Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement Hanne Shah auf: Gerade bei Kindern und Jugendlichen, bei denen traumatisierende Erlebnisse aus  Kriegsregionen und Flucht zu erwarten sind, sollten „nicht die Kinder, sondern andere Personen, möglicherweise Vertrauenspersonen der Familien, übersetzen“.

Von Kommunikation und Sprache

Nicht minder lesenswert und informativ sind die Beiträge von Josef Leisen, Leiter des Studienseminars in Koblenz, beziehungsweise von Verena Kaiser (Erzieherin und Mitarbeiterin im Erich-Kästner-Kinderdorf Oberschwarzach) und Stefanie Peschel (Diplom-Sozialpädagogin). Man darf sicher sein, dass ihre Darstellungen und Gedanken für Leserinnen und Leser besonders nachvollziehbar sind, da sie von an der Basis Tätigen verfasst wurden. Als Engagierter in der Lehrerausbildung vermittelt Leisen unter anderem gerade die Aspekte auf die es im Umgang mit Flüchtlingskindern auch ankommt: Sprachbildung im sprachsensiblen Fachunterricht, Leseverstehen, Lehr-Lern-Prozesse.

Lehrerin mit Schülern im Klassenraum
© Britta Hüning

In seinem Beitrag „Die (Ganztags-)Schule als besonderer Ort der Sprachbildung“ beschäftigt er sich nicht nur mit den Merkmalen von Handlungs- und Bildungssprache, sondern verdeutlicht diese auch an konkreten Unterrichtssituationen. Das macht die Erläuterungen bestens verständlich. Er gibt zehn konkrete Anregungen zur Gestaltung eines sprachsensiblen Fachunterrichts, wie „Unterricht auf Kommunikation hin ausrichten und dem Kommunizieren eine große Bedeutung einräumen“, „Sprache in erster Linie am Verstehen der Lerner orientieren und nicht an der Sprache des Fachs“ oder „verhindern, dass sich Fachlernprobleme und Sprachlernprobleme vermischen“ (S. 43/44). Eine große Chance der Sprachbildung- und Sprachförderung sieht Leisen im außerunterrichtlichen Ganztagsbereich.

SchulCHEN – ein Porträt

Der Bericht über die Ganztagsschule „SchulCHEN“ im Erich-Kästner-Kinderdorf der Autorinnen Verena Kaiser und Stefanie Peschel (S. 53–64) ist geprägt von einem zutiefst einfühlsamen Blick auf das Individuum. Er beschreibt die Auswirkungen eines Traumas auf das Lernverhalten von Kindern und die Konsequenzen, die diese nicht eigenständige  Ganztagsschule daraus seit vielen Jahren zieht. SchulCHEN wurde bereits 2001 gegründet. Es ist eine Form der Beschulung, die auf die Bedürfnisse schwer traumatisierter Kinder eingehen kann. Sie bekommt angesichts der aktuellen Flüchtlingsentwicklung eine besondere Bedeutung.

Wie lange ein Kind hier begleitet wird, hängt von der individuellen Entwicklung ab. Ziel bleibt stets der Übergang in die Regelschule. Das Kapitel verdeutlicht eindringlich, wie vielfältig Ursachen eines Traumas bei Kindern sind und dass es sich um kein gänzlich neues Phänomen handelt – das lediglich durch die Flüchtlingskinder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist. Die von den Verfasserinnen erzählte Geschichte der heute knapp 18-jährigen Nora (ab S. 57) muss jeden bewegen.

Wichtigstes Fach: Kopf hoch

Fazit: Eine Rezension kann nie alle Aspekte, spannenden Geschichten, Berichte, Erfahrungen und Entwicklungen aufgreifen. Sie muss sich naturgemäß beschränken. Aber sie kann empfehlen. Und eine solche kann im Fall des  „Jahrbuchs Ganztagsschule 2017“ nur lauten: Lesen! Denn die Überlegungen, Ausführungen und Darstellungen zu vielen anderen Themen, angefangen von der Wissenschaft (u. a. Klaus Klemm: „Ganztagsschulen im Spannungsfeld von Nachfrage, Finanzierung und Qualität“ oder Jürgen Oelkers: „Ganztagsschulen – ein neues Gutachten“), bis zu lebendig geschriebenen Praxisberichten (u. a. Christine Küch: „Unser wichtigstes Fach heißt Kopf hoch – Lernen an der SchlaU-Schule in München“ oder Walter Heilmann: „Gemeinsames Leben und Lernen in einer ‚Schule für alle’ – Die Rosenmaarschule in Köln“) bieten immer wieder neue Anreize – auch für jene, die nicht dazu neigen, ein Buch in einem Zug von vorne bis hinten zu „verschlingen“. Kleine Anmerkung zum Schluss: Etwas Auflockerung durch noch mehr Fotos oder aussagekräftige Grafiken würde das Lesevergnügen zusätzlich steigern!

Sabine Maschke, Gunild Schulz-Gade, Ludwig Stecher (Hrsg.): Jahrbuch Ganztagsschule 2017: Junge Geflüchtete in der Ganztagsschule Schwalbach/Ts.: Debus Pädagogik Verlag.

 

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