Warten auf Freizeit : Datum: Autor: Autor/in: Petra Gruner

Mit der Ganztagsschule ist das Problembewusstsein für die Hausaufgabenzeit deutlich gestiegen. Fördern Hausaufgaben die Selbstständigkeit, die Motivation und das Interesse am Lernen? Die Studie von Gabriele Nordt kommt zu dem Fazit: Das gilt nur für integrierte „Lernzeiten“.

1.500 Stunden – das entspreche der Unterrichtszeit von anderthalb Schuljahren – verbringt ein Schüler bis Klasse 10 mit Hausaufgaben, sagt die Forschung.1  Hausaufgaben sollen das Lernen und den Bildungsauftrag der Schule unterstützen, so die Schulgesetze. Ob Hausaufgaben in der Ganztagsschule zentrale Lernvoraussetzungen – Selbstständigkeit, Motivation, Interesse – fördern, hat Gabriele Nordt in qualitativen Fallstudien untersucht.

Ausgehend von Befunden der „Wissenschaftlichen Begleitung der offenen Ganztagsschule im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen“ (2003-2009), nach denen die Qualität der Hausaufgabenpraxis von pädagogischen Kräften und Kindern sehr unterschiedlich eingeschätzt wurde, hat die Autorin 2008/2009 vertiefende Untersuchungen in sechs Grundschulen unterschiedlicher Ganztagsstruktur, die aber „zu den weit entwickelten Schulen gezählt werden können“ (S. 142), durchgeführt.

Sie geht von der „Selbstbestimmungstheorie der Motivation“ und der „Interessentheorie“ (S. 106) aus, wonach Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit als Grundbedürfnisse und Voraussetzung für Motivation und Leistungsbereitschaft gelten. Merkmale einer förderlichen Gestaltung von Lernsituationen sind daher geringe Kontrollorientierung, Entscheidungsmöglichkeiten, Akzeptanz und Nähe in den pädagogischen Beziehungen, kooperatives Lernen und individualisierte Aufgaben. Wie die Praxis dem gerecht wird, hat die Autorin in Hausaufgabensituationen beobachtet und per Video aufgezeichnet und zu den beobachteten Situationen anschließend das Personal (vier Grundschullehrerinnen, drei Erzieherinnen, zwei Personen ohne einschlägige Qualifikation) und 24 Kinder (vier pro Hausaufgabengruppe) befragt.

Die Studie ist als Dissertation wissenschaftlich aufgebaut: mit einem Überblick „Ganztagsschule und Hausaufgaben“ (Kap. 1), Forschungsstand (Kap. 2), Theoriegrundlagen (Kap. 3) und Methodenkapitel (Kap. 4). Der empirische Teil mit der „Perspektive der pädagogischen Kräfte“ (Kap. 5) und der „Perspektive der Kinder“ (Kap. 6) nimmt ein Drittel des Buches ein, bevor die Ergebnisse zusammengefasst werden (Kap. 7). Wenngleich so eher Studierende und Hausaufgabenforscher_innen angesprochen werden, ist dem Buch doch eine breitere Leserschaft zu wünschen.

Hausaufgabendiskussion und Bildungsreform

Wie so oft lassen auch hier historische Rückblicke heutige Debatten besser verstehen. Nordt geht der These nach, dass Hausaufgaben stets in Umbrüchen des Bildungssystems zum Thema wurden: erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts, erneut Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort „Überlastung der Schüler“ und mit der Arbeitsschulpädagogik (Stichwort „Förderung der Selbständigkeit“). Ende der 1920er Jahre wurden Hausaufgaben als Bestandteil des Unterrichts amtlich geregelt (S. 72). In den 1960er Jahren waren sie wiederum Teil der Schulreformdiskussion. Dass immer gleich grundsätzliche pädagogische Konzepte aufeinandertrafen, erschwerte Veränderungen eher (S. 73).

In den 1980er Jahren rückte die Schuleffektivitätsforschung die leistungsfördernde Funktion in den Blickpunkt, unter der Annahme, dass Hausaufgabenzeit mehr Lernzeit bedeute und daher positive Effekte auf die Schulleistung habe(n müsse). Neuere Studien verweisen jedoch auf die Vielfalt von Einflussfaktoren (vom Vorwissen der Schüler über Qualität und Häufigkeit bis zur Fachspezifik). Die gegenwärtige Hausaufgabenkritik sieht die Autorin wiederum im Zusammenhang mit Reformdiskussionen um G8 und Ganztagsschulen.

Traditionelles Hausaufgabenverständnis

Im empirischen Teil der Studie werden die Orientierungen und Handlungsmuster der pädagogischen Kräfte untersucht. Die Autorin unterscheidet „kontrollorientierte“ und „autonomieorientierte Rahmungen“ der Hausaufgabenpraxis. Im ersten Fall stehen Regeln und Arbeitshaltungen („ordentliches und diszipliniertes Arbeiten“) im Vordergrund, die „mittelbar auch Selbstständigkeit und Leistungsbereitschaft fördern“ sollen (S. 225). Dazu gehören ein ergebnisorientiertes Feedback und Hinweise auf Mängel. Kontrolliert wird „auf Erledigung“ und „auf Richtigkeit“ (S. 154). Vorgaben sollen den Kindern helfen, Selbstständigkeit zu lernen, und sie “zu strukturiertem Arbeiten bringen“ (S. 155).

In „autonomieorientierten Rahmungen“ stehen ein partnerschaftliches Verhältnis und Hilfe im Vordergrund, Rückmeldungen sind prozessorientiert, und die Kinder haben Entscheidungsräume. Sie können Aufgaben selbst einteilen und bestimmen, wann sie fertig sind (S. 162). Die pädagogische Fachkraft versteht sich als „Ansprechpartnerin“ (S. 163).

Die Autorin arbeitet drei Typen der Orientierung heraus: „Kontroll- und Defizitorientierung“ (Typ 1), „Teil-Autonomie- und Ressourcenorientierung“ (Typ 2) sowie „Autonomie-, Ressourcen- und Kooperationsorientierung“ (Typ 3). Im Ergebnis dominieren Typ I und Typ II und damit ein traditionelles Hausaufgabenverständnis: Die Kinder haben wenig Entscheidungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten (Autonomie), die Beziehung zu den pädagogischen Fachkräften ist emotional distanziert (soziale Eingebundenheit), die Aufgabenqualität mäßig und das Feedback defizitorientiert (Kompetenz). Die Ausnahme bildet nur eine Schule, in der die Hausaufgaben durch integrierte „Lernzeiten“ ersetzt wurden.

„Damit wir nicht direkt spielen können“

Wie erleben die Kinder die Hausaufgaben? Wenn eine Schülerin der 2. Klasse annimmt, dass Hausaufgaben da sind, „damit wir nicht direkt spielen können“ (S. 200), erfasst sie die Funktion der Hausaufgaben gut: als Übergangsritual zwischen Unterricht und Freizeit. Die Kontrastierung von Hausaufgaben- und Freizeit findet sich häufiger: „... das zieht auch immer die Zeit zum Spielen ab. Ist doof“ (S. 201). „Wenn man alle (Aufgaben erledigt) hat, muss man nicht mehr zu Hausaufgaben kommen, kann man so lange spielen, wie man will“ (S. 202).

Andere nehmen die Hausaufgaben als Zeit- und Personalproblem wahr: Eine Drittklässlerin denkt, dass es Hausaufgaben gibt, „weil die Lehrerinnen das nicht im Unterricht alles schaffen“ (S. 200). Eine Viertklässlerin: „... dienstags ... ist die ... nur alleine, und da kann die uns keine Tipps geben“ (S. 207). Aufgaben werden als „langweilig“ beurteilt („Abschreiben“, etwas ein zweites Mal malen), oft auch als „zu schwer“. Zur Alltagserfahrung gehört, dass Aufgaben mit nach Hause genommen werden müssen.

Besonders wichtig sind für die Kinder freie Sitzplatzwahl und Kooperationsmöglichkeiten („Könnte man sich so gegenseitig auch mal was erklären“, so ein Zweitklässler, S. 207). Jedoch berichten viele ein regelrechtes Kooperations- und Unterstützungsverbot. Im Feedback der pädagogischen Kräfte nehmen die Kinder pädagogische Haltungen wahr: „Dass die nett sind. Und dass die nicht immer so schreien, wenn Kinder was Falsches machen“ (S. 201). „Dann melde ich mich, dann frag ich die Lehrerin. Dann sagt die: ‚Was ist los?’ Dann sag ich: ‚Ich brauch Hilfe.’ Dann kommt die“ (S. 203).

Bemerkenswert ist, dass die Kinder in vielen Dimensionen dem Unterricht den Vorzug geben. In allen Dimensionen positive Bewertungen verzeichnen nur die „Lernzeiten“.

Hausaufgaben im Umbruch

Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die gängige Hausaufgabenpraxis die Lernmöglichkeiten der Kinder begrenzt. Aber es würde zu kurz greifen, das nur den Fachkräften anzulasten. Denn: Druck machen auch Eltern (S. 214). Und die Schulgesetze – wenn auch zunehmend durch Erlasse modifiziert – verpflichten weiterhin zu Hausaufgaben. Eine typische Formulierung lautet, dass Hausaufgaben von den Schülerinnen und Schülern „selbstständig, d. h. ohne fremde Hilfe, in angemessener Zeit gelöst werden können“. Für die Fachkräfte ist es somit eine Herausforderung, tradierte Ansprüche und Werte mit Erkenntnissen zur Förderung der Lernmotivation in Einklang zu bringen, z. B. zu entscheiden, was „selbstständig, ... ohne fremde Hilfe“ heißt.

Wer sich über den Stand der Hausaufgabenforschung informieren will, findet in der Arbeit von Gabriele Nordt einen profunden Überblick. Die Studie beleuchtet zugleich Grundlagen der Lernförderung in der Ganztagsschule. Pädagogischen Fachkräften sei Kapitel 6, in dem die Kinder zu Wort kommen, nachdrücklich empfohlen. Wie ernsthaft die Grundschülerinnen und -schüler die (didaktische und erzieherische) Qualität der Hausaufgaben beurteilen, mit welchen Vorschlägen sie aufwarten und wie sie diese begründen, beeindruckt. Spätestens hier ist zu fragen, was genau Kinder in Hausaufgaben lernen, wenn diese ein Warten auf Freizeit sind.

Gabriele Nordt (2013): Lernen und Fördern in der Hausaufgabenpraxis der offenen Ganztagsgrundschule in Nordrhein-Westfalen. Eine qualitative Studie aus der Perspektive der pädagogischen Kräfte und der Kinder. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann Verlag.


 1  Frank Lipowsky (2004): Dauerbrenner Hausaufgaben. Befunde der Forschung und Konsequenzen für den Unterricht. In Pädagogik, H. 12, S. 40.

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