Tagesschulen im Fokus: Qualität ist, wenn es „knistert“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Der Schweizer Sammelband „Tagesschulen im Fokus“ widmet sich anhand neuerer Forschungsergebnisse der ganztägigen Bildung im Nachbarland. Deutsche Leserinnen und Leser werden manches wiedererkennen.
Der Sammelband „Tagesschulen im Fokus“ befasst sich mit der Entwicklung von ganztägiger Bildung an den Schulen in der Deutschschweiz, die dort unter dem Begriff Tagesschulen firmieren. Den inhaltlichen Schwerpunkt legen die beiden Herausgeberinnen Patricia Schuler Braunschweig und Christa Kappler von der Pädagogischen Hochschule Zürich auf die drei Bereiche „Akteurinnen und Akteure“, „Kontexte“ und „Perspektiven“. Leitende Fragen sind: Was ist überhaupt eine Tagesschule? Wie erleben die Akteurinnen und Akteure den Alltag dort? Welche speziellen Themen und Aspekte ergeben sich in einer ganztägigen Schule in der Deutschschweiz? Welche Qualität sollte ein Tagesschule idealerweise auszeichnen?
„Tagesschulen“ und „Schulen mit Tagesstruktur“
Einige Worte zu den Begrifflichkeiten: Unter „Schulen mit Tagesstruktur“ werden in der deutschsprachigen Schweiz allgemein Schulen mit einer Betreuung der Schülerinnen und Schüler außerhalb der Unterrichtszeit verstanden. Konkret handelt es sich bei den Betreuungsformen beispielsweise um Horte, Mittagstische, Betreuung während der Randzeiten am Morgen und am Nachmittag oder betreute Aufgabenhilfe. „Tagesschulen“ sind dagegen „geleitete Schulen mit einem ganzheitlichen pädagogischen Konzept zur Verzahnung von Unterricht und Freizeit (...), welche (…) als gebunden, offen und teilgebunden charakterisiert werden“ (S. 10ff.).
Bereits anhand dieser Definition zeigt sich, dass sich Begriffe und Realitäten zwischen Deutschland und der Schweiz nicht allzu sehr voneinander unterscheiden. Weitere Parallelen ergeben sich aus der schul- und familienpolitischen Tradition in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz, welche weitgehend bis zur Jahrtausendwende den Unterricht am Vormittag und – wenn überhaupt – eine betreute Freizeit am Nachmittag verortete. Als dritte strukturgebende Gemeinsamkeit sei das föderale System beider Staaten genannt.
In der Schweiz teilen sich Bund und Kantone die Verantwortung für die institutionelle Bildung bei einer sehr weitgehenden Autonomie der Kantone und der Gemeinden für die Schulbildung (vgl. S. 13). 2017 trat ein neues Bundesgesetz über die Zusammenarbeit des Bundes mit den Kantonen in Kraft, das vor allem der Qualitätssicherung dienen soll. Vergleichbar der Kultusministerkonferenz in Deutschland koordiniert die „Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und ‑direktoren (EDK) die nationale Bildungs- und Kulturpolitik.
Zürich hat abgestimmt
Zur Einordnung der Debatte um den Ganztag im Nachbarland ein Blick zurück: Am 25. September 2022 hatten sich bei einer Abstimmung der Bevölkerung in der Stadt Zürich fast 81 Prozent der Stimmberechtigten für die flächendeckende Einführung von Tagesschulen in Zürich ausgesprochen. Nach einer Erprobungsphase mit Modellschulen wird nun im Schuljahr 2023/2024 die Tagesschule nach einem ebenfalls abgestimmten und für die Stadt Zürich definierten Modell eingeführt.
Nicht verwunderlich also, dass auch die meisten Autorinnen und Autoren des Sammelbandes an der Pädagogischen Hochschule Zürich angesiedelt sind. Sie bringen ihre wissenschaftliche Perspektive und aktuelle Forschungsergebnisse ein und ergänzen damit die Berichte aus der Praxis. Insgesamt ergibt sich so ein konzentriertes, sehr gut lesbares und absolut empfehlenswertes Buch für alle Akteure im Ganztag.
Immer ein Thema: multiprofessionelle Zusammenarbeit
Leserinnen und Leser in Deutschland kommen während des Lesens sicher bei vielen Textstellen aus dem bestätigenden Nicken nicht heraus. Ganz gleich, ob es um den Aspekt des Wohlbefindens aus Kindersicht geht – interessant ist hier die Methode „Reisetagebuch“, mit der Kinder ihre Eindrücke und Wahrnehmungen festhalten (S. 25) –, um Bewegung und Sport (S. 93ff.) oder um den Wegfall der Hausaufgaben („Eltern zwischen Entlastung und Kontrollverlust“, S. 111ff.). Warum sollte es auch in Schweizer Schulen andere Herausforderungen geben als hierzulande?
Die Kooperation multiprofessioneller Teams, die der Ganztagsschulkongress 2024 in Berlin unlängst zum Schwerpunktthema erhob, ist ein solcher voraussetzungsvoller Baustein der ganztägigen Bildung, der in beiden Ländern zu ähnlichen Beobachtungen führt. Darüber berichten Emanuela Chiapparini und Andrea Scholiani. „Aus der Datenanalyse geht (...) hervor, dass die sozialpädagogischen Fachpersonen häufig einen Rollenkonflikt erleben. (…) Dabei wird deutlich, dass sich sozialpädagogische Fachpersonen tendenziell an Unterrichtslogiken anpassen (…)“ (S. 41). Dem steht gegenüber, dass sich „die sozialpädagogische Fachperson“ deutlich von „den Leistungs- und Lernzielen im Unterricht“ abgrenzt (S. 43).
Mittagzeit: bitte mehr Ruhe
Interessant ist, dass der Band sich mit einem eigenen Kapitel dem Thema Mittagszeit widmet. Diese Heraushebung scheint berechtigt, wenn man sich vor Augen hält, dass sich in vielen Familien die Diskussion um „den ganzen Tag Schule“ an der Qualität der Pausen und damit vor allem der großen Mittagspause entscheiden. Patricia Schuler Braunschweig und Christa Kappler begründen ihren Beitrag nachvollziehbar damit, dass „die Mittagszeit als Verdichtung des Veränderungsprozesses von Regelschulen zu Tagesschulen aufgefasst werden kann“ (S. 76).
Konflikte entzünden sich dabei nicht nur an der Qualität des Essens, an Tischsitten und dem Wunsch nach mehr Ruhe – ein Wunsch, den Kinder und Erwachsene gleichermaßen beschreiben –, sondern auch am Selbstverständnis der Professionen und deren Rollenirritation: „So empfindet sich eine Lehrerin der Mittelstufe als professionell ‚überqualifiziert‘, um mit den Kindern zusammen mittagzuessen“ (S. 87).
Ganztag trifft auf wirkmächtige Narrative
Bemerkenswert ist das Kapitel „Tagesschul-Narrative von Lehrpersonen“ von Hannes Ummel. Fairerweise muss erklärt werden, dass der Rezensent den Band auch daraufhin gelesen hat, wo die deutschen Lesenden aufmerken könnten. Und in diesem Zusammenhang scheint erwähnenswert, dass Ummels empirische Forschung anhand einer Stichprobe unter Lehrpersonen ein auch in Deutschland verbreitetes Narrativ der kompensatorischen Funktion der Tagesschule offenlegt.
Es lautet in etwa so: Wir Lehrkräfte in Tagesschulen sorgen uns um die psychischen, sozialen und kulturellen Defizite, die kompensiert werden müssen. „Die Lehrperson ist heroische Einzelkämpferin für das gute Leben des Schülers und der Schülerin, gegen die Ungerechtigkeit, den Zerfall (…)“ (S. 51). Der Autor schreibt in seinem Fazit: „Bei dieser Ausweitung des professionellen Fokus besteht Gefahr, dass von einer Überlegenheit der schweizerischen oder schulischen Kultur ausgegangen wird“ (S. 60).
Das bedeutet wiederum, wie es ja auch für die Ganztagsschule in Deutschland gilt: „Strukturveränderungen wie die Einführung von Tagesschulen können nicht einfach (…) umgesetzt werden. Sie treffen vielmehr auf wirkmächtige Narrative, auf Menschenbilder, Weltdeutungen und Berufsverständnisse, die über lange Zeit (…) gewachsen sind“ (S. 61)
Qualität bemisst sich an der Resonanz in Beziehungen
Neugierig macht die Kapitelüberschrift „Wenn es an Tagesschulen knistert“. Sie lehnt sich an das bekannte Buch von Hartmut Rosa und Wolfgang Endres an: Deren Publikation „Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert“ (2. Auflage 2016) charakterisiert die Qualität der Schule als „Resonanzraum“, der sich in den Interaktionen und Beziehungen ausdrückt. Die Autorinnen Esther Forrer Kasteel und Patricia Schuler Braunschweig wagen hier den Versuch, „Resonanz im Lichte eines Qualitätsdiskurses“ für den Ganztag aufzufächern.
Das ist wegen des Heranziehens des Forschungsstandes nicht immer locker zu lesen, aber die Mühe lohnt sich. Fazit der Autorinnen: „Resonante Tagesschulen ermöglichen letztlich berührende und verlässliche Beziehungen zu Menschen, zu Inhalten und zur Welt insgesamt, was treibende Kraft für eine lebenslange Wissbegierde und ein lebenslanges Lernen ist“ (S. 180) – und solche Bildung wünschen wir uns doch.“
Ergänzt wird der Sammelband schließlich um zwei Beiträge aus dem Ausland: Sind die Ausführungen von Natalie Fischer von der Universität Kassel zur „Ganztagsschule in Deutschland“ sicherlich Leserinnen und Lesern hierzulande noch am meisten vertraut, so dürfte ihnen der Beitrag der schwedischen Autorinnen Lina Lago und Helene Elvstrand von der Universität Linköping über „Das ‚School-age Educare‘ (SAEC) in Schweden“ eine weitere Horizonterweiterung bescheren.
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