Sinus-Studie: Die sieben Lebenswelten der Jugend : Datum: Autor: Autor/in: Inge Michels

Wie Jugendliche "ticken", das wusste der griechische Philosoph Sokrates noch ganz genau. Immer wieder zitiert wird sein "Frust" über mangelnden Respekt und Faulheit. Für die Jugendlichen im 21. Jahrhundert malt die Sinus-Studie ein viel komplexeres Bild.

Zum zweiten Mal legt das Sinus-Institut eine qualitative Grundlagenstudie vor, die den Lebenswelten - dazu gehören etwa Befindlichkeit  und  Zukunftsvorstellungen - junger Menschen auf den Grund geht. Sieben Lebenswelten grenzen die Forscherinnen und Forscher voneinander ab, die sich in zahlreichen Indikatoren voneinander unterscheiden: sozialer Nahraum, Genuss, Konsum, Bildungs- und Leistungsinteresse, Angepasstheit, Zukunftsvorstellungen, Werteorientierung und einiges mehr.

Im Vorwort lobt der renommierte Jugendforscher Dr. Klaus Hurrelmann, dass die Autoren der Studie nicht vor der Vielfalt jugendlicher Lebenswelten kapitulieren. Nicht nur das: Es ist ihnen außerdem gelungen, ihre Ergebnisse und Analysen so zu präsentieren, dass es eine wahre Lust ist, in der rund 360 starken Publikation zu blättern und sich festzulesen. Leicht nachvollziehbare, farbige Grafiken und Tabellen, Fotos, Collagen, markante Kurzprofile der jugendlichen "Szenen", Zitate und handgeschriebene Notizen unterstreichen  als Stilmittel die hohe Differenziertheit jugendlicher Lebenswelten. Es ist ein ganz besonderer Verdienst des Autorenteams, dass es sich um die Darstellungsform ihrer Studie intensiv bemüht hat und so ein lebendiges Buch für die Praxis entstanden ist.

Erfolgreich oder "Looser"? - selbst Schuld

Wie ticken Jugendliche? So lautet die Frage im  Titel. Verallgemeinernde Antworten, die zumindest auf die meisten Jugendlichen zutreffen, sind kaum möglich. Doch viel wichtiger ist vielleicht, dass aus der Lektüre ein Verständnis wächst, wie selbst verantwortet und  "verschuldet" Jugendliche ihre persönlichen Perspektiven sehen. Es gibt aus ihrer Sicht wenige Gewissheiten, auf die sie vertrauen können, ebenso kaum taugliche Lebensmodelle, die längerfristige Gültigkeit besitzen und an denen sich zu orientieren sinnvoll erscheint. Folglich nehmen sie das Leben so wahr: stets bereit sein, flexibel reagieren, Unsicherheiten aushalten, den Spagat zwischen hohen Anforderungen von außen und eigenen Möglichkeiten bewältigen, sich selbst präsentieren und performen. Eine Konsequenz daraus: In dem Maße, in dem sie sich für Erfolge, persönliche Anerkennung, Leistungen oder Chancen auf dem Arbeitsmarkt alleine zuständig fühlen, nimmt die Abschottung gegenüber anderen Jugendlichen zu.  Ein krasses Zitat zur Illustration: "Ich hab festgestellt, dass ich ein Bildungsrassist bin. Das ist echt krass, aber ich kann mich zum Beispiel mit Mitschülern nicht unterhalten. Ich finde ihre Ausdrucksweise echt schlimm . (S. 340).

Der junge Mann, der hier zitiert wird, ist 17 Jahre alt und gehört der Gruppe der "Expeditiven" an. Diese Jugendlichen zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sie "den eigenen Erfahrungshorizont ständig erweitern" und ihnen "genormte Identitäten ein Gräuel" sind. Ganz im Gegensatz zu den "Adaptiv-Pragmatischen". Sie haben einen "Plan für ihr Leben, streben nach einem guten Beruf, einer netten Familie und einem schönen Zuhause"  und verstehen sich selbst als solide (S.133).

Lebenswelten korrespondieren mit Schulzufriedenheit

Neben diesen beiden Lebenswelten identifizierten die Forscher (vor allem durch zweistündige Interviews mit 72 Jugendlichen und durch Auswertung so genannter "Haus-Arbeitshefte") weitere Lebenswelten: die Konservativ-Bürgerlichen, die Prekären, die Materialistischen Hedonisten, die Experimentalistischen Hedonisten und die Sozialökologischen. Was zunächst recht sperrig anmutet, ermöglicht eine sehr feine Differenzierung, etwa zu den Aspekten Lernfreude, Leistungsbereitschaft, Schulzufriedenheit. So wünschen sich etwa Sozialökologische Jugendliche, dass ihre außerschulischen Leistungen stärker in die Bewertung einfließen mögen während Konservativ-Bürgerliche zufrieden sind, wenn wenig Unterricht ausfällt und es in der Klasse keine "Störenfriede" gibt. Experimentalistisch-hedonistische Jugendliche wiederum gehen davon aus, dass ihre Lerninteressen von der Schule gar nicht aufgegriffen werden.  

"Nur wer weiß, was Jugendliche bewegt..."

Vor dem seit einigen Jahren immer deutlicher formulierten Bildungsanspruch, kein Kind zurücklassen zu wollen, lohnt sich der Blick auf die Gruppe der Prekären ganz besonders. Auf knapp 20 Seiten nehmen sich die Forscher dieser Jugendlichen mit schwierigen Startvoraussetzungen an, bei denen "eine disziplinierte Unterrichtsbeteiligung für viele einfach nicht möglich zu sein" scheint. Prekäre Jugendliche fallen den Forschern als besonders orientierungslos auf, die gerade deswegen, weil sie keine Vorstellung davon haben, wo es etwa beruflich für sie hingehen könnte, Angebote zur beruflichen Orientierung nicht wahrnehmen (können). Während Schule als Ort des Lernens überwiegend mit Misserfolgserlebnisse gleichgesetzt wird, werden jedoch gemeinsame Ausflüge und Klassenfahrten, überhaupt Gemeinschaftserlebnisse, als  positiv herausgehoben. "Nur wer weiß, was Jugendliche bewegt, kann sie bewegen", so das auf die Gruppe der Prekären besonders treffende Zitat von Bodo Flaig, Geschäftsführer des Sinus Instituts.

Die Studie wurde in Auftrag gegeben von sechs kirchlichen und gesellschaftspolitischen Institutionen, darunter die durch das BMBF geförderte Deutsche Kinder- und Jugendstiftung. Das Sinus-Institut erforscht seit über 30 Jahren die deutsche Gesellschaft und ordnet Menschen Gruppen zu, die ähnliche Lebensweisen und ähnliche Einstellungen haben. Das Buch zur Studie: Marc Calmbach, Peter Martin Thomas, Inga Borchard, Bodo Flaig. Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Verlag Haus Altenberg, April 2012.

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