Lesestoff Heterogenität: Beispiele statt Belehrung : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Praxisbeispiele contra Grundsatzdiskussionen. Der neue Band „GanzGut“, der von der Serviceagentur Ganztag in Brandenburg herausgegeben worden ist, befasst sich mit Heterogenität und stellt (nicht nur) Beispiele des Gelingens vor.

Die Einwände, sich in der Schule explizit mit der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler zu befassen, sind bekannt: zu große Klassen, zu kleine Räume, zu wenige Kollegen, zu starker Druck durch die Lehrpläne, zu wenige Fortbildungen … Ein neuer Band zum Thema Heterogenität der Serviceagentur Brandenburg widerspricht und belehrt nicht. Aber er zeigt, wie es (trotzdem) geht.
Dabei werden die Schwierigkeiten nicht geleugnet: „Der Aufbau eines vielfältigen Angebotes zur Förderung der Interessen der Schülerinnen und Schüler bringt die Schulen häufig an die Grenze der eigenen Ressourcen“, schreibt etwa Jutta Vogel in ihrem Text über die „Systematische Interessenförderung in einer Ganztagsschule“. Sie führt ihre Leserinnen und Leser durch den Kosmos der Begriffe. Förderung von Neigung, Interesse, Begabung, Talent, Anlage ... „Um was geht es eigentlich?“ fragt sie, und plädiert für Trennschärfe zwischen den Vokabeln Neigung, Interesse und Begabung. 

Kleine Begabung ... große Fähigkeit

Ihre Antworten: Die Neigung zu etwas beschreibe zunächst eine Tendenz, aus der Interesse wachsen kann. Interesse wiederum sei die „dauerhafte Beziehung einer Person zu einem Gegenstand“, einer Tätigkeit, einem Thema. Davon lasse sich Begabung abgrenzen, die als „die Summe der Fähigkeiten zur Leistung“ definiert wird und deren Entwicklung von der Förderung durch die Umwelt abhänge. Die Autorin schreibt dazu: „Begabungen, die nie angereizt wurden, kommen auch nicht zum Ausdruck, sie verkümmern. Begabungen, denen sich zu große Widerstände entgegenstellen, werden geradezu unterdrückt. Andererseits mag selbst eine kleine Begabung, die ermuntert und geschult worden ist, zu einer großen Fähigkeit erwachsen.“

Wie mit den vielfältigen Neigungen, Interessen und Begabungen umgegangen werden kann, genau davon zeugen die Beispiele in der Publikation. „GanzGut – Heterogenität“ ist abwechslungsreicher Lesestoff. Angereichert durch Fotos und großformatige Grafiken gewähren die Autorinnen und Autoren Einblicke in Schulen, die sich offensiv mit der Unterschiedlichkeit ihrer Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen. 

Von Klassenräten und Manegen

So führt etwa Annette Kühn in die Arbeit der Schulsozialarbeiter und deren Chancen im Umgang mit Heterogenität ein. Sie erläutert die Rolle ihrer Kolleginnen und Kollegen als Prozessbegleiter, als Vermittler zwischen Kindern und  Jugendlichen auf der einen und der Lehrerinnen und Lehrer auf der anderen Seite, als diplomatische Botschafter zwischen Elternhaus und Schule. Konkret beschreibt sie den „Klassenrat“; ein Miniparlament, welches die Partizipation aller Schülerinnen und Schüler fördert. 

Ein anderes Beispiel: Die Autorin Katharina Zabrzynski beschreibt ein Zirkusprojekt, mit dem Chancengleichheit und Teamgeist gefördert werden. „Manege frei für die Vielfalt“ lautet die Überschrift auf S. 52 über die Albert-Schweitzer-Grundschule in Brandenburg, die nach einem inklusiven pädagogischen Konzept arbeitet. In dem Projekt hatten die Grundschüler eine Woche lang eine Zirkusaufführung einstudiert und aufgeführt. In diesem Schuljahr nimmt die Albert-Schweitzer-Grundschule am Pilotprojekt „Inklusive Grundschule“ teil.

Pädagogische Diagnostik erweitern

Wer noch einmal genauer nachlesen möchte, was sich hinter der Vokabel „Inklusion“ verbirgt, wird darüber kurz und knapp wenige Seiten vorher informiert. Überhaupt zeichnet sich der Band auch dadurch aus, dass er nicht lediglich ein Praxisbeispiel an das nächste reiht, sondern ebenso dem Bedürfnis nach Hintergrundinformationen entgegenkommt. Wer etwa bis dahin noch zweifelte, ob die Lebenswelten von Jugendlichen wirklich so unterschiedlich sind, den belehrt Maren Wichmann eines Besseren. Anschaulich fasst sie die Ergebnisse einer SINUS-Jugendstudie zusammen und gibt Antworten auf die Frage der Studie: „Wie ticken Jugendliche?“ Eine Antwort: Für Jugendliche aus prekären Verhältnissen „sind Schule und Unterricht kaum anschlussfähig an ihre Alltagserfahrungen, sie fühlen sich überfordert und haben oft das Gefühl, sie verstehen nichts“.   

Jugendliche Schüler im Unterricht
© Britta Hüning

Wie ist es eigentlich angesichts der unterschiedlichen Lebenswelten der Jugendlichen um die pädagogische Diagnostik bestellt? Dieser Frage widmet sich die bekannte, seit 2012 emeritierte Professorin Dr. Annedore Prengel. Sie plädiert dafür, Teamgespräche und Supervision als eigene Beiträge zu Diagnostik wahrzunehmen und einzubeziehen: „In solchen Gesprächsrunden kann diagnostisch relevantes intuitives Fallverstehen für die Steigerung einer professionellen Empathie fruchtbar werden und Pädagoginnen und Pädagogen regen sich wechselseitig zu neuen Einsichten über die Kinder und Jugendlichen, mit denen sie arbeiten, an.“ Umgekehrt gelte, dass die Erwachsenen solche Gespräche nutzen können, um ihre eigenen emotionalen Reaktion zu verstehen und zu neuen Sichtweisen auf die Lernenden zu kommen.

„Anfangs wollte ich einfach meine Fächer unterrichten...“

Zu neuen Sichtweisen auf die Lernenden kommen … Die Autorin Anne Bittmann nimmt die Leserinnen und Leser mit auf ihre ganz eigene Reise von einer „normalen“ Lehrerin für Physik und Mathematik zu einer engagierten Förderlehrerin. Erfrischend ehrlich schreibt sie: „Anfangs wollte ich einfach meine Fächer unterrichten. Die gesamte Klasse saß frontal zur Tafel und sollte meinen Anforderungen folgen.“  30 Jahre sind seitdem vergangen, in denen sie sich zu einer Begleiterin der Kinder entwickelte. Ihr Resümee: „Durch diesen Unterricht des Begleitens und natürlich auch Führens werden Kinder selbstbewusster, aktiver, ruhiger und glücklicher.“

Neurobiologisches Halbwissen kann schaden

Gute Gefühle, gar Glücksempfinden beim Lernen – da denkt heute wohl jeder an die Erkenntnisse der Neurobiologen. Die Hirnforschung hat unter Lehrerinnen und Lehrer große Befürworter gefunden, aber auch skeptische Einwände hervorgerufen. In dieser Publikation wird darüber keine Grundsatzdiskussion geführt. Vielmehr wird verständlich herausgearbeitet, wo eine neurowissenschaftliche Perspektive auf Unterricht zielführend ist, wenn es um die Berücksichtigung von Heterogenität beim Lernen gehen soll. Aber es wird auch gewarnt: Ein neurobiologisches Halbwissen könne sich schädlich auf die Unterrichtspraxis auswirken, so die Dr. Ursula Schumacher. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stellen ihre E-Mail-Adresse für Kommentare zur Verfügung. Zusammen mit einer kurzen Literaturliste unter den Texten regt die Publikation ausdrücklich dazu an, sich mit dem Thema weiter auseinanderzusetzen und den Kontakt zu den Autorinnen und Autoren zu suchen.

Dem Servicegedanken folgt auch der Anhang. Literatur und Links zum Schwerpunktthema des Bandes wurden ansprechend und farbig aufbereitet und machen Lust, sich in das Thema Heterogenität zu vertiefen.          

Die Reihe „GanzGut“ wird herausgegeben von der Serviceagentur Ganztag und Kobra.net in Brandenburg.

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