Leitfaden in der Vielfalt : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Ganztagsschulen sind das Bildungsthema der Stunde. Dies spiegelt sich auch im Buchmarkt. Nach dem Klassiker "Handbuch Ganztagsschule" sind zwei weitere Bücher erschienen, die sich mit Ganztagsschulen befassen.
Eine Schulkonferenz diskutiert: Soll unsere Schule Ganztagsschule werden? Können wir das überhaupt? Wie sieht der Schultag aus, wie muss das Arbeitszeitmodell für die Lehrerschaft gestrickt werden? Welche Räume müssen geschaffen werden, woher bekommen wir das Mittagessen? Wie laufen die Anträge, und wie gewinnen wir Kooperationspartner für den Nachmittagsbereich? Fragen über Fragen türmen sich vor einem Kollegium auf, wenn eine solche Entscheidung ansteht und entmutigen die Wagemutigen, während die Skeptiker schnell zu bedenken geben: "Das wird eh nichts!"
Nun gibt es keine Gebrauchsanleitung mit eingebauter Garantie für eine gelingende Ganztagsschule, aber so mancher Pädagoge würde sich glücklich schätzen, einen Leitfaden zur Hand zu haben, der von der Entscheidungsfindung über die Erstellung eines pädagogischen Konzepts bis zur Gestaltung von außerunterrichtlichen Maßnahmen einige Fragen bereits im Vorfeld klärt - und sei es nur, um am Beginn des Prozesses gegenüber skeptischen Kollegen nicht sofort in einen Erklärungsnotstand und Rechtfertigungszwang zu geraten.
Leitfaden für Praktiker
Das Buch "Praxis der Ganztagsbetreuung an Schulen" bietet sich als ein solcher Leitfaden mit "sofort einsetzbaren Vorlagen für die Konzeption, Gestaltung und Finanzierung von ganztägigen Angeboten" an. Bereits das Wort "Praxis" im Titel sowie die Form der Veröffentlichung als Ringbuch mit problemlos herausnehmbaren oder hinzufügbaren, aktualisierten Blättern machen die Zielsetzung der Herausgeber Dr. Joachim Schulze-Bergmann und Dr. Hermann Vortmann klar: Hier geht es nicht um Theorie, sondern den "praktischen Nutzen", um "Praktikern Handlungsmöglichkeiten zu zeigen, Alternativen zu reflektieren und weitere Informationsquellen zu erschließen", wie die Herausgeber im Vorwort schreiben. "Die sofort einsetzbaren Vorlagen sollen dem Praktiker die Umsetzung erleichtern." Das Stichwortverzeichnis gleich zu Beginn macht dies deutlich. Schulze-Bergmann umreißt kurz die politische Entwicklung in Deutschland mit dem Investitionsprogramm des Bundes, "Zukunft Bildung und Betreuung", sowie der IZBB-Startkonferenz im September 2003. Es folgen die Definition und die Entwicklungsgeschichte der Ganztagsschule in Deutschland.
Mit der "Planung und Einrichtung eines ganztägigen Angebots" befasst sich Silvia Wagner-Welz, die zunächst die Zielsetzungen darlegt: "Es geht um die Verknüpfung von Bildung, Erziehung und Betreuung. Durch das hierbei notwendige Zusammenwirken unterschiedlicher Professionen und die Möglichkeit der Vernetzung bestehender Angebote wird eine Qualitätssteigerung der schulischen Bildung erwartet." Im Folgenden schlüsselt die Oberschulrätin der Berliner Senatsverwaltung organisatorische und rechtliche Fragen wie beispielsweise die Teilnahmepflicht und den Versicherungsschutz auf. Den Servicecharakter des Buches unterstreicht das Einfügen von Checklisten, an dieser Stelle zu den Punkten "Planung und Einrichtung".
Bezug zur Lebenswelt
Von besonderem Interesse dürften für Schulleitungen die folgenden beiden Kapitel "Kosten und Finanzierung" sowie "Personalbedarf und -einsatz" sein, die in media res gehen: Was gilt es zu berücksichtigen bei Ausstattung, Gebäude, Unterhalt und Personalkosten? Wie sieht es mit dem Einstellen außerschulischer Fachkräfte und dem Einsatz von Sozialpädagogen in der Schule aus? Die Vergütung des Personals, die Frage der Aufsichtspflicht und des Versicherungsschutzes werden einzeln aufgeschlüsselt.
Die weiteren Kapitel klären unter anderem über die "Kooperation mit Verbänden und Vereinen" auf und beschreiben die "Erstellung eines pädagogischen Konzepts". Es werden die wesentlichen inhaltlichen Punkte genannt, die einem solchen zu Grunde liegen sollten: Der Bezug zur Lebenswelt, die Partizipation von Schülerinnen und Schülern, die Diskursivität ("Rollenübernahme, Perspektivenwechsel und Mitgefühl sowie Fürsorge und gegenseitiges Vertrauen sind Bedingungen entwickelter und gelingender Diskursivität"), die Lernarbeit ("Die Schüler entwickeln zunehmend die Fähigkeit, das Lernen in Eigeninitiative zu organisieren, auszuwerten und vor sich und anderen zu verantworten") und die Ausdrucksgestaltung in Spiel, Tanz, Singen, darstellenden Künsten und anderem.
Checklisten und Musterverträge
Im Kapitel "Gestaltung von Unterricht und außerunterrichtlichen Maßnahmen" spielen Fragen eine Rolle, die auch an vielen bereits bestehenden Ganztagsschulen noch ungelöst sind: Wie sollen die Schülerinnen und Schüler an die Nachmittagsangebote gebunden werden, wie steht es mit Kurszensuren, dem Zwang zum Kursbesuch und der Bescheinigung für die Teilnahme an Ganztagsschulangeboten?
Abgerundet wird das Buch durch "Praxisbeispiele von Ganztagsangeboten" sowie weitere praktische Arbeitshilfen wie Checklisten, Musterschreiben und -verträgen und vielem mehr. Für bereits etablierte Ganztagsschulen ist dies sicher weniger interessant, aber für Schulen am Beginn des Weges kann "Praxis der Ganztagsbetreuung an Schulen" ein informativer und arbeitserleichternder Wegweiser sein.
Fast jede Schulart ist dabei
Einen anderen Hintergrund hat das Buch "Ganztagsschule in pädagogischer Verantwortung", das in der Reihe "Münstersche Gespräche zur Pädagogik" erschienen ist. Hier sind Vorträge veröffentlicht, die Wissenschaftler und Schulpraktiker im Frühjahr 2003 auf dem Symposium der Schulabteilung des Bistums Münster gehalten haben. Laut Autor und Herausgeber Prof. Dr. Jürgen Rekus von der Universität Karlsruhe wendet sich sein Buch sowohl an den "Praktiker, der sich über mögliche Gestaltungsformen der Ganztagsschule in Form von Beispielen rasch orientieren will", als auch an den "Theoretiker, der sich über die verschiedenen Konzepte und Positionen informieren will und selber vielleicht die Praxis begleitet und berät".
Für die Praktiker hält das Werk in seinem zweiten Teil die Eigendarstellung bereits bestehender Ganztagsschulen bereit, deren Träger jeweils die Kirche ist: Eine Hauptschule in Borken, eine Ganztagsrealschule in Herten, ein Tagesinternat in Goch, eine Grund-, Haupt- und Werkrealschule in Friedrichshafen, eine integrierte und differenzierte Gesamtschule in Münster sowie ein Ganztagsgymnasium in Mainz. Für fast jede Schulart ist somit ein Beispiel gefunden, dementsprechend ist dieser Teil für viele Schulleitungen interessant.
Auf die Konzepte kommt es an
Den ersten, "theoretischen" Teil eröffnet Dr. Ottwilm Ottweiler mit einer Darstellung der Debatte und der Stellungnahmen der Parteien, Verbände und Kirchen in Deutschland zum Thema Ganztagsschule. Der Wissenschaftler vom Pädagogischen Zentrum des Landes Rheinland-Pfalz zeichnet ein "vielschichtiges, vielfältiges Bild": "Gesellschaftspolitische, familienpolitische, fürsorgerisch-kompensatorische Begründungen und wirtschaftspolitische Argumente stehen neben pädagogischen und didaktischen Begründungen." Bei aller Unübersichtlichkeit auch der völlig unterschiedlichen Vorgehensweisen in den Ländern komme es "mit Sicherheit auf die Konzepte an, die der Einrichtung von Ganztagsschulen zu Grunde liegen".
Prof. Dr. Harald Ludwig von der Universität Münster widmet sich im zweiten Aufsatz der "Entstehung und Entwicklung der modernen Ganztagsschule in Deutschland". Ludwig resümiert, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts "eine grundlegende Tendenz" in der Entwicklung des deutschen Bildungswesens zu einer "modernen, ganztägigen Schulerziehung" bestehe, "auch wenn sich diese Entwicklung nicht in einer gradlinigen, ungebrochenen Entfaltung vollzieht, sondern in einer Folge von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Weiterführungen und Abbrüchen".
Unterricht im Mittelpunkt
Dass die Ganztagsschule ein "sehr verbreitetes Modell" ist, zeigt Prof. Dr. Cristina Allemann-Ghionda von der Universität Köln in ihrem "internationalen Vergleich". Die Halbtagsschule wie in der Bundesrepublik gebe es in Europa so nur noch in Österreich und Griechenland. Es seien dabei weniger kulturelle Traditionen, die in einer Gesellschaft Ganztagsschulen als akzeptiert verankern, sondern politischer Wille sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklungen.
Prof. Dr. Volker Ladenthin von der Universität Bonn widmet sich dem "Verhältnis von Familienbildung und Schulbildung" und kommt zu dem Schluss, dass kollektive Institutionen eine Kultivierung der Emotionen wie in der Elternbeziehung nicht leisten können. "Eine umfassende, womöglich staatliche Aufwachsinstitution gefährdet die Individualität der Kinder", warnt Ladenthin.
Der Herausgeber selbst fragt: "Braucht die Ganztagsschule eine spezifische Schultheorie?" Jürgen Rekus gibt als Antwort ein "Nein, aber..": Auch die Ganztagsschule bleibe zuallererst einmal eine Schule, in welcher der Hauptzweck der Unterricht sei. "Da die Ganztagsschule im Gegensatz zur Halbtagsschule aber nicht mehr darauf bauen kann, dass der von ihr angestoßene Bildungsprozess außerhalb der Schule fortgesetzt wird, muss sie diese Aspekte in den schulischen Unterrichtsprozess integrieren. Sie muss nach Formen des Unterrichts suchen, die das zu erlernende Wissen mit dem Urteil der Schüler verbinden und die Bedeutung des Gelernten einschätzbar werden lassen."
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