Im Spannungsfeld von Theorie und Empirie : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Der rasche Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen infolge des IZBB wird von einer überaus regen Forschungstätigkeit begleitet. Doch anders als in der Schulpraxis, ist es die Aufgabe der Wissenschaft, theoriegeleitet und analytisch Entwicklungen zu beobachten und nach den Wirkungen ganztägiger schulischer Praxis zu fragen - und nicht zuletzt nach den historischen Bedingungen von Ganztagsschulen. Das Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik "Ganztägige Bildung und Betreuung" nimmt sich nicht weniger vor, als die paradigmatische Vermessung des Geländes.
Sie ist das Flaggschiff der deutschen Erziehungswissenschaft: Die "Zeitschrift für Pädagogik" zählt auch zu den Schriften im Bereich der Erziehungswissenschaft, die internationales Ansehen genießen. Dass im Juli 2009 ein Beiheft mit rund 300 Seiten unter dem Titel "Ganztägige Bildung und Betreuung" erschienen ist, verdeutlicht das gestiegene Interesse der Forschung, den Ausbau von Ganztagsschulen durch wissenschaftliche Diskussionen zu begleiten.
Angesichts der Tatsache, dass sich die Ganztagsschule binnen kürzester Zeit als Alternative zur Halbtagsschule empfohlen hat, stellen sich diverse Fragen: Handelt es sich hier um einen nachholenden Modernisierungsprozess, der auf die flexibilisierte und veränderte Arbeitswelt reagiert? Ist die Ganztagsschule der geeignete Ort, um das Problem der Bildungsgerechtigkeit durch intensivere Kooperation zwischen Schule, Jugendhilfe und anderen Partnern zu bearbeiten?
Welche Rolle nehmen die Familien im System Ganztagsschule ein, und beschneidet der verlängerte Schulbesuch den Eltern die ohnehin knappe Freizeit mit ihren Kindern? Warum ist der vergleichende Blick auf internationale After School-Programme so lehrreich für die Bewertung des Ausbaus von Ganztagsschulen in Deutschland? Schließlich die Frage: Was lehrt die Historie ganztägiger Bildung und Betreuung?
Die Herausgeber des Beiheftes schreiben in der Einleitung des Bandes, worauf es ihnen ankommt: "Die erziehungswissenschaftliche Ganztagsschuldiskussion (ist) auf dem Weg von primär konzeptionellen Debatten hin zu (auch) empirisch fundierten Erkenntnissen einen guten Schritt vorangekommen. Durch das vorliegende Beiheft dokumentiert die Zeitschrift für Pädagogik diese Übergangssituation mit Aufsätzen, die thematisch, theoretisch und methodisch die Bandbreite der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion belegen."
Natürlich sind die Herausgeber nicht irgendwer: Mit Cristina Allemann-Ghionda, Werner Helsper, Eckhard Klieme sowie Ludwig Stecher werfen renommierte Erziehungswissenschaftler ihr Gewicht in die Waagschale. Klieme und Stecher stehen zudem für das Konsortium zur "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" (StEG), das die bundesdeutsche Ganztagsschulforschung auf ein ganz neues Niveau gehoben und international anschlussfähig gemacht hat.
Forschung mit internationalem Anschluss
Der Aufbau des Bandes vollzieht sich in drei übersichtlichen und gut strukturierten Schritten: Einmal gibt es den Schwerpunkt "Ganztagsschulen als Organisationskonzept", zum zweiten den Bereich "Lernprozesse und Wirkungen" und schließlich den Bereich "Betreuung und Zeitpolitik". Der erste und der dritte Teil des Bandes nehmen mit jeweils rund 100 Seiten den größten Teil der Publikation ein. Die Autorinnen und Autoren - darunter Lehrstuhlinhaber wie Nachwuchswissenschaftler - sind jeweils mit Aufsätzen von rund 20 Seiten vertreten.
Mithin reichlich Platz, um das zunehmend komplexe Feld der Ganztagsschulforschung abzubilden, mit der StEG-Studie im Zentrum. Bezeichnend für die Vielzahl von quantitativen und qualitativen Forschungsprojekten ist der Rückgriff auf die Ergebnisse dieser groß angelegten Längsschnittstudie, die den größten Fundus an empirischen Daten erhoben hat.
Dies wird schon im ersten Aufsatz des Bandes von Heinz Günter Holtappels und Wolfram Rollett zum Thema "Schulentwicklung in Ganztagsschulen" deutlich. Mithilfe der Ergebnisse der StEG-Studie aus den Jahren 2005 und 2007 kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass sich die Ganztagsangebote insbesondere dann günstig entwickeln, wenn Aspekte der Schulkultur und Schulorganisation - wie die Innovationsbereitschaft des Kollegiums oder die Verzahnung von Vor- und Nachmittag - berücksichtigt werden.
Alle Kernfragen auf dem Prüfstand
Ein Vorteil des Beiheftes ist darin zu sehen, dass die Beiträge inhaltlich aneinander anknüpfen. So zeigen Franz Prüß, Susanne Kortas sowie Matthias Schöpa von der Universität Greifswald in ihrem Beitrag "Die selbstständige(re) Schule", dass mehr Selbstständigkeit der Einzelschule der Rhythmisierung sowie der individuellen Förderung zugutekommt. Ebenso kommt Bettina Arnold vom Deutschen Jugendinstitut München zu dem Ergebnis, dass die gute Zusammenarbeit zwischen der Schule und den Kooperationspartnern (hier insbesondere die Jugendhilfe) der individuellen Förderung von Kindern und Jugendlichen dienlich ist: "Die Kinder- und Jugendhilfe hat ihre Schwerpunkte in den fächerübergreifenden und projektspezifischen Angeboten und darin, Angebote auch für bestimmte Schülergruppen durchzuführen. Somit wird die Heterogenität aufgegriffen und die verschiedenen Begabungen können unterstützt werden."
Der Aufsatz von Beth M. Miller und Kimberly A. Truong mit dem Titel "The Role of Afterschool and Summer in Achievement" geht der Wirkung außerschulischer Angebote nach. Er verdeutlicht am Beispiel der so genannten After-School-Programmes in den USA die positive Wirkungen auf die Schülerinnen und Schüler. Dabei kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die After-School sowie die -Ferienprogramme gerade für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Schichten bzw. für farbige Kinder eine besondere Bedeutung haben, da sie ihnen Zugang zu Bildungsangeboten (informelle Bildung) bieten, die für die Entwicklung von zukunftsfähigen Kompetenzen ("twenty-first-century-skills") grundlegend sind. Indem sich die Autoren auf die Lernprozesse im Rahmen außerschulischer, informeller Bildungsangebote fokussieren, kommt indirekt die Anschlussfähigkeit der deutschen Ganztagsschulforschung an die internationale Diskussion zum Ausdruck, da sie sich mit analogen Problemen beschäftigt.
"Was kann die Ganztagsschule leisten?"
Im darauffolgenden Beitrag "Was kann die Ganztagsschule leisten?" können Natalie Fischer, Hans Peter Kuhn und Eckhard Klieme vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) positive Wirkungen außerunterrichtlicher Angebote auf die Motivation und darüber vermittelt auf Schulnoten und Leistungen von Kindern und Jugendlichen festzustellen.
Mithilfe von StEG-Daten gelang der Nachweis, dass Schülerinnen und Schülern durch die Teilnahme an Ganztagsangeboten in den Fächern Deutsch und Mathematik deutlich weniger abfallen, als Mitschüler, die die Halbtagsschule besuchen: "Mit den dargestellten Analysen konnte ein Einfluss der Teilnahme an extracurricularen Angeboten auf die Entwicklung der Noten und der Lernzielorientierung nachgewiesen werden. Insgesamt entwickelten sich die Ganztagsschulteilnehmerinnen und -teilnehmer hinsichtlich der betrachteten Variablen positiver als ihre Mitschüler."
Qualitative Forschungen, wie sie im Rahmen des Forschungsvorhabens "Lernkultur und Unterrichtsentwicklung an Ganztagsschulen LUGS" von Fritz-Ulrich Kolbe und Sabine Reh unternommen werden, legen nahe, dass die Einführung von Ganztagsangeboten eine neue Lernkultur an Ganztagsschulen begünstigt, wenn nicht sogar ermöglicht: "Die Entwicklungsverläufe an unseren Schulen zeigen, dass die Rezeption des Ganztagsgedankens von der schulspezifischen Situation und Lernkultur bestimmt wird. (.) Alle Schulen in unserem Forschungsprojekt haben ihr Angebot erweitert bzw. verändert."
Zeitpolitiken im internationalen Vergleich
Mit dem dritten Schwerpunktbereich des Bandes, "Betreuung und Zeitpolitik", wird die historische und international vergleichende Perspektive des Bandes eröffnet. Während die historische Analyse der Zeitpolitiken ein erhellendes Licht auf die gegenwärtigen Entwicklungen der Ganztagsschulen wirft, lehrt der Vergleich, warum gleiche Ausgangsprobleme unterschiedlich beantwortet werden. Als Spezialistin für den historischen Vergleich beschäftigt sich Cristina Allemann-Ghionda mit der Frage: "Ganztagsschule im europäischen Vergleich. Zeitpolitiken modernisieren - durch Vergleich Standards setzen?"
Da der Begriff "Zeitpolitik(en)" so grundlegend ist, lohnt der nähere Blick: Zeitpolitik bedeutet Allemann-Ghionda zufolge "die Art und Weise, in der die Zeit für die Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern zwischen Personen und staatlichen oder privaten Institutionen aufgeteilt wird. Er soll deutlich machen, dass die Zeitaufteilung von Erziehung, Bildung und Betreuung der Kinder eine kulturelle und soziale Konstruktion ist, die von den jeweiligen wirtschaftlichen und politischen sowie rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen abhängt."
Die Erziehungswissenschaftlerin unterscheidet sechs Modelle von Ganztagsschulen: das laizistisch-republikanische Modell (Frankreich), das neoliberal-privatistische Modell (Großbritannien), das sozialstaatlich-aktivierende Modell (Schweden), das fakultative, regional ungleich verteilte Modell auf staatlicher Basis (Italien), das offene, marktorientierte Modell unter staatlicher Aufsicht (Russland), das föderalistische heterogene (offen / gebunden) Modell (Deutschland): "Die ersten drei Modelle sind flächendeckend gebunden und obligatorisch (.). Die letzten drei Modelle sind offen oder nur teilweise gebunden."
Die internationale Vielfalt der Betreuungssysteme
Demgegenüber konstatiert Allemann-Ghionda in Osteuropa eine Auflösung vormals klarer Fronten zwischen der staatlich organisierten Betreuung und dem Vorrang der Familien und fasst diesen als "postmodernen Eklektizismus". Die Erziehungswissenschaftlerin Livia Sz. Oláh kann in ihrem Beitrag zum Thema "Zeitpolitiken und Fertilität" aus europäischer Perspektive den Beleg führen, dass eine hervorragende Qualität von frühkindlicher Betreuung zu einer höheren Geburtenrate beiträgt.
"Die Ganztagsschule als Politikum" ist der Untersuchungsgegenstand von Karen Hagemann. Anders als nach dem Pisa-Schock und dem IZBB gab es zuvor in Deutschland keinen breiten Konsens, der den Ganztagsschulen zum Durchbruch hätte verhelfen können: Hintergrund war laut Hagemann aus geschlechtertheoretischer Perspektive auch die Dominanz des Ernährer-Hausfrau-Modells, das in West-Deutschland bis Ende der 1990er Jahre laut Hagemann seine familienhegemoniale Stellung bewahrte.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede im geteilten Deutschland
In der ehemaligen DDR genossen die ganztägige schulische Bildung und Betreuung dagegen eine zentrale Stellung, wie Monika Mattes in ihrem Beitrag "Ganztagserziehung in der DDR" herausarbeitet. Schließlich war sie ein "Machtinstrument, um Familie und Gesellschaft zu stabilisieren". Ähnlich wie in West-Deutschland, so Mattes, herrschte in der Familie allerdings eine traditionelle Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau vor. "Was die schulische Zeitorganisation betrifft, so bestand die traditionelle Halbtagsschule, wenn auch in der Form der Einheitsschule, mehr oder weniger fort, lediglich erweitert durch ein Mittagessen und ein von vielen Akteuren bestrittenes Nachmittagsprogramm."
Den Reigen höchst instruktiver Beiträge beschließt der Erziehungswissenschaftler Ivo Züchner vom DIPF. In seinem Aufsatz zum Thema Zeitregime und Familie kann er mithilfe von StEG-Daten belegen, dass die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen am Ganztag die Familien tendenziell entlastet, ohne deshalb ein strukturell anderes Zeitregime zu etablieren und das Familienleben zu beeinträchtigen.
Zum guten Ende: Die Lektüre des Beiheftes eignet sich als Einführung in das zunehmend komplexe Feld der Ganztagsschulforschung. Gleichzeitig spiegelt der Band die vorherrschenden Methoden der Disziplin und zeigt der Erziehungswissenschaft deutlich auf, an welchen Stellen zusätzliche Forschungen vonnöten sind: Eine Einladung für talentierte Forscherinnen und Forscher, weitere Breschen in die Ganztagsschulforschung zu schlagen.
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