Ganztagsbildung und gerechtigkeitsorientierte Bildungsforschung : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Im Handbuch "Grundbegriffe Ganztagsbildung" ist den Autorinnen und Autoren etwas gelungen, was Ganztagsschulen im Kern ausmacht: die multiprofessionelle Zusammenarbeit über Disziplinengrenzen hinweg. Prof. Hans-Uwe Otto, einer der Herausgeber, erläutert im Interview seine Intentionen. Ganztagsbildung habe das Ziel, "die Selbstentfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Diese dürfen weder auf die einzelne Schule noch auf singuläre Bildungsorte begrenzt bleiben, sondern sie erfordern die Vernetzung von Bildungspartnern".

Porträtfoto eines älteren Mannes.
Prof. Hans-Uwe Otto

 

Online-Redaktion: Warum war es an der Zeit, ein Buch zu publizieren, das den Zusammenhang zwischen Schule und Jugendhilfe unter dem Vorzeichen der Ganztagsbildung thematisiert?

Hans-Uwe Otto: Die Bildungsdiskussion in Deutschland ist immer noch geprägt durch die PISA-Studie und die Folgeinterpretation. Diese Interpretation war auf der einen Seite schulisch orientiert - das heißt, sie war leistungsfixiert, andererseits machte sie deutlich, dass es dabei auch um kulturelle  und  soziale Zusammenhänge geht. Die zweite Überlegung war, dass der Begriff der Ganztagsbildung, der ursprünglich in einem Aufsatz von Thomas Coelen in die Diskussion gebracht wurde, über den eng geführten Kontext von Schule und Jugendhilfe hinausweisen soll. Bis heute ist es ein Manko der Diskussion, dass immer wieder versucht wird, dieses eher ungünstige Verhältnis neu zu konstituieren, ohne damit eine theoretisch notwendige Perspektive von genügender Breite zu eröffnen.

Online-Redaktion: Was heißt "Ganztagsbildung"?

Otto: Der Ganztagsbildungsbegriff hat neben einem theoretisch-systematischen Kontext einen deutlich bildungspolitischen Impetus. Dieser beinhaltet, dass Bildung, die immer als übergreifender Begriff für Sozialisationsbedingungen, Erziehungskontexte und Bildungsmöglichkeiten, nicht nur an einem Ort stattfindet oder in einer Institution, sondern sich aus bildungssoziologischer Perspektive auf den ganzen lebensweltlichen Kontext erstreckt. Die PISA-Studien haben zudem gezeigt, dass dieser Kontext ein entscheidender Mechanismus ist, um zu einer schulischen Leistung zu kommen, die heute als wünschenswert dargestellt wird.

Darüber hinaus will der Begriff der Ganztagsbildung verdeutlichen, dass es neben dem "Human Capital-Approach", also der Kompetenzorientierung im Rahmen von Employability, auch einen Bereich gibt, den wir mit "Human Development" umschreiben. Es geht dabei um einen bildungstheoretischen Begriff, der die klassische Sehart von Bildung und Erziehung erweitert. Erst wenn dieser Bildungs- und Erziehungsbegriff kulturell, sozial und politisch eingebunden wird, bekommt er die Wirkung, die wir dem Begriff der Ganztagsbildung beimessen.

Online-Redaktion: Was sind die Ziele der Publikation und wer sind die Adressaten?

Otto: Ziel der Publikation war es, die Grundidee von Ganztagsbildung zu verdeutlichen und bildungspolitisch interessant zu machen. Uns ging es darum, Bildung in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit dem Problem der Gerechtigkeit als Befähigungsgerechtigkeit und Verwirklichungschancen zu diskutieren. Vor diesem Hintergrund wurde eine internationale Konferenz organisiert, die sich sowohl mit konzeptionellen als auch mit den systematischen Notwendigkeiten auseinandersetzte.

Eine Frau und ein Mann bei einem Vortrag.
Prof. Hans-Uwe Otto: "Der Begriff selbst ist sicherlich noch entwicklungsfähig, aber er hat bereits heute deutliche Akzente gesetzt. Das kann z.B. daran erkannt werden, dass eine grundlegende und substanzielle Diskussion über Bildungslandschaften ohne diesen Begriff eigentlich nicht möglich ist."

Daraus erwuchs die Überzeugung, Ganztagsbildung als systematischen wie politischen Begriff in die Diskussion zu bringen. Der Begriff selbst ist sicherlich noch entwicklungsfähig, aber er hat bereits heute deutliche Akzente gesetzt. Das kann z.B. daran erkannt werden, dass eine grundlegende und substanzielle Diskussion über Bildungslandschaften ohne diesen Begriff eigentlich nicht möglich ist.

Online-Redaktion: Wie ist es Ihnen und Thomas Coelen gelungen, über 100 Experten unterschiedlichster Fachrichtungen für diese Publikation zu gewinnen?

Otto: Es wurde zum einen im Vorfeld eine systematische Überzeugungsarbeit geleistet - nicht zuletzt im Rahmen einer Vorkonferenz, zu denen wir wichtige Fachleute einluden. Zum anderen entwickelten wir ein stringentes arbeitsorganisatorisches System für die Redaktion, dessen Fäden Thomas Coelen in den Händen hielt. Drittens hatte uns der Verlag eine Publikationsofferte gemacht, die nicht alltäglich ist. Ein Buch mit derartigem Umfang und Aufwand zu drucken, ist ein auffälliges Signal: Es verdeutlicht publikationspolitisch, dass es bei der Ganztagsbildung um mehr geht, als nur um ein intellektuelles Tagesereignis - dafür stehen ja nicht zuletzt auch die versammelten Autorinnen und Autoren.

Teilnehmer einer Konferenz sitzen an langen Tischen und arbeiten.
"Voraussetzung für innovative Lösungen ist der gemeinsame Wille, organisatorische, pädagogische, aber auch besoldungs- und sozialpolitische Lösungen zu finden. Warum sollte es unter bildungspolitischen Gesichtspunkten nicht möglich sein, in diesem Bereich mit einer großflächigen Initiative ein Stück voran zu kommen?

Es geht im Grunde um die Forderung nach einer gerechtigkeitsorientierten Bildungsforschung. Das Handbuch will auch dazu beitragen, dass gegenwärtige dominante Paradigma einer vielfach empiristisch agierenden und damit verkürzt fokussierten Bildungsforschung zu überwinden, zudem hinterfragt es in seinen Konsequenzen auch ein rein geisteswissenschaftliches Bildungsverständnis. Ganztagsbildung als eine Art theoretischer und konzeptioneller "Umbrella-Begriff" ist hervorragend geeignet, um in interdisziplinären Kontexten entfaltet zu werden.

Online-Redaktion: Wie ist das Buch denn aufgebaut?

Otto: Die Systematik verdeutlicht, worum es geht, und wie das Thema Ganztagsbildung in der Breite der Möglichkeiten und in der Notwendigkeit einer inhaltlichen Zielsetzung zu verstehen ist. Sie gab uns zudem die Möglichkeit, vielfältige Meinungen produktiv zu bündeln. Wir beginnen mit dem Themenfeld Adressaten, Kategorien und Prozesse. Der zweite inhaltliche Bereich betrifft Anlässe, Themen und Handlungsfelder. Er gibt Aufschluss darüber, wie der Begriff Ganztagsbildung in der Praxis verwirklicht wird und welche Konfliktlagen und Innovationsmöglichkeiten sich auftun.

Im dritten Teil der Publikation geht es schließlich um die Perspektiven der Vernetzung von Lernwelten und Institutionen. Sodann erwartet die Leserinnen und Leser eine Auseinandersetzung mit dem Thema Personal. Das ist ein ausgesprochen komplexes und besoldungspolitisches Thema in der ganzen Bildungsdebatte. Das Problematische liegt darin, dass die Ausgangsbedingungen von Professionalität sehr unterschiedlich sind, und zwar sowohl in der qualitativen Orientierung ihrer Expertise als auch in der Gehaltsstruktur. Die Schwierigkeit wird schon in der Zusammenarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe mit den Lehrkräften der Schule deutlich, wobei ein Konfliktfeld mit dem Privileg der Ferien sowie der Bezahlung der Lehrkräfte offenkundig wird.

Teilnehmer einer Konferenz sitzen an langen Tischen und arbeiten.
"An dem Buch zum Thema "Lokale Bildungslandschaften", das im Herbst 2010 erscheint, sind rund 50 Autorinnen und Autoren beteiligt".

Eine gute Ganztagsschule zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht nur auf ihr traditionelles Kompetenzkonzept mit der immanenten Leistungslogik bezieht, sondern dass es in multiprofessionellen Teams zu einer Zusammenarbeit mit Jugendverbänden, Sportvereinen oder Kultureinrichtungen kommt. Ziel ist es, die Selbstentfaltungsmöglichkeiten und den Autonomiegewinn von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Dieses darf weder auf die einzelne Schule, noch auf andere singuläre Bildungsorte begrenzt bleiben, sondern erfordert eine konsequente und gleichzeitig subjektorientierte Vernetzung von Bildungsangeboten.

Online-Redaktion: Im Rahmen des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) sind rund 7200 neue Ganztagsschulen gefördert worden. Was soll der Begriff der Ganztagsbildung für diese Schulen denn leisten?

Otto: Ich würde mir wünschen, dass alle 7.000 Ganztagsschulen ein Exemplar dieses Buches bekommen. Das sage ich aus Überzeugung, denn der schulische Sektor tut sich bislang schwer damit, über die Veränderung der Unterrichtsformen hinaus Innovationen, die Grenzen der eigenen Institution und Organisation überschreiten, zu realisieren. Nicht zuletzt entsprechend eng geführte Vorschläge zu einer Rhythmisierung durch den Einbezug des Nachmittags zeigt dieses deutlich. Erst in der Überwindung dieser Grenzen liegt aber die Chance, Ganztagsbildung für die Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen.

Nicht Schülerinnen und Schüler, sondern Kinder und Jugendliche sind der zentrale Ansatz der Ganztagsbildung. Erst so geschieht der für alle Beteiligten innovative Sprung, Erziehungs- und Bildungsaspekte durch multiprofessionelle Teams neu zu fokussieren und eine Zielstellung in einer chancengerechten gesellschaftspolitischen Integration zu verwirklichen.

Online-Redaktion: Ihr nächstes großes interdisziplinäres Buchprojekt zum Thema Bildungslandschaften befindet sich in der Realisierung. Wo findet sich dort das Thema Ganztagsschule wieder?

Abbildung der Titelseite eines Buches mit der Aufschrift "Grundbegriffe Ganztagsbildung".
"Ich würde mir wünschen, dass alle 7.000 Ganztagsschulen ein Exemplar dieses Buches bekommen."

Otto: Bildungslandschaften sind die konsequente Fortführung des Themas Ganztagsbildung. Letztere gibt Hinweise auf organisatorische Möglichkeiten, den Ganztag eben nicht exklusiv der Schule zuzuordnen, sondern ihn bildungstheoretisch und bildungspraktisch zu erweitern. Ob die Ganztagsschulen sich einen Gefallen damit antun, wenn sie den Ganztag in ihre Schulräume hereinholen, wage ich zu bezweifeln: Es gibt Jugendzentren, Sportvereine, Jugendverbände und kulturelle Einrichtungen, die ihre eigenen räumlichen Möglichkeiten zur Verfügung stellen können.

Das zentrale Problem ist, dass die Gelder, die für nichtschulische pädagogische Nachmittagsangebote verfügbar sind, im Vergleich zu den Leistungen, die dort erbracht werden, oft zu gering sind. Voraussetzung für innovative Lösungen ist der gemeinsame Wille, organisatorische, pädagogische, aber auch besoldungs- und sozialpolitische Lösungen zu finden. Warum sollte es unter bildungspolitischen Gesichtspunkten nicht möglich sein, in diesem Bereich mit einer großflächigen Initiative ein Stück voran zu kommen?

An dem Buch zum Thema "Lokale Bildungslandschaften", das im Herbst 2010 erscheint, sind rund 50 Autorinnen und Autoren beteiligt. Es war trotzdem möglich, dass die unterschiedlichen Interessenlagen in einem gemeinsamen Fokus auf die Bildungslandschaften eingebunden wurden. Kein Wunder, denn diesen Problemen sich stellende Schulen, Jugendverbände sowie kulturelle Initiativen lassen sich für den Gedanken der Bildungslandschaft gewinnen. Besondere Bedeutung hat die Tatsache, dass die Kommunen, bislang nur Träger der Schulbauten, gegenwärtig zunehmend Bildungsverantwortung einfordern und übernehmen wollen.

Damit entsteht nicht nur ein erweiterter Spielraum, sondern auch ein neues Profil einer kommunalen Bildungslandschaft. Die lokale Bildungsverantwortung wird durch die Einsicht befördert, Problemsituationen eher im Kindes- und Jugendalter anzugehen, als später den kommunalen Haushalt zu belasten. Darüber hinaus wollen die Kommunen bildungspolitisch und bildungspraktisch für junge und zuziehende Familien attraktiver werden. Dies sind explizite Argumente des Deutschen Städtetages, die für eine Realisierung einer Bildungslandschaft im Kontext der Ganztagsbildung außerordentlich hilfreich sind.

Prof. Hans-Uwe Otto, geboren 1940 in Husum. Nach Lehre und Facharbeitertätigkeit in der Industrie studierte der Erziehungswissenschaftlter an der Höheren Fachschule für Sozialarbeit in Dortmund und schloss ein Studium der Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster an. Ab 1979 war er dann bis zu seiner Emeritierung Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Bielefeld. 1993 bis 1994 Vorsitzender des Lenkungsausschusses zum Aufbau des erziehungswissenschaftlichen Fachbereichs und Aufbaubeauftragter für das Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Thomas Coelen, Hans-Uwe Otto (Hrsg): Grundbegriffe der Ganztagsbildung. Das Handbuch. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009

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