Ganztag: keine Zeit für Freizeit? : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Je älter Jugendliche werden, umso weniger interessant finden sie die Freizeitangebote an Ganztagsschulen. Woran liegt das? Erste Antworten gibt eine neue Broschüre.
Nichtstun, abhängen, chillen … Das tun viele Jugendliche nach der Schule am liebsten. Doch hier stellt sich schon die Frage: Was heißt eigentlich „nach der Schule“, wenn Kinder eine Ganztagsschule besuchen? Geht es um die Zeit nach dem Ende des regulären Unterrichts oder um die Stunden, die zur freien Verfügung stehen, sobald Schülerinnen und Schüler das Schulgelände verlassen haben?
Seit Studien wie jene zur Entwicklung von Ganztagschulen (StEG 2011) oder „Bildungsprozesse zwischen Familie und Ganztagsschule“ (2010) darauf aufmerksam machen, dass die Akzeptanz der Ganztagsangebote am Nachmittag bei älteren Jugendlichen nachlässt, wird noch einmal genauer hingeschaut, wie Jugendliche mit der von Schule organisierten Freizeit zurechtkommen. Auf diesen Aspekt von Ganztag hat sich Regina Soremski vom Institut für Erziehungswissenschaften an der Justus-Liebig- Universität Gießen mit einer neuen Broschüre konzentriert. „Keine Zeit für Freizeit? Ganztagschule im Alltag Jugendlicher“ lautet der Titel, der einen freundlich-kritischen Blick auf einen „jugendgerechten“ Ganztag wirft.
„Vereinbarkeitsprobleme“ von Jugendlichen
Der jungen Wissenschaftlerin war in ihrer Studie „Bildungsprozesse zwischen Familie und Ganztagsschule“, die sie gemeinsam mit Prof. Dr. Andreas Lange am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München durchgeführt hatte, bereits aufgefallen, dass das Verhältnis von Freizeit und Ganztagsschule für einige Jugendliche durchaus spannungsgeladen ist. Ein Ergebnis der Studie lautet: „Ganztagsschule kann mit einer Verdopplung von Freizeitangeboten einhergehen, sodass zunehmend Kompetenzen notwendig werden, die schulische und außerschulische Freizeit zu vereinbaren. Vereinbarkeit gelingt, wenn die schulische Freizeit mit den außerschulischen Freizeitaktivitäten und Peer-Aktivitäten kompatibel ist. Sie gelingt nicht, wenn … es zu einer Trennung des Freundeskreises kommt. Dies wird als Stress erlebt“ (Lange & Soremski 2010).
Für die aktuelle Publikation hat die Autorin sich der Frage angenommen, ob Ganztagsschulen die jugendlichen Bedürfnisse nach Geselligkeit und Freundschaftsbeziehungen sowie selbstständigen Entscheidungen in ihrer Freizeitgestaltung berücksichtigen. Denn trotz aller Bemühungen der Ganztagsschulen, in einem kombinierten Angebot von Unterricht, Freizeit und Lernen alle Aspekte der Lebenswelt Jugendlicher zu einem homogenen Ganzen zu verbinden, scheint Schule für Jugendliche „immer noch ein Gegenpol zu ihrer Lebenswelt“ zu sein, schreibt Regine Soremski (S. 8). „Die Mehrzahl der Jugendlichen“, so die Autorin weiter, „nutzt weiterhin außerschulische Freizeitangebote, wie neuere Jugendstudien zeigen: So waren beispielsweise im Jahr 2012 ca. 67 Prozent der 12 bis 19jährigen Mitglied in einem Sportverein. Dieser wird von den Jugendlichen mindestens einmal pro Woche besucht “ (JIM Studie 2012). Angesichts dieser Zahlen spricht die Autorin sogar von einem „Trend zu einer institutionalisierten Freizeit außerhalb der Schule“.
Sorge um Verlust an freier Zeit
Fragt man Jugendliche selbst, warum sie sich trotz ausgewiesen umfangreicher und attraktiver Ganztagsangebote an Schulen gegen eine Teilnahme an diesen entscheiden, so befürchten sie am häufigsten „einen Verlust an frei verfügbarer Zeit“ (S. 12). Damit sprechen sie den für Jugendliche typischen Konflikt zwischen Autonomie und Kontrolle an. Die Antworten weisen aber auch darauf hin, dass „Freizeit“ und „freie Zeit“ nicht als identisch wahrgenommen werden.
Marco, Fabian und Susi gehören zu den Jugendlichen, denen die Autorin bei der Vereinbarkeit von Schule, von „Freizeit“ in der Schule, institutionalisierter Freizeit im Verein und „freier Zeit“ genauer über die Schulter geschaut hat. Die drei Ganztagsschüler haben ein Online-Tagebuch geführt, auf dessen Grundlage für jeden ein exemplarischer Wochenplan erstellt wurde, der in der Broschüre abgedruckt ist. Aus den Interviews mit anderen Jugendlichen erfahren die Leserinnen und Leser aber auch, dass Jungen und Mädchen eigene Definitionen von Freizeit entwickelt haben. Für Jolie etwa beginnt Freizeit, wenn alle Hausaufgaben zu Hause erledigt sind. Ihre Freundin dagegen empfindet Freizeit, sobald sie nach der Schule zu Hause angekommen ist. Demensprechend ist die Ganztagsschule, die Jolie besucht, für ihre Freundin „der Freizeitkiller überhaupt“.
Entlastung contra „doppelten Stress“
Wenn also Freizeit mit freier Zeit konkurriert, dann brauchen Jugendliche ein „kompetentes Freizeitmanagement“, postuliert die Wissenschaftlerin (S. 23). Sie hält fest: „Die Auswertung der Interviews mit den Jugendlichen zeigte verschiedene Freizeitmuster: Während es den einen gelingt, ihre Freizeitinteressen zu realisieren und Gestaltungsspielräume autonom zu nutzen, habe andere Probleme bei der Koordination ihrer Freizeitaktivitäten.“ In den Interviews wird deutlich, dass Ganztagsschule von vielen Jugendlichen als Entlastung erlebt wird, insbesondere zur Erledigung der Hausaufgaben. Andere erleben Ganztagschule als „doppelten Stress“ (S. 24), weil sie weniger Zeit haben, sich mit Freunden zu treffen. Sebastian wiederum besucht eine gebundene Ganztagsschule und bewertet die umfangreichen Freizeitmöglichkeiten in seiner Schule, insbesondere die Sportangebote, so, dass für ihn persönlich kein Stress entsteht. Er sagt: „Ich … bin auch erst um Viertel vor sechs zu Hause und muss dann manchmal noch lernen und so, aber es ist halt kein Problem, weil ich viel mehr Möglichkeiten habe … Das heißt, ich mach eigentlich ziemlich viel überdurchschnittlich und denk mir, ich verbind‘ das halt dann gleich mit viel Freizeit.“
Neue Herausforderung für Ganztagsschulen
Wenn Jugendliche sich in ihrer Freizeitgestaltung als autonom erleben, dann erleben sie weniger Stress; ganz unabhängig davon, ob sie von morgens bis zum frühen Abend unterwegs sind oder nicht. Sie können mit den vielen verschiedenen Angeboten zur Freizeitgestaltung umgehen und schaffen es, ihre eigenen Bedürfnisse im Blick zu behalten; etwa die nach nicht verplanter Zeit. Die Anregungen der Autorin für eine jugendgerechte Ganztagsschule zielen folglich darauf ab, Kindern und Jugendlichen größtmögliche Autonomie zu gewähren. Gleichzeitig müssten sie jedoch unterstützt werden, um diese Chance zur Autonomie selbstständig und in Einklang mit ihren eigenen Wünschen an eine selbstbestimmte Lebensführung ergreifen zu können.
Regina Soremski hält fest: „Eine Herausforderung sind für jugendliche Ganztagsschülerinnen und schüler weniger die verlängerten Schulzeiten. Vielmehr kommt es auf die Koordination der Aktivitäten und der Freizeit, aber auch auf das unterschiedliche Verständnis von ‚Freizeit‘ an“. Die Autorin sieht hier eine große Chance, Jugendliche in ihrer „selbstbestimmten und altersgemäßen Freizeitgestaltung und Lebensführung“ (S. 27) zu fördern und sie anzuleiten, mit den eigenen Ressourcen bewusst umzugehen.
Fazit: Die knapp 30 Seiten umfassende Broschüre richtet die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf einen Aspekt von Ganztag, der in der Praxis häufig eher privat in den Familien ausgehandelt wird. Was ist Freizeit? Wieviel Schule ist gut und richtig? Wann können Jugendliche einfach einmal das tun, wozu sie Lust haben? Und nicht zuletzt: Welche Kompetenzen brauchen Kinder und Jugendliche, wenn sich Unterricht, Hausaufgaben, Lernen und Freizeit an einem Ort, der Ganztagsschule, konzentrieren? Es ist nur richtig, wenn Lehrkräfte an Ganztagsschulen diese und weitere Fragen reflektieren. Als Anregung dafür ist die Broschüre von Regina Soremski eine empfehlenswerte Lektüre.
Die Publikation „Keine Zeit für Freizeit? Ganztagsschule im Alltag Jugendlicher“ (2013) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördet.
Download:http://www.ganztagsschulen.org/de/6543.php
Weitere Literatur
Regina Soremski & Andreas Lange (2010): Bildungsprozesse zwischen Familie und Ganztagsschule“. München: Deutsches Jugendinstitut. http://www.dji.de/cgi-bin/projekte/output.php?projekt=673 (Zugriff 15.01.14).
Regina Soremski, Michael Urban & Andreas Lange (Hrsg.) (2011): Familie, Peers und Ganztagsschule. Weinheim und München: Juventa.
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