Eltern und Hausaufgaben: höchst ambivalent : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Fast könnte man von einer Hassliebe zwischen Eltern und Hausaufgaben sprechen. Denn fallen sie weg, mischen sich in die Erleichterung andere Gefühle: Eltern fühlen sich von Schule ausgeschlossen.
Schule ohne Hausaufgaben – nicht wenige Eltern und Kinder würden viel darum geben, wenn dieser in vielen Familien zermürbende Bestandteil des Alltags der Vergangenheit angehören könnte. Das Thema ist nicht neu. Seit Jahrzehnten stehen Hausaufgaben und ihr Stellenwert in der Kritik, werden sie immer wieder auch mit drastischen Worten angegangen. Vor sieben Jahren sprach die nordrhein-westfälische Bildungspolitikerin und fünffache Mutter Renate Hendricks in ihrem Buch „Schicksal Schule“ aus, was wohl viele Eltern heimlich denken: „Hausaufgaben sind schlicht und einfach Hausfriedensbruch“.
Soweit würde die Autorin der aktuellen Broschüre „Ganztag ohne Hausaufgaben!?“ sicher nicht gehen, aber auch Dr. Elke Kaufmann schreibt in ihrer Einleitung: „Hausaufgaben – für die meisten Eltern und Kinder bedeuten sie eine täglich wiederkehrende Belastung, die als ebenso notwendig wie gleichermaßen Frust auslösend erlebt wird“.
Hausaufgaben – wirklich notwendig?
Notwendig? Für Familien, deren Kinder Ganztagsschulen besuchen, eröffnen sich erfreuliche Perspektiven. „In letzter Konsequenz stellt sich die Frage, ob Hausaufgaben an Ganztagsschulen überhaupt noch ein zeitgemäßes Modell sein können und wie sie sich durch alternative Übungsmodelle ersetzen sowie in den Unterricht integrieren lassen“, so die Autorin vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Universität Hildesheim und frühere Mitarbeiterin des Deutschen Jugendinstituts München. Sie stellt in der Broschüre Ergebnisse zweier Studien des Deutschen Jugendinstituts sowie weitere Erkenntnisse der Hausaufgabenforschung vor, um der steigenden Nachfrage nach geeigneten Hausaufgabenmodellen und Alternativen entgegen zu kommen. In dem Forschungsprojekt „Die soziale Konstruktion der Hausaufgabensituation“ ging es um unterschiedliche Hausaufgabenmodelle an Ganztagsgrundschulen, in der Studie „Individuelle Förderung an ganztägig organisierten Schulformen im Primarbereich“ konzentriert sich die Wissenschaftlerin auf die bedürfnisorientierte Gestaltung des Ganztags.
Die Autorin unterscheidet folgende Modelle von Hausaufgaben bzw. Übungseinheiten:
- Die klassische Hausaufgabenstunde am Nachmittag, die im Rahmen von Ganztag als rein additive Lösung zu verstehen ist.
- Die flexible Hausaufgabenzeit am Nachmittag, mit der u. a. der individuelle Arbeitsrhythmus der Kinder berücksichtigt wird und Kinder verschiedene Arbeitsformen ausprobieren können.
- Die in den Unterricht integrierten Übungseinheiten, die die herkömmlichen Hausaufgaben ersetzen, allerdings eine Rhythmisierung des Unterrichts voraussetzen.
Der Schwerpunkt der Publikation liegt auf der Integration der Hausaufgabenfunktion in den Unterricht an den Ganztagsgrundschulen, welche somit den Wegfall der Hausaufgaben, so wie wir sie kennen, bedeuten würde. Eingestreute Zitate werfen einen Blick darauf, was sich bei den Hausaufgaben in den eigenen vier Wänden manchmal abspielt: „... und einmal hat er sogar das Angabenblatt im Ofen verbrannt. Und dann habe ich gesagt. So, jetzt reicht es! Wenn das so dramatische Auswüchse annimmt, dann muss man sich eine andere Lösung überlegen. Und dann haben wir eben einen Platz bei der Hausaufgabenbetreuung angefordert ...“ (Zitat einer Mutter, S. 26).
Üben im Unterricht: ein Weg zu chancengerechtem Lernen
Den Schulen, die den Weg der Integration von Übungseinheiten in den Unterricht beschreiten wollen, geht es weniger darum, den häuslichen Stress für die Familien zu minimieren, als vielmehr darum, einen Weg zu mehr Chancengerechtigkeit zu finden. Vor allem Kinder, die zu Hause alleine mit den Hausaufgaben zurechtkommen müssten, profitieren von einer vollständigen Integration der Übungseinheiten in den Unterricht, fasst die Autorin zusammen. Dieser „Profit“ macht sich recht schnell durch individuelle Fortschritte bemerkbar, wie der Fall von Abena zeigt (S. 16). Gestartet mit eher ungünstigen Bedingungen, weil die Eltern kaum Deutsch sprechen, erreichte das Mädchen mit dem Wechsel im dritten Schuljahr an eine Ganztagsgrundschule mit rhythmisiertem Unterrichtsmodell und der vollständigen Integration der Übungseinheiten in den Unterricht die Empfehlung für das Gymnasium.
... und wo bleiben die Eltern?
Was sich in der Broschüre gut nachvollziehbar liest und den richtigen Schritt aus dem familiären Hausaufgaben-Dilemma bedeuten könnte, hat jedoch eine Kehrseite: „Schulalltag ohne Hausaufgaben – und wo bleiben die Eltern?“ So ist ein Kapitel überschrieben, in welchem die Ambivalenz der Eltern angesichts hausaufgabenfreier Nachmittage aufgegriffen wird. Anschaulich wird hier und auch auf den weiteren Seiten, die unter dem Fokus Elternbeteiligung stehen, geschildert, dass die Entspannung zuhause damit einhergeht, dass Eltern sich vom schulischen Leben ihrer Kinder ausgeschlossen fühlen. „Hier liegt sicher eine Herausforderung für Ganztagsschulen“, fasst die Autorin zusammen und zeigt Wege zu neuen Ideen der Elternbeteiligung auf. Ein Beispiel: Lehrkräfte, die keine Hausaufgaben mehr aufgeben, ermutigen Eltern, die gewonnene Zeit zu nutzen, um mit ihrem Kind bestimmte Spiele zur Unterstützung des Lernens zu machen, regelmäßig und ritualisiert vorzulesen oder auf Klassenarbeiten vorzubereiten.
Kommunikation als Herausforderung
Insbesondere in Letzterem „sehen Lehrkräfte nach wie vor einen Aufgabenbereich, der idealerweise innerhalb der Familie abgedeckt werden sollte“ (S. 31). Allerdings: „Um ihre Kinder auf diese Weise unterstützen zu können, müssen Eltern über die schulischen Anforderungen auf dem Laufenden bleiben“, mahnt die Autorin mit Blick auf die Kommunikation zwischen Elternhaus und Schule. Sie weitet den wissenschaftlichen Blick auf die grundsätzliche Zusammenarbeit mit Eltern aus und hält fest: „Elternbeteiligung muss zunehmend auf die Ebene einer konstruktiven Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule gehoben werden und darf keineswegs auf den konfliktbehafteten Teil der Hausaufgabenerledigung reduziert bleiben“ (S. 4).
Dass die Kommunikation zwischen Elternhaus und Schule häufiger, als es allen Beteiligten lieb ist, konflikthaft und spannungsreich ist, wird nicht verschwiegen. Die Autorin nimmt sich insbesondere der Sichtweise der Eltern an und führt aus, welche Haltungen von Seiten der Schule zu kooperativen Verhaltensweisen von Eltern führen und auf welche Ansprache Mütter und Väter eher „allergisch“ reagieren. Dazu ein Beispiel: „Vorschriften und vorgefertigte Lösungen im Umgang mit Hausaufgaben und häuslichem Lernen lösen bei den Eltern eher Abwehr aus“. Zu einer Verhärtung dieser Abwehr kann es insbesondere dann kommen, wenn Eltern hören, dass das, was sie bisher für richtig gehalten haben, falsch sein soll. Die aus den Studien abgeleitete Empfehlung für Lehrkräfte lautet deshalb: Eltern sind insbesondere dann bereit, sich auf eine Zusammenarbeit mit der Schule einzulassen, wenn sie als Partner in die Suche nach Lösungen eingebunden werden.
Hausaufgaben abschaffen: ein Prozess mit Zwischenschritten
Interessant, gut zu lesen und schnell zu erfassen ist das Resümee, welches die Wissenschaftlerin nach Auswertung und Zusammenführung der Ergebnisse aus den beiden Studien zieht. Als „Eckpfeiler auf dem Weg zu Integration der Hausaufgaben in den rhythmisierten Unterricht“ formuliert, bringt sie die wesentlichen Erkenntnisse der Studie auf den Punkt. Danach sollten Lehrkräfte die Neugestaltung des Ganztags und Abschaffung der Hausaufgaben als einen Prozess mit Zwischenschritten angehen, der nicht von heute auf morgen gelingen kann. Mischformen sind bei diesem Prozess Übergangslösungen, die Zeit geben, mit unterschiedlichen Modellen zu experimentieren und die Erfahrungen von Eltern und Schüler einzubeziehen. Gleichzeitig braucht der Ganztag neue Formen der Elternbeteiligung, die mit der Einbeziehung von Übungseinheiten in den Unterricht und somit dem Wegfall der Hausaufgaben umso dringlicher werden.
Die Broschüre „Ganztag ohne Hausaufgaben!? – Forschungsergebnisse zur Gestaltung von Übungs- und Lernzeiten“ ist vierfarbig, umfasst 36 Seiten mit Fotos, Zitaten und Grafiken; Literatur zum Thema Hausaufgaben listet der Anhang auf. Die Broschüre wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von der Stiftung Universität Hildesheim herausgegeben.
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