Buchbesprechung: Evaluation eines Ganztagsschulversuchs : Datum: Autor: Autor/in: Petra Gruner

Veränderungen in Bildungsinstitutionen sollten keine Experimente mit offenem Ausgang sein. Das Thema Evaluation ist daher auch für Ganztagsschulen aktuell.

Der Titel des Buches von Patrice Joachim, Mitarbeiterin des Integrative Research Unit on Social and Individual Development (INSIDE) der Universität Luxemburg, macht neugierig. Evaluationsberichte zur Entwicklung einer einzelnen Ganztagsschule sind selten. Titel und Untertitel signalisieren, dass es auch nicht nur um die Schule geht, sondern ebenso um die Evaluation selbst. Dass die Schule sich im Nachbarland Luxemburg befindet, ermöglicht einen Blick aus der Distanz.

Das 164 Seiten starke Buch, hervorgegangen aus einer Dissertation, besteht aus zehn Kapiteln und reicht inhaltlich von der „Beschreibung des Evaluationsauftrags“ und des Evaluationsdesigns (2, 3) über den Bezugsrahmen der Schulentwicklungsforschung (4) und Rekonstruktionen der Personal-, Eltern- und Schülerperspektive (5, 6, 7) bis zur Evaluationsbilanz und einem kritischen Resümee des eigenen Vorgehens (8, 9).

Schulentwicklung und Evaluation

Evaluation heißt: kriteriengeleitete Überprüfung, ob eine Maßnahme die Erwartungen auch erfüllt. Zugleich ist Evaluation auf der Ebene der Schule ein Instrument der Organisationsentwicklung1. So versteht sie auch die Autorin des Buches, die eine „partizipativ, formativ ausgerichtete Evaluation“ (S. 29), aus der die Beteiligten lernen können, angestrebt hat. Dass sie gleich in der Einleitung mit der Thematisierung „ungeklärter Erwartungen des Auftraggebers“ und „erheblicher Struktur- und Kooperationsprobleme“ (S. 11) ins Haus fällt, lässt ahnen, dass dabei nicht alles glatt verlaufen ist.

Die Jean-Jaurès-Grundschule, eine gebundene Ganztagsschule, die von 7 bis 18 oder sogar 19 Uhr geöffnet ist und auch in den Schulferien Angebote unterbreitet, wurde 2006 als Modellversuch im Auftrag des nationalen Erziehungsministeriums eingerichtet. Die zweijährige Evaluation, nach der entschieden werden sollte, ob der Versuch in die Regelpraxis überführt wird, setzte 2007 ein. Diese zeitliche Verzögerung ist ein Kernthema der Studie. Denn es beeinträchtigt Evaluationen, wenn Ausgangsbedingungen nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren sind.

Im zweiten Kapitel werden dann auch all die Faktoren aufgezählt, die die Evaluation erschwerten, darunter Vorbehalte der Schule, die sich kontrolliert und belastet fühlte, sich dem Vergleich mit anderen Schulen nicht aussetzen wollte usw. Die Studie beschreibt ein veritables Konfliktpotential, das sich bei der Entwicklung zur Ganztagsschule aufgebaut hat. Umso überraschender sind dann einige Ergebnisse: Die Eltern sind sehr zufrieden mit der Schule und würden diese weiterempfehlen. Auch die Schülerinnen und Schüler zeichnen ein positives Bild ihrer Schule. Wie geht das zusammen? Und wenn beides möglich ist, was sagt es über Prozesse der Schulentwicklung einerseits und Evaluationen dieser Prozesse andererseits?

Konzeption, Kommunikation, Kooperation

Für die Evaluation wurden unterschiedliche qualitative Methoden genutzt, um die Sicht aller Beteiligten zu erheben. Die Perspektive des Personals wurde mit einer Methode aus der Lehrer-Aktionsforschung untersucht: Über vier Wochen führten Lehrkräfte und das weitere pädagogische Personal ein fokussiertes Tagebuch, in das sie einmal pro Woche ihre Erfahrungen zu speziellen Themen (Umgang mit Heterogenität, Differenzierung im Unterricht, Kooperation des Personals) eintrugen. Die Eltern wurden per standardisiertem Fragebogen zur Schulzufriedenheit befragt. Die Kinder beschrieben in einem Aufsatz einen „schönen“ und einen „schlimmen“ Tag in ihrer Ganztagsschule (S. 128). Mit der, wie es scheint, ständigen Präsenz der Evaluatorin und der Nähe zum Schulpersonal gibt es auch Elemente teilnehmender Beobachtung.
 

Schwerpunkt der Studie sind die Kooperationsprobleme. Eigentlich hatte die Modellschule fast optimale Ausgangsbedingungen: Das Personal wurde für den Schulversuch extra zusammengestellt. Das Ganztagskonzept haben Lehrkräfte erarbeitet, die sich als Team für die Schule bewarben. Das erweist sich allerdings als entscheidender Knackpunkt:

Die vier Erzieherinnen und Erzieher und ein Sozialpädagoge wurden erst kurz vor Beginn des Modellversuchs gesucht und hatten sich in das Konzept einzuarbeiten, als sie ihre Stelle antraten (S. 77). Sie verfügten über wenig Berufspraxis. In den zwei Jahren kommt es zu einer hohen Fluktuation, der Sozialpädagoge kündigt bereits nach einem Jahr. Dass der sozialpädagogische Bereich als „eher chaotisch und unstrukturiert“ (S. 85) wahrgenommen wird, verwundert dann nicht.

Die Autorin macht für die Kooperationsprobleme besonders drei Faktoren verantwortlich:

Erstens: Die Lehrkräfte haben ein Unterrichtskonzept erarbeitet, während ein außerschulisches Bildungskonzept fehlt. Unterschiedliche pädagogische Vorstellungen und fehlende Berufspraxis stellen sich erst mitten in der Arbeit heraus. Aber auch einfache Ausstattungsdinge (wie Geschirr für die drei Mahlzeiten am Tag oder Seifenspender) wurden im Konzept nicht berücksichtigt. Umständliche Verfahren der Beschaffung kommen hinzu.

Zweitens: Aus den Problemen (Fluktuation, Krankenstände, Ersatzpersonal) wird nicht gelernt: Die neu eingesetzten Erzieher und Sozialpädagogen erfahren wieder erst kurz vorher, dass sie in der Ganztagsschule eingesetzt werden. Krisenmanagement dominiert den Schulalltag, das auch Auswirkungen auf das Lehrerteam hat. Unterricht und sozialpädagogisches Konzept bleiben unverbunden.

Drittens: Die Personal- und Organisationsprobleme lasten auf dem Schulteam. Die Koordination der Schule obliegt in Luxemburg der Gemeinde, eine Schulleitung gibt es nicht. Ist dann auch noch das Verhältnis zwischen Schulpersonal und Gemeinde gespannt, wird das dramatische Bild, das die Autorin von den Schulentwicklungsprozessen zeichnet – „organisierte Verantwortungslosigkeit und paralysierende Schulstrukturen“ (S. 91) – nachvollziehbar.

„Black Box“ Schulentwicklung?

Joachim betont die konzeptionelle Seite des Schulentwicklungsprozesses. Am Schluss zählt sie fünf Fragen auf, die beantwortet sein müssten, bevor eine Ganztagsschule entsteht, von der Frage „Was soll Ganztagsschule sein?“ bis zu Fragen nach bildungspolitischen Zielsetzungen und Erfolgskriterien. Seine „Handlungsempfehlungen“ (S. 146-152) beziehen sich auf Planungsaufgaben (Schulleitbild, Planung der sozialpädagogischen Arbeit, Personalentwicklung und Elternkooperation). Das klingt nach den zuvor beschriebenen Befunden folgerichtig. Und doch bleiben Fragen offen.

Bei der Gegenüberstellung von positiven und negativen Erfahrungen des Schulpersonals (S. 77ff.) halten sich beide immerhin die Waage. Die Autorin sucht selbst eine „Erklärung dafür, dass Kinder sich trotz der Schwierigkeiten im Erwachsenenteam“ (S. 144) an der Schule wohlfühlen und gerne in die Schule gehen, sowohl auf den Unterricht als auch auf Freundschaft, Spaß und Spiel bezogen - was die Elternbefragung bestätigt. Dieser Fragerichtung geht sie aber nicht mehr nach.

Für das Verstehen von Schulentwicklungsprozessen ist das durchaus zentral. Irgendetwas scheint die Jean-Jaurès-Grundschule doch richtig zu machen. Zwar weiß die Schulforschung, dass sich Störungen von Abläufen leichter beobachten (und erklären) lassen als erfolgreiches Handeln. Doch es bleibt auch die Herausforderung, zu ergründen, wann und warum etwas gut läuft, welche Faktoren in welchem Zusammenwirken zu einer ‚guten Schule’ führen, selbst wenn einzelne Abläufe nicht handbuchgerecht erscheinen.

Das Dilemma des Evaluators

Dass die Autorin nicht nur Ergebnisse, sondern die Evaluation selbst(kritisch) darstellt, spricht für die Studie (und kommt nicht alle Tage vor). Das eigene Vorgehen abzuwägen und zur Disposition zu stellen, erhöht sicherlich die Akzeptanz eines Evaluationsberichts. So schildert Joachim die Rollenkonflikte, das „Dilemma des Evaluators“ (S. 157), die sich minimierende Distanz zum Schulpersonal, die „Trennungslinien zwischen Evaluation, Vermittlung und Beratung (verwischen)“ lässt (S. 156), Zeitprobleme, die sich daraus für ihn ergeben. Das Schulpersonal instrumentalisiert die Evaluation auch, um Probleme öffentlich zu machen.

In den geschilderten Prozessen werden sich viele Ganztagsschulen wiedererkennen. Gezeigt wird auch, was Auftraggeber und Evaluatoren möglichst vermeiden sollten, wenn sie eine Evaluation planen. Am Schluss geht Joachim noch einmal auf die Auftraggeber ein: deren mangelnde „Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft“ (S. 152), „Versäumnisse“ und „Planungsfehler“ (S. 153). Aber Auswirkungen hat die Evaluation doch: Ein zweiter Sozialpädagoge wird eingestellt und ein sozialpädagogisches Konzept erarbeitet. Das Personal erhält professionelle externe Unterstützung. Den Erzieherinnen und Erziehern wird ein unbefristeter Arbeitsvertrag zugesagt. Eine koordinierende Leitungsstelle wird geschaffen. Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen Ministerium und Gemeinde werden neu fixiert. Das ist nun wirklich nicht wenig.

Patrice Joachim (2013): Evaluation eines Ganztagsschulversuchs. Die Jean-Jaurès-Grundschule in Luxemburg. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann Verlag.

1Maag Merki, K. (2009). Evaluation im Bildungsbereich Schule in Deutschland. In Widmer, T., W. Beywl & C. Fabian, Evaluation. Ein systematisches Handbuch (S. 158-162). Wiesbaden: VS.
 

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