Bewegung im Ganztag: Da geht noch was : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Bewegung in der Ganztagsschule kann viel mehr sein als "nur" Sportunterricht. Dazu liefert die Studie "Bewegung und Sport in der Ganztagsschule – StuBBS" Fakten und Anregungen.
Mit dem Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland hat sich das Verhältnis zwischen Schule als einem Ort formalen Lernens und Schule als Ort der Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendlichen (informelles Lernen) verschoben. Sport hat dabei einen besonders hohen Stellenwert, wie die in der Studie „Bewegung und Sport in der Ganztagsschule – StuBBS“ referierten Zahlen zeigen. Nach Auswertung bereits vorliegender Forschungsergebnisse durch die Autorinnen und Autoren sowie der quantitativen Ergebnisse von StuBBS (S.43) gibt es durchschnittlich an 78,7% aller Ganztagsschulen Angebote aus dem Bereich Bewegung, Spiel und Sport. Die Schulen der Sekundarstufe I haben daran mit 88,9% den höchsten Anteil. „Damit kann man davon ausgehen“, so die Autoren, „dass Bewegungs- und Sportangebote nahezu flächendeckend an allen Ganztagsschulen vorhanden sind und die Chance für eine über den Sportunterricht hinausgehende Bewegungsaktivierung von Kindern und Jugendlichen durchaus gegeben ist.“
Im Mittelpunkt des Buches zur Studie stehen die Ergebnisse aus den Forschungsfeldern „Organisation und Konzepte bewegungsorientierter Ganztagsschulen“, „Entwicklung und Gestaltung einer bewegungsorientierten Schulkultur“ und „Bewegtes Unterrichten im gesamten Fachunterricht der Ganztagsschule“. Die Ergebnisse können sowohl Ganztagsentwicklung als auch Ganztagsschulforschung unterstützen und anregen.
Argumentationshilfen gegen Bedenkenträger
Die Forschungslage zum Thema Bewegung im Ganztag war beim Start der Studie insgesamt recht überschaubar, so fassen die Autoren zusammen, nachdem sie die bis dahin vorliegenden Daten ausgewertet hatten. Mit StuBSS ist nun eine umfangreiche und grundlegende Studie veröffentlicht, aus der Wissenschaft, Verwaltung und Praxis Folgerungen für eine bewegungs- und sportorientierte Schulentwicklung ziehen können. Auf fast 600 Seiten werden nicht nur die Forschungen vergangener Jahre rezipiert, die Ergebnisse von StuBBS werden auch in einem größeren Rahmen eingebettet. Das Selbstverständnis von Ganztagsschulen kommt ebenso zur Sprache wie das Thema Inklusion. Die Bedürfnisse von Heranwachsenden in ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe werden dabei referiert, auch kommen Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte in Befragungen zu Wort.
Nicht selbstverständlich, aber sehr aufschlussreich: Die Autorinnen und Autoren diskutieren Sport und Bewegung immer auch in ihren Bezügen zu den Bildungspotenzialen von Schulen und zu den Werten, die einer Gesellschaft für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wichtig ist beziehungsweise sein sollte. Dazu gibt es – offensiv, aber auch zwischen den Zeilen herauszulesen – Argumentationshilfen gegen die Befürchtungen von allzu ängstlichen oder abwehrenden Eltern wie Lehrern; etwa dann, wenn die Verfasser anführen, dass Klettern inzwischen als Unfallprävention verstanden wird, nicht als Unfallrisiko.
Ganztag: Verantwortung für Bewegung
Die Studie fragt insgesamt danach, wie eine Ganztagsschule mit der verfügbaren Zeit in Bezug auf Körperlichkeit und Bewegung umgeht. Den Autorinnen und Autoren arbeiten heraus, dass Schule mit der Verlängerung des Schultages eine über die Halbtagsschule hinausgehende und damit neue Verantwortung für Bewegung, Spiel und Sport erhält. Schule ist heute – ganz anders als noch vor wenigen Jahrzehnten – für das gesamte Angebot verantwortlich, welches Kinder und Jugendliche bis in den Nachmittag hinein zur Verfügung steht.
In diesem Zusammenhang ist es nicht unbedeutend für die Konzeption von Ganztagsschule, „ob Bewegung als sportliche Aktivität am Nachmittag, als Gestaltungsprinzip, als Kompensationsmöglichkeit zum Sitzunterricht, als motorische Förderung oder als eigenständige Bewegungsbildung verstanden wird“, wie einer der Autoren, Professor Dr. Ralf Laging von der Universität Marburg 2013 auf einem Symposium der Uni Passau betonte, als er dort StuBBS vorstellte. Ein Ergebnis der Studie lautet denn auch ganz klar: Schulen, die eher innovative Konzepte wie offene Unterrichtsformen, Rhythmisierung des Tages oder Kooperationsbereitschaft verfolgen und einen gebundenen Ganztag gestalten, integrieren mehr Bewegung, Spiel und Sport in den Schultag als dies bei additiven Konzepten der Fall ist.
Grundsätzlich jedoch bestätigt StuBSS einen Umstand, der zwar vielen Eltern ein Dorn im Auge ist, aber nicht genügend Eltern, als dass aus dieser Unzufriedenheit ein ernstzunehmender Druck entstehen könnte. Immer dann, wenn eine Schule in ihrer Unterrichtsorganisation unter Stress gerät, wird das Thema Bewegung in den Hintergrund geschoben (S.196). Dies geschieht vor allem dort, wo Bewegung mit Sport gleichgesetzt wird. An solchen Schulen fühlen sich Lehrerinnen und Lehrer, die keine Sportlehrer sind, für Bewegung nicht zuständig. Dazu ein Zitat aus der Befragung von Lehrerinnen und Lehrer: „Ich würde mir wünschen, dass jeder Kollege bei sich selber einmal anfängt und einfach mal überprüft, was könnte er denn machen(…) und das kriegen wir einfach nicht hin(…)“ (S.197). Ebenso stiefmütterlich wird Bewegung dort behandelt, wo konzeptionelle Ideen zur Integration von Bewegung in den Ganztag fehlen: In den „wenigsten Schulen“ finde „bisher tatsächlich eine bewusste Einbindung von Bewegung statt“ (S.201).
Der Schulhof: ein Sozialraum, der täglich besucht wird
Da stellt sich zwangsläufig die Frage, wo Schule – bei allen Anforderungen, die sie im Blick behalten muss – Bewegung wie selbstverständlich und ohne viel Aufwand in den Alltag implementieren kann. Im Rahmen der Studie hat Ahmet Derecik die sozialräumliche Aneignung von Schulhöfen untersucht (ab S. 289). Tabellen erläutern übersichtlich, Kinder welchen Alters und welchen Geschlechts sich welche Schulhofräume aneignen. Derecik diskutiert dabei unter anderem die Vor- und Nachteile von fest montierten Spielgeräten sowie die Vorlieben von Mädchen und Jungen, sodass die Leserinnen und Leser der Studie fundierte Informationen darüber bekommen, wie ein Schulgelände vielen verschiedenen Ansprüchen gleichzeitig gerecht werden kann.
Ein Ergebnis lautet etwa: Einen hohen Aufforderungscharakter, sich zu bewegen, bieten Bäume, liegende Baumstämme, Lastwagenreifen und naturbelassene Gelände mit Büschen und naturnahe Nischenflächen mit mobilen Materialien für Jungen und Mädchen gleichermaßen. Derecik fordert: „Ganztagsschulen sollten sich (…) insgesamt der Lebenswelt ihrer Schüler(innen) öffnen und sich zunehmen als Sozialraum begreifen. Der Schulhof kann hierfür einen besonderen Beitrag leisten, denn er ist für die meisten Heranwachsenden der größte Sozialraum, der zudem fast täglich besucht wird“ (S. 316).
Eine Ausnahme: Ganztag als Zeitgewinn für Bewegung
Während sich der Zusammenhang zwischen Sport, Bewegung und Schulhof noch leicht nachvollziehen lässt, fällt dies schwerer, wenn es um „bewegtes Unterrichten im gesamten Fachunterricht der Schule“ geht, einem der Forschungsfelder der Studie. Reiner Hildebrandt-Stramann beschreibt die positiven Besonderheit von vier Schulen, die zu den insgesamt 21 untersuchten Ganztagsschulen der Studie gehören: „Alle Zeitkonzepte sind durchdrungen und geprägt von dem Gedanken der Harmonisierung von Lern- und Spielzeit, von Anspannungs- und Entspannungsphasen, von Belastungs- und Erholungs- sowie von Sitz- und Bewegungszeiten. Der Ganztag wird grundsätzlich als Zeitgewinn, auch für Bewegung, gesehen. “ (S. 435).
Insgesamt unterteilt und beschreibt der Autor vier Schultypen auf Grundlage der Kategorien Raum, Zeit und körperliche Aufführungspraxis. Dabei fällt auf, dass es ausgerechnet in dem Typ „Sportorientierte Leistungsschule“ eine strikte Trennung in Kopf- und Bewegungsfächer gibt, eine instrumentelle Lernkultur vorherrscht sowie keine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit dem Sport und seinem Körperbild stattfindet, stattdessen „Disziplinierung des Körpers zum Sitzen und Zuhören im Unterricht“ beobachtet wurde(S.459).
Wenn man so will, kann man einen Satz aus den letzten Seiten der Publikation als bildungspolitische Leitlinie der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betrachten: „Versteht man Bewegung in erster Linie als ein Medium, über das junge Menschen einen Erkenntniszugang zur Welt erhalten, dann kann man Bewegung und Sinnlichkeit bei der Gestaltung einer Schul- und Unterrichtskultur nicht übergehen.“ (S.575)
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