Schwierige Kinder - im Ganztag normal? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Fast jede Lehrkraft kennt sie - und ihre Zahl nimmt zu: Die so genannten "schwierigen Kinder", die am Rande der Erziehungsschwierigkeit wandeln und jeden Unterricht durch Stören, Verweigerung oder Aggression behindern können. Verschafft der Ganztagsbereich bessere Möglichkeiten, diese Kinder einzubinden, ihnen zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen? Was leisten Ganztagsschulen zur Prävention von Verhaltensauffälligkeiten und Aggressionen?

Fast jede Lehrerin und jeder Lehrer hat mit ihnen im Unterricht zu tun: Kinder und Jugendliche, die durch Stören, Verweigerung und Aggression gegen Sachen oder Mitschüler den Unterricht extrem behindern oder sogar unmöglich machen. Die Zahl dieser "Kinder in schwierigen Lebensphasen" nimmt kontinuierlich zu, wie Lehrkräfte bestätigen. Verhaltensauffällige Kinder werden auch immer jünger: "Nach nur drei Wochen ist in unserer Schule für einen Erstklässler der Antrag auf Aufnahme in einer Schule für Erziehungshilfe gestellt worden", berichtet eine nordrhein-westfälische Grundschullehrerin.

Viele Pädagogen wissen sich nicht anders zu helfen, als diese Schülerinnen und Schüler aus dem Unterricht zu nehmen oder sie an eine andere Schule zu verweisen. Für die Lehrerinnen und Lehrer mischen sich dann Erleichterung mit Unbehagen: Zwar ist man einen "Kracher" los und kann wieder mit dem Tagesgeschäft Unterricht fortfahren, andererseits ist man sich aber bewusst, dass dem Kind oder Jugendlichen damit nicht geholfen ist - häufig wird das Problem nur an andere delegiert, die aufgrund mangelnder Personal- und damit Zeitressourcen wieder vor denselben Schwierigkeiten stehen.

Der "Beziehungsauftrag" für schwierige Kinder

Ganztagsschulen sollen allen Schülerinnen und Schülern die beste individuelle Förderung ermöglichen - also auch den "schwierigen Kindern".
Dabei ist "unstrittig, dass die offenen Ganztagsgrundschulen in Nordrhein-Westfalen mit ihren breit gefächerte Angeboten ein Gegengewicht setzen und somit eine korrigierende Hilfe" sein können, findet Wolfgang Oelsner, Leiter des Bereichs Schule in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität zu Köln. "Für Kinder in schwierigen Lebenssituationen muss der Beziehungsauftrag in der Ganztagsschule im Vordergrund stehen."

Wolfgang Oelsner hielt den Eröffnungsvortrag auf der Fachtagung "Schwierige Kinder - im Ganztag ganz normal?", die am 25. und 26. August 2006 in Münster vom Landesjugendamt beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe und dem Institut für soziale Arbeit veranstaltet wurde. "In 35 Berufsjahren habe ich viele Gutachten für erziehungsschwierige Kinder gesehen - dort wird fast immer mit Kernbegriffen wie ,kleine Schritte', ,Individualisierung' und ,Differenzierung' gearbeitet. Diese finden sich heute nun in den Werbebroschüren zur Ganztagsschule wieder."

"Ganztagsschulen sind ein Segen für schwierige Kinder", so Wolfgang Oelsner, der Leiter des Bereichs Schule in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität zu Köln.

"Basale Dinge liegen im Argen"

Der Gesellschaft sei aber bewusst - so Oelsner -, dass "basale Dinge im Argen liegen". Die zunehmende Zahl psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sei der Ausdruck von Vereinsamung, Überforderung, Bewegungsarmut und Reizüberflutung durch die Medien. "Vereinfacht gesagt sind Ganztagsschulen schon deshalb ein Segen, weil viele Schülerinnen und Schüler auf diese Weise mittags keine Chips und Cola zu sich nehmen und den Fernseher erst ab 17 Uhr anstellen können", so der Pädagoge.

Die Ganztagsangebote sind laut Oelsner das "plus x", das aus einer Schule eine besondere Schule werden lässt: In Ganztagsschulen gäbe es besondere Möglichkeiten zur Kooperation mit außerschulischen Partnern. "Gerade beim Umgang mit erziehungsschwierigen Kindern brauche ich Fachwissen - und dieses erhalte ich durch den interdisziplinären Austausch. Pädagogik und Sonderpädagogik sind da kein Widerspruch".

Hilfe und Prävention durch Ganztagsangebote

Politik und Gesellschaft dürften allerdings nicht erwarten, dass die Ganztagsschule aus schwierigen Kindern einfache mache. "Die Schwierigkeiten, die wir sonst bis 12 Uhr haben, haben wir jetzt bis 16 Uhr", heißt es jetzt in so mancher Ganztagsschule. Aber Oelsner ist überzeugt davon, dass die Ganztagsschule sich hinsichtlich der Prävention als "unvermeidlich" erweise und Probleme lösen werde, die zu lange ignoriert worden seien: "Es wird dann weniger schwierige Kinder geben".

Dass mit dem Thema ein Nerv getroffen wurde, zeigte sich schon an den Anmeldezahlen: "Wir haben 58 Namen auf der Warteliste", so Dr. Wolfgang Thoring vom Landesjugendamt, "wir könnten diese Veranstaltung also locker noch mal anbieten." Die rund 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die überwiegend einen Jugendhilfe-Hintergrund hatten, erhofften sich natürlich Tipps und Kniffs zum Umgang mit "schwierigen Kindern".

Stellvertretend für viele der Anwesenden klagte eine Sozialpädagogin: "Ich habe am Nachmittag 25 Kinder in einer Gruppe, die ich beaufsichtigen muss, dazu stehen mir noch zwei Ein-Euro-Kräfte zur Verfügung - da kann ich mich unmöglich um einzelne Kinder kümmern." Konsens auf der Tagung war, dass mit mehr Personal die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern erleichtert würde und man ihnen gerechter werden könnte. Eine Möglichkeit besteht zum Beispiel im Einstellen von Schulbegleiterinnen und -begleitern: "Ich bin vom Förderverein angestellt und von 9.30 bis 14 Uhr in der Schule anwesend. Wenn es Probleme gibt, werde ich dazugeholt. Ich suche auch den Kontakt mit den Eltern und mache Hausbesuche. Die Resonanz ist seit vier Jahren großartig, so etwas sollte jede Schule haben", berichtete eine Schulbegleiterin von ihren Erfahrungen vor Ort.

Die Tür zur Lebenswelt schwieriger Kinder

"Die Finanzierung von Projekten ist ein mühsames Geschäft - aber es ist möglich. Wir zeigen, dass es immer weitergeht - ob mit Stiftungen, mit Kommunen oder Landschaftsverbänden", schickte Detlef Heidkamp seiner Arbeitsgruppe "Schwierige Kinder - was tun in der Praxis?" voraus. Der Leiter der Jugendkunstschule im Kreativhaus Münster wirbt dafür, Kunst als Mittel des Zugangs auch zu schwierigen Kindern wahrzunehmen. Seit drei Jahren arbeitet das Kreativhaus mit zwei offenen Ganztagsgrundschulen in Münster zusammen.

"Wichtig ist bei allen Projekten, dass sie an die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen anknüpfen und diese dann in allen Phasen beteiligt werden", so Heidkamp. "In der Wir-Werkstatt zum Beispiel stehen positive Elemente, die Potenziale und Fähigkeiten, die in einer Gruppe vorhanden sind, im Vordergrund. Nicht Schwächen und Defizite werden thematisiert, sondern vielmehr die Stärken eines jeden einzelnen hervorgelockt und eingebracht."

Sylivia Schwab, Theaterpädagogin, und Detlev Heidkamp, Leiter der Jugendkunstschule im Kreativhaus Münster.

Auf die Stärken kommt es an

Die Theaterpädagogin Sylvia Schwab will mit ihrer Arbeit in Ganztagsschulen die Persönlichkeitsbildung der Kinder und Jugendlichen stärken: "Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, Gefühle auszudrücken, neue Handlungsmöglichkeiten zu erproben, Phantasie zu entwickeln, Sprache, Mimik und Gestik zu entdecken." Am Anfang ihrer Arbeit in der offenen Ganztagsschule habe sie lernen müssen, dass das Fachliche erst mal ganz weit nach hinten gerückt werden müsse, um überhaupt einen Zugang zu den mitunter sehr schwierigen Kindern zu finden. Dies habe zum Teil Jahre gedauert, aber die Erfolge bestätigen ihren Ansatz: Stille Kinder würden sich öffnen, aggressive Kinder ihr Temperament zügeln.

Im "Unterricht in Rollen" entwerfen die Schülerinnen und Schüler eine von der Pädagogin angestoßene Geschichte, zu der jeder seinen Teil beiträgt, der von der Gruppe akzeptiert werden soll. "Hyperaktive Kinder steuern hier ihre überbordende Phantasie bei. Meine Aufgabe ist es dann, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht übermäßig in den Vordergrund drängen", so Schwab. Mit Improvisationstechniken probieren die Schüler andere Haltungen aus, im "Theater der Unterdrückten", einer aus Brasilien stammenden Spielmethode, stellen sie Szenen aus ihrem eigenen Leben dar, auch in anderen Rollen: "Der Perspektivwechsel regt sie zum Nachdenken an", erklärt die Theaterpädagogin.

Vom Training klarer Regeln zur Kreativität

Ähnliches bestätigt auch Natascha Simanski, die als Kunsttherapeutin an der Paul-Dohrmann-Schule in Waltrop gearbeitet hat. Es gebe viele Möglichkeiten, kreativ zu sein. Wichtig sei aber, dass mit den Schülerinnen und Schülern von Anfang an Verhaltensregeln geklärt würden und Verstöße gegen diese Regeln sofort geahndet würden. Zumindest in ihrer Schule akzeptierten die Kinder die Regeln, so dass die Konzentration auf dem jeweiligen Schaffensprozess liegen könne. "Das Produkt, das am Ende herauskommt, ist nebensächlich und soll auch nicht bewertet werden", meint Natascha Simanski. "Wichtig ist der Weg dahin: Die Kinder sollen die Erfahrung machen, dass sie über eigene kreative Kräfte verfügen, und dass sie ihre Befindlichkeiten erspüren und ausdrücken lernen. Dadurch steigern sie ihr Selbstwertgefühl und finden Ruhe im schöpferischen Schaffensprozess." Zwei verhaltensauffällige Schüler seien zum Beispiel ganz in der Aufgabe aufgegangen, an einem großen Action-Painting-Bild zu arbeiten, auf das á la Jackson Pollock die Farben mit Hilfe von Spritzen aufgetragen wurden.

Eine andere Möglichkeit, mit schwierigen Kindern zu arbeiten, stellte Heike Huneke vom Friedrich-Wilhelm-Stift in Hamm vor: Seit 15 Jahren ist die Erlebnispädagogin an der Grundschule tätig und gibt zu: "Ich weiß nie, wie die Stunde wird." Ob freies Spiel in selbst gewählten Aufbauten oder in vorgegebenen "Bewegungsbaustellen" - wichtig sei es, dass das Brechen von Regeln sofortige Konsequenzen nach sich ziehen muss und dass die Kinder für Erreichtes gelobt werden: "Viele kennen das doch gar nicht, gelobt zu werden - die laufen rot an."

Mit der Erlebnispädagogik wecke man die spielerische Lust auf Abenteuer und sorge für ein Gruppengefühl. "Beim Spielen geht es nicht ums Gewinnen, sondern darum, etwas gemeinsam zu erreichen. So bekommen auch schwierige Kinder ihre Wertigkeit", berichtet die Erlebnispädagogin. Dies könne man ebenso durch so genannte Bossstunden, in denen jeweils ein Mädchen oder ein Junge bestimmen darf, wie die Stunde abläuft, aber auch zusehen muss, wie sie oder er Konflikte innerhalb der Gruppe löst. "Das sind Prozesse, die über zwei bis drei Jahre ablaufen", meint Heike Huneke. Für sich genommen seien Erlebnis-, Theater- oder Kunstpädagogik zwar nur "kleine Bausteine, aber sehr wirkungsvoll".

 

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