Reiselust durch Ganztagsschulen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

In der Ferienzeit sind viele Kinder und Jugendliche auf sich allein gestellt. Welche Bedeutung haben Kinder- und Jugendreisen für die Persönlichkeitsentfaltung? Ganztagsschulen eröffnen im Verein mit der Jugendhilfe auch für die Ferienbetreuung neue Perspektiven. Dies verdeutlichte die Fachtagung "Wohin geht die Reise? - Neue Jugendreisepädagogik: Chancen für Schule und Jugendarbeit" des BundesForums Kinder- und Jugendreisen e.V. am 26. und 27. November 2007 in Bonn.

"Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen. Sonst reisten bevorzugte Individuen, jetzt reist jeder und jede", schrieb Theodor Fontane 1871. Und heute: "Die Deutschen bleiben Reiseweltmeister - trotz stagnierender Einkommen und höherer Ausgaben. Nach einer Studie haben Urlauber im vergangenen Jahr so viel für Reisen ausgegeben wie nie zuvor", meldet eine Nachrichtenagentur am 15. Januar 2008.



Entgegen diesem Trend sind viele Kinder und Jugendliche noch nie in den Genuss einer Reise gekommen. Nicht wenige haben niemals ihr Stadtviertel verlassen. Klar ist für Prof. Klaus Schäfer, Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration: "Reisen bildet und schlägt Brücken." Und zwar Brücken zu anderen Menschen, fremden Sprachen und Kulturkreisen. Die Schulen und die Jugendreisepädagogik müssten sich angesichts der Auswirkungen von Globalisierung, Migration, demographischem Wandel, Kinderarmut und Gesundheitsproblemen auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen neuen Aufgaben stellen.

Worin besteht das Neue der Jugendreisepädagogik? "Zum einen muss verdeutlicht werden, was Erlebnispädagogik ist, zum anderen muss für den Kunden klar erkennbar sein, welche Anbieter erlebnispädagogische Programme und Klassenfahrten durchführen und nicht nur ,einzelne Abenteuer' anbieten", heißt es in der Pressemeldung zur Fachtagung.

Eine Szene aus Ertan Erdogans Dokumentarfilm "Vatan" (zu deutsch: Heimat).

Finanzierungsprobleme: "Öffentliche Förderung bei Null"

Angesichts knapper öffentlicher Kassen standen in Bonn nicht nur die Inhalte, sondern auch Fragen der Finanzierung im Vordergrund. "Schließlich ist öffentliche Förderung in vielen Gemeinden drastisch zurückgegangen", stellte Stefan Riese fest. Ein Blick auf das Beispiel Köln: "Hier ist die öffentliche Förderung bei Null angekommen", so Reinhilde Biefang vom Jugendamt der Stadt Köln. Die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen konzentrierten sich auf die Unterhaltung von Kindertagesstätten sowie die Finanzierung des sozialpädagogischen Dienstes im Rahmen der Jugendhilfe. Dagegen gehören Ferienprogramme sowie kulturelle Bildung, geschlechtsspezifische Erziehung oder Suchtprävention zu den freiwilligen Leistungen des Jugendamtes.



Früher, wenn die Ferienzeiten vor der Tür standen, erstickte Reinhilde Biefang buchstäblich an der Flut der Elternanfragen. Daraufhin erstellte die Stadt Köln ein Informationsangebot, das im Internet preisgünstige Ferienangebote aufbereitete. "Allerdings kommen meist  diejenigen zum Zuge, die am schnellsten sind und das Angebot gar nicht nötig haben", so die Sozialpädagogin.



Kooperationspartner Kommune

"Um den Mangel an öffentlichen Geldern zu kompensieren, brauchen wir die Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe." Insbesondere die informellen Kontakte sind aus Sicht der Sozialpädagogin Wegbereiter für Kooperationen mit der Jugendreisepädagogik. Die Anbieter von Kinder- und Jugendreisen müssten feste Ansprechpartner in den Schulen gewinnen.

Die Vorteile einer organisierten Ferienbetreuung haben auch die Arbeitgeber in der Kommune erkannt. Gut betreute Kinder erhöhen die Arbeitszufriedenheit berufstätiger Eltern, außerdem entlasten sie die Eltern finanziell. So bietet einer der größten Arbeitgeber in Köln den Kindern seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Ferienprogramm an, das die Bedürfnisse der Kinder und Eltern ernst nimmt. Kooperationen mit der örtlichen Stadtverwaltung vertiefen diese Aktivitäten. Auch die Bundesbehörden sind als Kooperationspartner für die Ferienbetreuung in den Blick der Kommune gerückt.

Zentrale Ansprechpartner und Türöffner für die Jugendreisepädagogik sind laut Biefang die örtlichen Jugendämter, städtische Schulpflegschaften, interkulturelle Dienste im Stadtteil oder Sozialraumkoordinatoren, die die Jugendhilfeangebote verknüpfen. Ansprechpartner sei auch das Regierungspräsidium Köln, das für die Ferienbetreuung der Kinder und Jugendlichen einen finanziellen Zuschuss gewährt. In Köln habe die Betreuung der sechs bis zehnjährigen Kinder große Priorität. In diesem Rahmen stehe ein Etat von 500.000 Euro für die Feriengestaltung in den Offenen Ganztagsgrundschulen zu Verfügung.

Neue Ferienangebote in der Offenen Ganztagsgrundschule

Die Träger der Offenen Ganztagsgrundschulen seien schließlich verpflichtet, während der Ferienzeiten ein Freizeit- und Ferienprogramm anzubieten. Das betrifft immerhin rund 50 Prozent aller Grundschulen in Köln, die ab dem Schuljahr 2007/2008 einen Ganztagsplatz anbieten.

In den Offenen Ganztagsgrundschulen sind Ferienangebote verpflichtend. Auch für die Sekundarstufe I gibt es für rund 80 Gruppen mit 15 bis 20 Kindern die Möglichkeit, freizeitpädagogische Angebote aufzubauen. Insbesondere benachteiligte Kinder und Jugendliche sollen dabei laut Biefang durch Bezugspersonen intensiv gefördert werden. Das Problem vieler Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern besteht nicht zuletzt darin, dass das Kindergeld häufig gar nicht erst bei ihnen ankommt.

Im Brennpunkt der neuen Jugendreisepädagogik stehen Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien und insbesondere jene mit Migrationshintergrund. In Köln beträgt deren Anteil über 40 Prozent. Die Kinder und Jugendlichen stammen hier Biefang zufolge aus 178 Nationen, wobei die Mehrzahl aus der Türkei stamme, gefolgt von den Spätaussiedlern.

Um die Migranten für die Ferienpädagogik zu gewinnen, führt an der Elternarbeit und Elternnetzwerken kein Weg vorbei: "Die Eltern haben einen großen Informationsbedarf über Strukturen, Inhalte und Ziele der Offenen Ganztagsgrundschulen", erläuterte Biefang. Viele wüssten nicht einmal darüber Bescheid, wie eine Kindertagesstätte, das Schulsystem oder die Berufsausbildung funktionierten. Für die Jugendreisepädagogik seien sie oft "nur schwer zu gewinnen."  

Kicken, multikulturelles Essen, Dialogbereitschaft

"Man muss die Eltern und Kinder ernst nehmen und rechtzeitig einbeziehen" empfiehlt Elena Vllasalija, pädagogische Fachkraft im Rahmen des Offenen Ganztags an der Förderschule Pulheim. Als Griechin in Deutschland ist sie bereits seit vielen Jahrzehnten das Leben in zwei Kulturkreisen gewöhnt. Die Mutter zweier Kinder verlässt sich gerne auf ihre Intuition, wenn es darum geht, Kontakt zu den Kindern und Eltern aufzubauen, etwa im Feriencamp der "Soccer Juniors Fußballschule" in Pulheim.

Die Ferien-Fußballschule "Soccer Juniors" bietet Kindern im Alter von sechs bis 12 Jahren die Möglichkeit, ohne Leistungsdruck das ABC des Fußballs zu erlernen. In kindgerechter Ferienatmosphäre vermitteln die Sportstudenten Julius Büscher - heute Torwarttrainer der Fußballjugend beim 1.FC Köln -, Johannes Kemming und Michael Küpper, was guten Fußball ausmacht. Die Fußballschule zieht Kinder aus ganz Köln und angrenzender Umgebung an.

Migranten helfen Migranten


Vllasalija plädiert dafür, die Integrationsbereitschaft der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wahrzunehmen. Viele seien sehr an der deutschen Kultur interessiert. Förderlich sei eine Ganztagsbetreuung, die den Kindern einen geschützten Raum von 6:00 Uhr bis 18:00 Uhr ermögliche und diesen ein gesundes Frühstück und sogar ein Abendessen garantiere sowie Erholung und Hausaufgabenbetreuung. Da viele Eltern überfordert seien, bietet sie ab Januar 2008 an der Förderschule Brauweiler ein Frühstücksbuffet an: "Auch, wenn ich um 5:00 Uhr morgens aufstehen muss, Hauptsache ich weiß, dass die Kinder ausreichend gegessen haben."



Gerade bei der Ferienbetreuung der Mädchen mit Migrationshintergrund sind die Eltern aus Sicht von Vllasalija unbedingt einzubeziehen: "Man muss ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern herstellen", so die Griechin. "Um die Eltern ins Boot zu holen, empfehle ich reine Mädchengruppen zu bilden", sagt die griechische Sozialarbeiterin. In Griechenland sei das ganz normal. Auch die Stadt Pulheim, die für eine Woche Ferienbetreuung lediglich 62 Euro verlangt, habe damit gute Erfahrungen gemacht.

 

Wissenschaftler diskutieren die Anforderungen an eine neue Jugendreisepädagogik.

Forschung zur Erlebnispädagogik



"Was macht Erlebnisse wertvoll?"  fragte Prof. Eckart Balz von der Bergischen Universität Wuppertal: "Erlebnisse sind besonders eindringliche und affektiv getönte Wahrnehmungen von spannungsreichen Momenten menschlichen Handelns", so die Definition des Sportpädagogen. Sie seien Situationen der Bewährung mit offenem Ausgang. Im Schulsport fallen solche Erlebnisse beispielsweise unter die Formel "etwas wagen und verantworten".



Dieser biete eine einzigartige Chance, gegenseitiges Vertrauen innerhalb einer Gruppe aufzubauen, erläuterte Eckart Balz. Jugendreisepädagogik solle zur Stärkung der Eigenverantwortung der Kindern und Jugendlichen beitragen. Sie bilde auch die Voraussetzung für Erlebnisse, die die Klassengemeinschaft und den Einzelnen in seiner Persönlichkeit erst festigen.

 

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