Ostseegymnasium Rostock: "Ganztägige Angebote sind Bildungsangebote" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Vom 17. bis 19. Juni 2009 besuchte das Thematische Netzwerk "Schulentwicklung" Rostock. Gastgeberschule war das Ostseegymnasium, eine gebundene Ganztagsschule im Stadtteil Evershagen. Das Engagement der Schülerinnen und Schüler, die Rhythmisierung, 90-minütige Lerneinheiten und die zahlreichen Angebote am Nachmittag beeindruckten die Besuchergruppe.
Gerald Tuschner ist dieser Aspekt wichtig - daher wiederholt er ihn im Lauf des Besuches der Hospitationsgruppe des Thematischen Netzwerks "Schulentwicklung" an seiner Schule: "Ganztägige Angebote sind Bildungsangebote." Sein Ostseegymnasium Rostock im Stadtteil Evershagen arbeitet seit dem Schuljahr 2006/2007 als gebundene Ganztagsschule. Die zusätzliche Zeit wird für ergänzende Bildungsangebote für die Schülerinnen und Schüler genutzt.
Bildung im Ostseegymnasium heißt nicht zwangsläufig mehr Unterricht, sondern umfasst zum Beispiel auch das Erstellen von Beiträgen für den Lokalfernsehsender Rock TV, das Planen von gesundem Frühstück im Rahmen der "Gesunden Schule" und "Agenda 21"-Schule oder das Entwerfen eigener Geschäftsideen im JUNIOR-Programm des Instituts der deutschen Wirtschaft.
Seit knapp drei Jahren ermöglicht das Thematische Netzwerk "Schulentwicklung" im Rahmen des IZBB-Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" in wechselnder Besetzung Schulleitungen und Lehrkräften aus sechs Bundesländern, Ganztagsschulen zu besuchen. Die vom 17. bis 19. Juni 2009 stattfindende Reise nach Rostock war die vierte und vorerst letzte des Netzwerks, an dem rund 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mitwirkten.
Sie alle waren sich einig, dass - wie auch in vielen anderen Schulen - die Schulleitung eine entscheidende Rolle im Schulentwicklungsprozess spielt. Gerald Tuschner verbreitete Optimismus und Tatendrang - selbst noch während des Hospitationsbesuchs, als der Schulleiter um die Zukunft seines Gymnasiums bangen und ringen musste.
Von der offenen zur gebundenen Ganztagsschule
343 Schülerinnen und Schüler lernen am Ostseegymnasium von der 7. bis zu 12. Klasse. Zum kommenden Schuljahr sind mit 31 Anmeldungen zu wenige für die Eingangsklasse eingegangen. Die sowieso schon vorgesehene Kooperation mit der benachbarten Regionalen Schule "Ehm Welk" soll daher um ein Jahr vorgezogen werden, um später in der gemeinsamen Kooperativen Gesamtschule auf der gymnasialen Seite den Anschluss zu sichern. "Statt auf eine andere Schule, wechselt man bei uns nur die Klasse", schildert Tuschner den Vorzug dieser Schulform, die aber natürlich nur funktionieren kann, wenn die Parallelklassen auch vorhanden sind.
Um dies zu gewährleisten, müssen die beiden Schulen schneller als geplant zum "SchulCampus Evershagen" zusammenwachsen - wogegen sich auf einmal Widerstand in der Regionalen Schule formierte, die sich nicht zum "Retter des Gymnasiums" degradiert sehen will. "Man kann so gut sein, wie man will - von außen kann man immer zu Fall gebracht werden", hadert Tuschner mit den Umständen.
Austausch der Besuchergruppe mit Schulleiter Gerald Tuschner
Aus Unzufriedenheit mit den "Halbheiten" der seit 2003 eingeführten Offenen Ganztagsschule hatte sich das Kollegium 2005 entschieden, die gebundene Form einzuführen. Zwar waren sich die Lehrerinnen und Lehrer bei Einführung der Offenen Ganztagsschule bewusst gewesen, mehr als nur Unterricht anbieten zu wollen, auch "um auf die veränderte Schülerklientel zu reagieren", wie Tuschner erläuterte.
Doch die Frage der Schülerschaft "Warum soll ich länger bleiben?" konnte mit freiwilligen Angeboten, "für die sie nicht hätten in die Schule kommen müssen", wie der Schulleiter einräumt, zunächst nicht befriedigend beantwortet werden. "Wir hatten engagierte Kolleginnen und Kollegen - aber uns wurde klar, dass etwas nicht gut läuft, als bei einer Gelegenheit nur vier Schülerinnen und Schüler zu einem Angebot aufliefen, bei dem zehn Lehrerinnen und Lehrer auf sie warteten."
Für das leibliche Wohl der Besucher sorgten die Schülerinnen und Schüler des schuleigenen Caterer-Services
Der nächste Schritt folgte mit der Einführung einer gewissen Verbindlichkeit durch Anmeldungen für das ganze Schuljahr. Damals wurden hauptsächlich Sportangebote durch die Kooperation mit Vereinen angeboten, aber auch schon Darstellendes Spiel, Gesang und Experimente. Doch Schulleitung und Kollegium waren letztlich mit dieser Lösung auch nicht glücklich, da die zusätzlichen Angebote zeitlich oft mit dem Stundenplan der Oberstufe kollidierten. Also entschloss man sich nach einem Jahr der Diskussionen mit Lehrern, Schülern und Eltern zur Einführung der gebundenen Ganztagsschule und nutzte dies zu einer Reform der Zeitstruktur.
Neue Zeitstruktur zieht Unterrichtsentwicklung nach sich
Seitdem wird am Ostseegymnasium in 90-Minuten-Einheiten gelernt. "Wir haben die Eltern von dieser Umstellung mit dem Argument überzeugt, dass ihre Kinder dann noch höchstens vier Fächer täglich haben würden", erinnert sich Tuschner. Für die Lehrerinnen und Lehrer war diese Umstellung eine Herausforderung: "90 Minuten lassen sich nicht mit einer einzigen Unterrichtsmethode bestreiten", so der Rektor. "Nach und nach wurde dadurch bei uns eine Unterrichtsentwicklung angestoßen."
Die Schulsanitätergruppe demonstrierte ihre Fertigkeiten
"Frontalunterricht hält man bei 90 Minuten nicht durch", befindet Karin Müller. Die Englischlehrerin stellte den Gästen die Erfahrungen mit der Umstellung auf 90 Minuten-Blöcke vor. "Wir mussten, gerade auch im Sprachenunterricht, Stoffverteilung und Methodik überdenken und uns vom alten Didaktik-Schema von Kontrolle, Einüben, Festigen und Anwenden lösen. Stattdessen haben wir unsere Planung von der Schülertätigkeit abhängig gemacht. Unser Schulleiter hat vorgegeben, dass sich der Stundenplan am Kind zu orientieren hat und nicht am Lehrer. Es musste Abwechslung her."
Für diese Abwechslung können laut Karin Müller verschiedene Lernmethoden und Aktivitäten sorgen, für die im 90-Minuten-Block ausreichend Zeit vorhanden ist: Einsatz von Medien, selbstständiges Arbeiten, Debattieren im Unterricht mit verschiedenen Standpunkten. So gibt es einen Moderatorbzw. eine Moderatorin und eine "Presse", die den Ablauf verschriftlicht und bewertet. Zu den Arbeitsformen gehören zum Beispiel eine Diskussion auf dem "heißen Stuhl", bei der ein Einzelner seinen Standpunkt gegenüber der Klasse verteidigen muss, das Präsentieren von Ergebnissen, Gruppen- und Partnerarbeit, aber auch das Umschreiben und Spielen von Theaterstücken oderdas Entwerfen von Kampagnen - in diesem Fall gegen Alkohol und Jugendschwangerschaft.
Fachschaften sind näher zusammengerückt
"Die Schülerinnen und Schüler haben einen Sänger kontaktiert, um darüber zu sprechen, wie sie ein Lied empfunden haben", berichtete die Englischlehrerin. "Sie haben sich Jugendzeitschriften angesehen, Gedichte zu den Themen Sorgen und Zukunftspläne geschrieben und darüber diskutiert. Wir haben mit Rollenkarten für Jobinterviews gearbeitet und mit Mindmapping zum Thema Freundschaft."
"Die Kommunikationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler hat sich verbessert", hat Karin Müller festgestellt. "Wir arbeiten jetzt mehr in die Tiefe als in die Breite." Auch sei es allgemein im Schulgebäude entspannter und ruhiger geworden, da jetzt nicht ständig alle Dreiviertelstunde Räume und Lehrpersonen gewechselt werden müssten. Die Fachschaften seien näher zusammengerückt und es hätten sich Jahrgangsteams etabliert. Für Gerald Tuschner hat sich die Umstellung gelohnt: "Es steht außer Frage, dass es richtig war, das zu tun. Wir haben das nie bereut."
Vorführung der Sport-AG
Die Blöcke werden durch 20-minütige Pausen getrennt. Die Mittagspause ist 90 Minuten lang. In ihr können die Schülerinnen und Schüler aus vier Menus eines Caterers auswählen. Ebenso können die Schülerinnen und Schüler ins Selbstlernzentrum gehen oder andere Angebote wahrnehmen. Am Hospitationstag präsentierten Kinder und Jugendliche einige dieser Angebote. Manche von ihnen kamen eigens für diese Präsentationen zusammen - Zeichen der Identifikation der Schülerschaft mit ihrer Schule..
15 Schülerinnen und Schüler haben sich zu Rettungssanitätern ausbilden lassen. Mit drei Notfall-Mobiltelefonen ausgestattet, können sie bei kleineren Verletzungen zur Stelle sein. In der Rettungssanitäter-AG geben sie ihr Wissen an Mitschüler weiter. In der Agenda 21-AG stoßen Schülerinnen und Schüler Projekte zum Dialog der Kulturen oder gesunder Ernährung an.
In drei Workshops für Schüler, Lehrer und Eltern sind für diese Themen Verbesserungsvorschläge für die Schule gemacht worden. Im Wirtschaftswahlpflichtunterricht haben Zehntklässler einen Stadtrundgang durch Rostock entworfen und auf MP3-Player gespielt. Um den Stadtführer vermarkten zu können, haben sie bereits Kontakt zu Hotels und mit der Stadt aufgenommen.
"Wichtig, auch mal etwas Anderes kennen zu lernen"
Der Mittwochnachmittag ist der Tag der anderen Lernorte, an dem die Schülerinnen und Schüler ausschwärmen, um außerschulische Bildungsangebote wahrzunehmen. "Es ist wichtig, auch mal etwas Anderes kennen zu lernen", meint Gerald Tuschner, "und an Orte und in Stadtteile zu kommen, an welche die Schülerinnen und Schüler sonst vielleicht nicht gelangen."
Badminton und Turnen standen ebenfalls auf dem Vorführungsstundenplan
Die Anbindung an die Schule wird durch die regelmäßigen Besuche von Lehrerinnen und Lehrern bei den Partnern gewährleistet. "So kann man über die Schülerinnen und Schüler sprechen. Zu Beginn sind diese Kontakte besonders wichtig - da fahren drei Kolleginnen und Kollegen zu den Kooperationspartnern, um sich auszutauschen."
Um genügend Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Arbeitsgemeinschaften zu finden, wurden die Ganztagsangebote, die Projektangebote Oberstufe und der Wahlpflichtunterricht "in einen Topf geworfen", wie es Tuschner gegenüber der Hospitationsgruppe ausdrückte. "Wir haben da den Spielraum des Schulgesetzes ausgeschöpft, und die Schulrätin hat mitgespielt."
Der Ideenreichtum und der Ansatz, dass sich für alle Probleme und Widrigkeiten Lösungen finden lassen, zeichnen das Ostseegymnasium und seinen Schulleiter aus. Und Optimismus gehört dazu, denn - so wusste Gerald Tuschner aus eigener Erfahrung zu berichten - "im ersten Jahr fällt man viel auf die Nase."
Kategorien: Service
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