"Mehr Zeit für Differenzierung"
"Mehr Zeit für Differenzierung"
Mit seiner im Interview mit www.ganztagsschulen.orggeäußerten Auffassung, es sei mehr Unterricht an deutschen Schulen erforderlich, hat der Hamburger Bildungssenator und amtierende Präsident der Kultusministerkonferenz Ties Rabe unterschiedliche Reaktionen ausgelöst.
"Einfach nur mehr Unterricht zu geben, das bringt nichts", ist der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm überzeugt. Sinnvoll wäre es seiner Ansicht nach, den Unterricht auszudehnen, um mehr Zeit für Differenzierung, individuelle Förderung und das Arbeiten in kleineren Gruppen zu gewinnen. "Das geht aber nur, wenn wir mehr Lehrerarbeitszeit in die Schulen stecken", erklärte er in seiner Reaktion auf den Vorschlag von Ties Rabe.
Ob mehr Bildungszeit tatsächlich die Lernerfolge erhöhe, sei allerdings wissenschaftlich nicht eindeutig belegt. "Das ist strittig", erklärte er und verwies auf den Bericht der OECD "Bildung auf einen Blick 2011". Darin wurde unter anderem verglichen, wie viel Unterricht Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 12 und 14 Jahren in den OECD-Ländern erhalten. In Deutschland, so der Befund, sind dies durchschnittlich 898 Stunden pro Schuljahr. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 873 Stunden. "Interessant wird es, wenn man uns dann mit anderen Ländern vergleicht", sagte Klemm. So erhielten finnische Kinder dieser Altersstufe mehr als 100 Stunden weniger (777) als deutsche Schüler. In den Niederlanden seien es dagegen 1000 Unterrichtsstunden pro Jahr. "Die beiden Daten belegen schon, dass die Zahl alleine nichts aussagt. Schließlich schneiden beide Länder bei internationalen Schulleistungsvergleichen besser als Deutschland ab, sie rangieren ganze vorne."
Prof. em. Dr. Klaus Klemm, Bildungsforscher
Ein Indiz, dass mehr Unterricht zu besseren Leistungen führt, liefert ein Vergleich der deutschen Bundesländer. So weiß man, laut Klemm, dass die Schüler aus den neuen Bundesländern bei der Bewertung ihrer naturwissenschaftlichen Kompetenzen besser abschnitten als ihre Alterskameraden aus den alten Bundesländern. "Aber unklar bleibt, ob dieses Ergebnis darauf zurückzuführen ist, dass in den neuen Bundesländern mehr naturwissenschaftlicher Unterricht erteilt wird oder ob es daran liegt, dass die Naturwissenschaften traditionell die angesagten Wissenschaften in diesen Ländern sind", argumentiert der Wissenschaftler.
Anders der Münchener Bildungsökonom Ludger Wößmann. Gegenüber ganztagsschulen.org erklärte er: "Unterrichtszeit erweist sich in der Tat regelmäßig als wichtiger Einflussfaktor auf Bildungsergebnisse." Er verwies auf eine Studie des israelischen Forschers Victor Lavy (Hebrew University of Jerusalem und Royal Holloway University of London) aus dem Jahr 2010. Dieser fand anhand einer Stichprobe von 15-Jährigen aus über 50 Ländern sowie einer Stichprobe von 10- bis 13-Jährigen aus Israel anlässlich PISA 2006 heraus, dass die "Unterrichtsdauer eine positive und deutliche Auswirkung auf die Testergebnisse hat." Lavy kommt zu dem Ergebnis: "Im Vergleich zu anderen Maßnahmen zur Verbesserung schulischer Ergebnisse, für die verlässliche Untersuchungen vorliegen, kann die Auswirkung der Unterrichtsdauer als moderat bis hoch eingeschätzt werden.
Prof. Dr. Ludger Wößmann, Professor für Bildungsökonomie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; (Quelle: ifo Institut)
"Eine deutsche Studie kommt zu ähnlichen Ergebnissen. 2008 veröffentlichte der Bildungsökonom Prof. Dr. Bernd Süßmuth für die TU München die Befunde, die er gemeinsam mit Carolin Amann und Robert K. von Weizsäcker gewonnen hatte. Danach wirkt sich die Zahl der Unterrichtsstunden auf den Lernerfolg und damit auch auf das Abschneiden bei internationalen Schulleistungsvergleichen aus. "Das ist klar und deutlich", sagte Süßmuth. Der wöchentliche Ausfall einer Mathematikstunde von 60 Minuten in einem Bundesland führe zu einer Verschlechterung um drei Ränge innerhalb der PISA-Bewertung zwischen den verschiedenen Bundesländern.
Die Münchener Studie beschäftigte sich nicht nur mit der Situation in der 9. Klasse, sondern maß den kumulierten Effekt über mehrere Schuljahre hinweg in den Fächern Mathematik, Naturwissenschaften und Deutsch.
Der Schulleiter des Bonner Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums, Uwe Bettscheider, hält den Begriff "mehr Unterricht" für irreführend. Was die Schüler benötigten, sei mehr Lernzeit. Er ist, wissend, dass die bei Leistungsvergleichen führenden deutschen Bundesländer Sachsen und Thüringen schon immer auf das achtjährige Gymnasium setzen, überzeugt: "Das ist aber am Gymnasium letztendlich nur durch eine Schulzeitverlängerung möglich." Konkret nannte er als Alternative nicht acht, sondern 8,5 Schuljahre.
Worüber man aber sprechen müsse, sei, ob die Schülerinnen und Schüler die Lernzeit abends und am Wochenende zuhause verbringen sollten oder ob die Lernzeit betreut im Rahmen des Ganztags stattfinden solle. "Letzteres ist aber nur realistisch, wenn wir den vollen Ganztag mit allen Kosten, die er für den Staat verursachen würde, einführen", betonte er. Dazu zählten auch geeignete Räumlichkeiten für Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer und die Bereitstellung von entsprechendem Lernmaterial.
Kategorien: Service
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