Mehr Demokratie in der Schule wagen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Mit der zweitägigen Veranstaltung "Demokratie in der Schule: Partizipation - Historisch-Politische Bildung - Werte", die am 24. und 25. Juni 2009 in der Potsdamer Staatskanzlei stattfand, erfuhr die Demokratiepädagogik eine deutliche Aufwertung. So setzten sich die Kultusminister Rupprecht (Brandenburg) und Tesch (Mecklenburg-Vorpommern) dafür ein, dass das Thema dauerhaft in der Kultusministerkonferenz (KMK) verankert wird. Die mit rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gut besuchte Tagung verdeutlichte ferner, dass die demokratische Bildung stärker in die Unterrichtspraxis gehört.
Es gibt im Jahr 2009 zahlreiche Jubiläen zu feiern, die mit einem gesellschaftlichen Umbruch zusammenhängen und die Frage nach einer Verbindung sowie Demokratiepädagogik mit der Schulentwicklung aufwerfen. So wurde vor 60 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Die Verkündung der Menschenrechte blickt schon auf eine halbe Dekade zurück. Die Ostdeutschen schüttelten ferner vor 20 Jahren die sozialistische Diktatur ab und erreichten, dass die deutsche Teilung der Vergangenheit angehört. Gründe genug, um sich den Bedingungen demokratischer Gesellschaften in Schule, Unterricht sowie der außerschulischen Bildungsarbeit zuzuwenden
Die Kultusministerkonferenz (KMK) nahm dieses Zusammentreffen historischer Jubiläen, die zugleich historische Zäsuren darstellen, zum Anlass, um einen Beschluss zu fassen, der die Demokratieerziehung in den Schulen stärken soll: "Das Jubiläumsjahr 2009 ist ein Ankerpunkt für die Stärkung der Demokratie in der Schule", erläuterte der brandenburgische Bildungsminister, Holger Rupprecht. Die Tagung in Potsdam war sowohl für die Erwachsenen wie für die Schülerinnen und Schüler konzipiert worden, sie ermunterte diese zur regen Beteiligung.
Erziehung zur Mündigkeit
Die KMK hatte die Länder Brandenburg und Thüringen mit der Realisierung der Tagung "Demokratie in der Schule: Partizipation - Historisch Politische Bildung - Werte" beauftragt, die am 24. und 25. Juni 2009 in Potsdam stattfand. Rupprecht sah die Länder auf einem guten Weg, die demokratische Bildung an den Schulen zu stärken: "Sie können wichtige Impulse setzen", so der Minister weiter.
Henry Tesch, Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) vor der Staatskanzlei im Gespräch mit Bildungspolitikern und Experten. Rechts im Bild: Brandenburgs Bildungsminister Holger Rupprecht (alle Bilder hat die Online-Redaktion mit freundlicher Genehmigung von Christa Penserot übernommen).
Die Demokratiepädagogik habe nicht nur die Aufgabe, sich mit historischen Zäsuren wie Demokratie und Diktatur auseinanderzusetzen, sondern sie solle auch den Blick auf die Familien sowie die Gemeinden öffnen und den Aufbau von Netzwerken befördern, bekräftigte der Staatssekretär im thüringischen Kultusministerium, Kjell Eberhardt.
Der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 6. März 2009 sieht übrigens vor, dass "Erziehung für die Demokratie eine zentrale Herausforderung für Schule und Jugendbildung" seien. Die Kinder und Jugendlichen sollten ein demokratisches Verständnis über persönliche Erfahrung und über eigenes Handeln entwickeln. Im Wortlaut: "Demokratiebildung ist Grundprinzip in allen Bereichen ihrer pädagogischen Arbeit. Die Schule selbst muss Handungsfeld gelebter Demokratie sein, in dem die Würde des jeweils Anderen großgeschrieben wird, Regeln eingehalten und Konflikte gewaltfrei gelöst weden."
Mit Blick auf den Unterricht sowie die außerschulischen Lernorte heißt es in dem Beschluss der KMK: "Demokratieerziehung ist Aufgabe aller Fächer. In jedem Fach wie auch außerhalb des Unterrichts geht es darum, die Verantwortungsübernahme durch die Schülerinnen und Schüler sowohl zu fordern als auch fördern und sie damit zugleich beim Aufbau persönlicher und sozialer Kompetenzen zu unterstützen."
Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Prof. Wolfgang Edelstein, konkretisierte die geforderten Kompetenzen in seinem Vortrag "Werte und Kompetenzen für eine zukunftsfähige Schule" wie folgt: "Eine herausragende Rolle spielen dabei soziale Kompetenzen als notwendige Bedingungen demokratischer Lebensformen auf der Ebene individuelle Dispositionen, Bereitschaften, Fertigkeitgen und Überzeugungen. Ohne soziale Kompetenzen gibt es keine Kooperation, keine Verantwortungsübernahme, keine Partizipation, ohne diese Qualifikation fehlen die Voraussetzungen für Demokratie."
Wie kann Demokratie- und Menschenrechtserziehung in der Schule gelernt werden? Und wie kann sie die Kinder und Jugendlichen zu mündigen, urteilsfähigen Bürgerinnen und Bürgern erziehen? Auskunft gab der bekannte Geschichtsdidaktiker Prof.em. Bodo von Borries. Er übte einige Kritik an der Schulpraxis. Die Schule leide aus seiner Sicht an einer Überfrachtung mit sozialpädagogischen Aufgaben. Ferner bedauerte er, dass die KMK das Thema Menschenrechtserziehung nur begrenzt in die Lehrpläne aufnehme.
Wenig Sinn mache es auch, die vorhandene Lernzeit zugunsten der jüngsten deutschen Geschichte seit 1919 umzuverteilen und dabei etwa die Kolonialzeit sowie den Imperialismus zu vernachlässigen. "Die Frage nach der Mitbestimmung und Legitimation von Herrschenden ist universell", wandte sich von Borries gegen einen zu engen Geschichtsbegriff - eine "Nabelschau"-, der sich auf Deutschland begrenze und die Globalisierung vernachlässige. Dieser Unterricht geht oft an den Schülerinnen und Schüler vorbei.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg. Rechts im Bild: Manfred Walhorn im Austausch mit Bodo von Borries.
"Der Geschichtsunterricht erreicht nicht die Seele der Schülerinnen und Schüler", erläuterte von Borries. Es finde, so der ehemalige Deutsch- und Geschichtslehrer "eine Identitätsprägung aus unbegriffener Geschichte" statt. Der Geschichtsunterricht beziehe sich nämlich nicht nur auf den Herrschafts- und Vergesellschaftungsprozess, sondern auch auf Themen wie die "Wirtschaftsgeschichte der Arbeit und des Konsums". Die entsprechende Einbeziehung sozialer, wirtschaftlicher sowie kultureller Themen haben Borries zufolge die Europäischen Bildungsminister bereit im Jahr 2002 gefordert: "Wir müssen heute mit Verschiedenheit leben".
Vor diesem Hintergrund plädierte von Borries für ein Konzept der Auswahl von Unterrichtsinhalten, die sich an der Realität der bundesrepublikanischen Einwanderungsgesellschaft orientierten. Dies solle mit einem Perspektivwechsel einhergehen, der sich an der Biographie der Schülerinnen und Schüler sowie an deren Fähigkeiten und Fertigkeiten orientiere. Die Beschäftigung mit konkreten Biographien lebender Menschen, die den Schülerinnen und Schülern die Widersprüchlichkeit und historische Prozesslogik vor Augen führe, verdeutliche die Vorteile der historischen Beispielanalyse ("Fallstudie").
In der anschließenden Diskussion begrüßte der Jenaer Erziehungswissenschaftler Prof. Peter Fauser die Fokussierung des Bildungsexperten auf die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sowie die Abwendung von der "Abbildpädagogik", wonach die Realität in abstrakten Begriffen quasi eins zu eins abgebildet werde, zugunsten exemplarischen Lernens: "Schülerinnen und Schüler in China und Deutschland können die gleichen Kompetenzen haben und fast keine gemeinsamen historischen Kenntnisse." Der Abteilungsleiter im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg, Manfred Walhorn bilanzierte: "Ich nehme den Auftrag mit, bei der KMK für eine Umverteilung der Stunden zugunsten von mehr Demokratie- und Menschenrechtserziehung zu werben."
Eyal Ram aus Tel Aviv. Sein Vortrag fand viel Zustimmung im Publikum. Rechts im Bild: Peter Fauser setzt sich für mehr Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler ein.
"Persönliche Bildung und Erziehung" in Bat Yam/ Israel
Mit Eyal Ram vom Institut für demokratische Bildung in Tel Aviv wurde der Blick auf die Entwicklung in Israel gelenkt. Die Demokratisierung der Schulen ist dort eng mit dem Institut für Demokratische Bildung verknüpft (IDE), das im Jahr 1987 von Yacoov Hecht gegründet wurde. Es gehört zu den renommiertesten Lehrerausbildungsinstituten und sollte zunächst die Elterninitiativen bei der Gründung demokratischer Schulen unterstützen.
Nach der Ermordung des damaligen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin beauftragte die Regierung das Institut, auch staatliche Schulen zu demokratisieren. Schließlich startete im Jahr 2005 nach einigen erfolglosen Anläufen das Projekt "Persönliche Bildung - Modell Bat Yam". Es wurde vom IDE entwickelt und von der Regierung umfassend finanziell unterstützt. Bat Yam ist laut Eyal Ram eine relativ arme israelische Stadt mit rund 180.000 Einwohnern und 40 Schulen.
Schulversagen, soziale Ausgrenzung und Gewalt gehörten zum Alltag, bis das Institut in Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister, der Jugendhilfe sowie Schulpsychologen das Programm für persönliche Bildung einführte, das alle Grundschulen und Mittelschulen darin unterstützte, die Kinder und Jugendlichen als Individuen wahrzunehmen und sie individuell zu fördern. Ziel war es laut Ram, nicht nur Schulen, sondern auch eine Stadt für Kinder zu schaffen, die den Gedanken der Inklusion und Vielfalt verpflichtet ist.
Es entstanden außer basisdemokratischen Schulen "exzellente außerschulische Lernorte", an denen sich Juden mit Moslems oder Drusen mit Christen trafen. Schon bald war die demokratische Schule nicht nur ein Ort zur Förderung unterschiedlicher Talente, sondern auch ein Beispiel für Inklusion. Auf der Agenda stehen neben Morgenkreis und Projektlernen auch individualisierter Unterricht in kleinen Gruppen sowie Berufsorientierung: "Die Lehrkräfte, die an unserem Institut ausgebildet werden, unterrichten die Kinder in der Globalisierung."
Manfred Stolpe neben Bodo von Borries: Stolpe kritisierte, dass die gegenwärtige Geschichtsnostalgie die Brutalität des DDR-Regimes ausblende. Rechts im Bild: ein ehemaliges Stasi-Gefängnis in Potsdam, das heute als Gedenkstätte fungiert. Die Gedenkstätte in der Lindenstr.54 wurde im Rahmen des Workshops 3: "Gedenkstätten, Museen und lokalhistorische Projektarbeit: Lernen am außerschulischen Lernort" besucht.
"Ein völlig neues Normen- und Wertesystem nach 1989"
An der anschließenden Podiumsdiskussion: "20 Jahre friedliche Revolution: Verlust der kollektiven Erinnerung?" beteiligten sich neben der Moderatorin Dr. Jeanne Rubner von der Süddeutschen Zeitung, der Präsident der KMK und Kultusminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Manfred Stolpe, Dr. Heike Kahl sowie Prof. Martin Sabrow vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Für die Geschäftsführerin der DKJS, Dr. Heike Kahl stellt sich in Verbindung mit der DDR-Geschichte die Frage nach individuellen Verantwortung: "Die DDR ist von vielen getragen worden." Manfred Stolpe kritisierte, dass die gegenwärtige Geschichtsnostalgie die Brutalität des DDR-Regimes ausblende. Man dürfe allerdings die zwei Diktaturen auf deutschem Boden nicht über einen Kamm scheren.
"Es macht einen Unterschied, ob dabei Aktenberge oder Leichenberge herauskamen." Für Martin Sabrow stellen die Ereignisse im Jahr tatsächlich eine Revolution dar: "Es wurde ein völlig neues Normen- und Wertesystem implementiert." Die DDR-Geschichte, die im Geschichtsunterricht als sträflich vernachlässigt gilt, sollte nach seiner Auffassung bereits in der 10. Klasse unterrichtet werden: "Doch viele Lehrerinnen und Lehrer klagen über Zeitdruck."
Am zweiten Tag der Tagung stand die Arbeit von sieben Workshops im Fokus. Dort wurden Vorschläge erarbeitet, die die politischen Entscheidungsträger in die Gremien wie die KMK oder die Landesregierungen tragen möchten. Die Themen der Workshops lauteten: "Demokratiepädagogik: Demokratische Handlungskompetenz und demokratische Schulkultur", "Kompetenzen entwickeln - Verantwortung übernehmen: Überlegungen zur Entwicklung demokratischer Handlungsmöglichkeiten in der Schule", "Gedenkstätten, Museen und lokalhistorische Projektarbeit: Lernen am außerschulischen Lernort", "Ein Curriculum zur Demokratiebildung", "Gelegenheiten zum Demokratielernen", Werteaneignung und Demokratie - Die Arbeit des 'Runden Tisches Werteerziehung' in Brandenburg".
Peter Fauser und Wolfgang Edelstein im Gespräch mit der jüngeren Generation. Rechts im Bild: Schülerinnen nehmen an einem Workshop teil.
Ein offener Brief der Schülerinnen und Schüler an das Publikum
Die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler, die aus fast allen 16 Ländern kamen, sowie die aktive Mitarbeit des SV-Bildungswerkes verdient besondere Beachtung. In einem offenen Brief mit dem Titel "Wirksame Schülerbeteiligung - Ideen engagierter Schülerinnen und Schüler" fordern sie Politik und Schulverwaltung auf, "Beteiligung zu einem leitenden Prinzip der Schulentwicklung zu machen".
Der Vorsitzende des SV-Bildungswerks, Vincent Steinl, für den die Tagung der Beginn eines Prozesses der Demokratisierung von Schulen war, fasste wichtige Aspekte und Forderungen des Papiers zusammen. Zentrale Bedeutung habe dabei der Klassenrat, der die Schulen von innen transformiere, ohne das System an sich infrage zu stellen.
"Die Wirkungen sind gigantisch, sie haben Auswirkungen auf die gesamte Schulkultur." Sie seien insbesondere in Ganztagsschulen geeignet. Ferner setzte sich Steinl dafür ein, die Schülervertretungen auch in die Kommunalverfassungen einzubinden. Auch sei die Einführung von Schülerparlamenten ein Aspekt, der die Schülerinnen und Schüler motiviere.
Die Fortbildung von Lehrkräften und Schulleitungen sowie das Peer-Training seien ebenso wichtige Pfeiler der Demokratisierung. Zum Thema G 8 gab Steinl zu bedenken, dass die Lehrpläne zu straff und unflexibel gestaltet seien: "Die Schülerinnen und Schüler brauchen mehr Zeit für individuelle Themenschwerpunkt und sie sollte stärker bei der Auswahl der Themen beteiligt werden.
Burkhard Jungkamp bekommt von Benjamin Gesing den offenen Brief der Schülerinnen und Schüler überreicht. Rechts im Bild: Infostand des SV-Bildungswerkes.
Demokratieerziehung ist eine Querschnittsaufgabe, die alle betrifft
Aus der Sicht des Fachdidaktikers von Borries wurde während der Tagung viel zu wenig über die Unterrichtsfächer gesprochen: "Wenn die Diskussion nicht in den Fächern läuft, geht sie zu 80 Prozent den Schulen vorbei." Der brandenburgische Staatssekretär Volker Jungkamp griff die Kritik allerdings konstruktiv auf: "Die Demokratieerziehung ist eine Querschnittsaufgabe." Das Land wolle für die Demokratieerziehung den Rahmen schaffen, aber es den Schulen belassen, wie sie diesen ausfüllen. "Es wird eine Nachfolgeveranstaltung geben", die sich auch den offen gebliebenen Fragen und Themenstellungen widmet", so der Staatssekretär.
Die Auftaktveranstaltung in Potsdam ermunterte die Schulen mehr Demokratie zu wagen, denn es geht um sehr viel, wie nicht zuletzt der Beschluss der KMK verdeutlicht: "Wir wissen: Demokratie ist nicht selbstverständlich; sie musste in einem langen historischen Prozess errungen werden. Demokratie ist stets aufs Neue Gefahren ausgesetzt. (...) Inwieweit wir die Möglichkeiten der Demokratie verwirklichen, hängt nicht zuletzt von uns selbst ab."
Kategorien: Bundesländer - Berlin
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