Leinen los für die Serviceagentur in Sachsen-Anhalt : Datum: Autor: Autor/in: Arnd Zickgraf

Auch in Sachsen-Anhalt können sich Schulen nun in Ganztagsfragen beraten lassen. Die Serviceagentur im Rahmen des Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" wurde am 8. und 9. Juni 2005 mit einer Auftaktveranstaltung auf Schloss Peseckendorf eröffnet. Bis zum Jahr 2007 will sie 94 Ganztagsschulen im Spannungsfeld zwischen sozialen Brennpunkten und Begabtenförderung zur Seite stehen.

"Ein Menschenhaus, in dem alle gemeinsam den Alltag gestalten" - so stellt sich Kristina Holze eine richtige Ganztagsschule vor. Sie ist Vorsitzende des LandesschülerInnenrates Sachsen-Anhalt. Wenn es nach ihr ginge, sollten Ganztagsschulen lebendige und selbstständige Schulen sein, in denen alle Beteiligten sich wohl fühlen, ihre Fähigkeiten einbringen und das Lernen außerhalb der Schulmauern nichts Fremdes ist. Diese Idee von einer Schule bekundete die Schülersprecherin anlässlich der Eröffnung der Serviceagentur "Ganztägig lernen" in Sachsen-Anhalt auf Schloss Peseckendorf.  Die Schülervertretung kann optimistisch sein, dass ihre Wünsche endlich ernst genommen werden.

Sind unsere Schulen gegenwärtig wirklich für die jungen Menschen gemacht? Keineswegs. Oggi Enderlein von der "Initiative für Große Kinder" und gleichzeitig Projektleiterin der Werkstatt 5 der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung "Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen" verweist auf Studien, wonach Schule für viele Kinder noch immer ein Ort der Angst ist. Große Kinder definiert die Pädagogin als Kinder im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren, die sich auf der einen Seite schon bewusst selbst beschäftigen wollen, auf der anderen Seite aber noch nicht so empfänglich für die Angebote der Jugendträger sind.

Kristina Holze vom LandesschülerInnenrat Sachsen-Anhalt

Diese Kinder fielen oft durch die Maschen der regulären Betreuung und bräuchten Anregungen für den Übergang von der Kindheit zur Pubertät. Ganztagsschule liege im originären "Interesse der Kinder", so die Jugendpsychologin. Rund 30 Prozent dieser Kinder hätten Angst, in der Schule zu versagen. Viele hätten Schlafprobleme, sogar Suizidgedanken. Die Konsequenz müsse eine Ganztagsschule als eine "entwicklungsfördernde Schule" sein. Zentrale Merkmale einer solchen Schule sind nach Enderlein: verlässliche Strukturen, genügend hohe Anforderungen und viel Freiraum für Kinder und Jugendliche.

Sachsen-Anhalt benötigte einige Zeit, um die Serviceagentur im Land zu etablieren. Dafür setzt das Land nun stark auf pädagogische Konzepte. "Insbesondere an Schulstandorten in sozialen Brennpunkten, an Schulen mit besonderem Profil oder in Projekten zur Begabungsförderung können Ganztagsschulen eine wichtige Erweiterung des schulischen Angebotsspektrums sein, wenn sie den Schülerinnen und Schülern individuelle und unterrichtsbezogene Förderung ermöglichen", so formuliert die Landesregierung ihr Ziel zum Ausbau der Ganztagsschulen.

Ganztagsschulen auf dem Weg zu "kulturellen Zentren"

Sachsen-Anhalt habe aber nichts gegen die Vorstellung, dass Ganztagsschulen zu "kulturellen Zentren" werden, an dem Werte vermittelt werden, so der Staatssekretär des Kultusministeriums Winfried Willems. Ganztagsschulen sind für ihn kein Allheilmittel gegen alle Gebrechen, die aus der Gesellschaft die Kinder und Jugendlichen heimsuchen. Aber eine Kultur des selbstständigen Lernens und Übens sei ein Mittel gegen die "zunehmende Verwahrlosung unserer Kinder" durch Massenmedien und andere Trends. Gerade Ganztagsschulen böten die Chance, dass die Kinder und Jugendlichen eine "Lerngemeinschaft Suchender" bildeten, die aus ihnen "selbstständige und gestandene Persönlichkeiten" mache.

Oggi Enderlein

Winfried Willems möchte engagierte Eltern in Ganztagsschulen: "Wenn Eltern in Klassenkonferenzen nur über unwichtige Dinge mitbestimmen können, dann wundert es nicht, dass sie sich zurückziehen." Das sieht der Vorsitzende des Landeselternrates Heiko Elze ganz ähnlich. In Zeiten ständiger Reformen und Änderungen wünscht er sich eine "kontinuierliche Partnerschaft" zwischen Eltern, Schülern und Land. Das Stichwort heißt Partizipation.

Damit Ganztagsschule mehr als eine Betreuungsanstalt wird, fordert das Land ein "integratives Konzept", das eine Reihe von Kriterien berücksichtigt: Die Rhythmisierung des Schultags, Hausaufgabenbetreuung und individualisierte Förderung genauso wie die Partizipation von Eltern und Schülern. Alles in allem eine Pädagogik der Vielfalt und nicht die einer stereotypen Lernmethode. Das Land will bis zum Jahr 2007 über 26.000 Plätze an Ganztagsschulen schaffen und damit 94 Ganztagsschulen errichten.

Die 94 Ganztagsschulen verteilen sich auf unterschiedliche Schultypen: 28 Grundschulen, 48 Sekundarschulen, 5 Gesamtschulen, 2 Sonderschulen und immerhin 11 Gymnasien sollen Ganztagsschulen werden. An dieser Verteilung kann man die Strategie bei der Errichtung von Ganztagsschulen ablesen: Sachsen-Anhalt kombiniert die Förderung von Kindern und Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten mit dem Finden und Fördern von begabten Schülern. 

Mut zur Qualität in Sachsen-Anhalt

Ein Haus, in dem sich Schülerinnen und Schüler als Menschen aufgehoben fühlen, bedarf vieler Hände, die anpacken. Das weiß auch der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung Ulrich Kasparick. Er wünscht sich, dass mit dem vorhandenen Personal eine Aufbruchstimmung erzeugt wird, welche die "Lust am pädagogischen Neubeginn weckt". Er erkennt dabei den "Mut zur Qualität" des Landes Sachsen-Anhalt an, das sich nicht überstürzt in das Ganztagsschulprogramm gestürzt habe. Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schulen sei dabei ein wesentlicher Baustein im Prozess der Schulentwicklung.

Staatssekretär Winfried Willems

Bei der Eröffnung der Serviceagentur Sachsen-Anhalt wollte man auf Rat aus Finnland nicht verzichten. Kati Jauhiainen von der DKJS findet, dass es in Deutschland schon eine ganze Reihe kreativ arbeitender Schulen gebe. Vielleicht mit Blick auf die starke Selektion in deutschen Schulen sagt die finnische Bildungsexpertin, dass es in der  finnischen Schulphilosophie gar keine "schwachen Kinder" gebe, sondern nur Kinder, die unterschiedliche Unterstützung brauchen. Mit dem Gewinner-Verlierer-Denken lasse sich kein "Menschenhaus" bauen. In Finnland erhalten immer diejenigen zuerst Hilfe, die sie am meisten bräuchten - im gemeinsamen Unterricht und nicht in Sonderschulen. In Deutschland, so ihre Erfahrung, würden oft zu große Schritte auf einmal gemacht.

Das Ganztagsschulprogramm ist für Sachsen-Anhalt eine Bereicherung. "Mit der höchsten Überweisungsrate von Schülerinnen und Schülern an Sonderschulen ist Sachsen-Anhalt führend in der Aussonderung", sagt Ines Boban vom Zentrum für Schulforschung der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg. Fast alle Kinder, bei denen Lernschwierigkeiten auftauchen, werden auf Sonderschulen verwiesen und nicht, wie etwa in Finnland, im gemeinsamen Unterricht integriert und damit in ihrem "Sosein" willkommen geheißen. Unser selektives Schulsystem packe die Kinder wie "Schmutzwäsche" in die Waschmaschine und je nach Schulart würden sie mehr oder weniger stark durchgeschleudert, damit sie schultauglich wieder herauskommen, so Boban.

Kontakte zu 80 Schulen

Es gilt, in Sachsen-Anhalt nicht nur begabte Kinder zu finden und zu fördern, sondern auch Schulen, die als gute Beispiele anderen Schulen Wege durch das Dickicht des Lernens in heterogenen Gruppen bahnen. Sylvia Ruge, die die Serviceagentur "Ganztägig lernen" in Sachsen-Anhalt koordiniert, möchte bis zu 20 solcher guter Beispiele herausfinden. Das Ziel der Multiplikatorin für eine andere Schulkultur ist es, "sozialraumbezogene Verantwortungsgemeinschaften zu bilden mit Partnern, die Schule als "ihre Schule" begreifen.

Sylvia Ruge

Dabei wird sie fachlich durch zwei Schulleiter unterstützt. Sylvia Ruge hat bereits in Projekten gegen Fremdenfeindlichkeit gearbeitet und inzwischen Kontakte zu 60 Schulen geknüpft. Die Serviceagentur, die durch die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) unterstützt wird, ist bundesweit die zehnte. Mittlerweile beginnt sich ein  Netz von Unterstützungseinrichtungen für Ganztagsschulen zu bilden, das zunehmend engmaschiger wird. Die gute Nachricht für den Osten Deutschlands: Hier sind schon die meisten Serviceagenturen an den Start gegangen.

Zu den wichtigsten Aufgaben dieser Agenturen gehört es, aus Beispielen guter Schulpraxis zu lernen, durch Vernetzung zum Erfahrungsaustausch zu kommen, Beratung durch Experten, Fortbildung und Moderationen zu organisieren. Sie unterstützen die Ganztagsschulen damit sowohl bei der inhaltlichen Ausgestaltung als auch bei den Managementaufgaben, die gerade durch die Einbindung außerschulischer Partner immer vielfältiger werden.

Die drei finnischen K

"Es gibt viele, wenngleich nicht unzählige Wege zur Schulqualität", sagt Helmut Thiel, Schulleiter der Johannes-Gutenberg-Schule, einer Ganztagsschule in Wolmirstedt. Für den Vorsitzenden des Ganztagsschulverbandes von Sachsen-Anhalt geht "erfolgreiche Schule über Individualisierung". So gesehen, müsse jede Stunde eine Förderstunde sein, bei der sich die Schüler gegenseitig helfen. Wie Staatsekretär Willems plädiert er für selbstständige Lernprozesse bei allen Lernenden. Und das werden die Schülervertreter in Sachsen-Anhalt gerne vernommen haben: Helmut Thiel macht sich für bewertungsfreie Zeiten stark: "Ich könnte mir gut vorstellen, bis zur achten Klasse ohne Noten auszukommen." Außerdem müssten Lehrerinnen und Lehrer, die eine Ganztagsschule durch ihr Engagement tragen, besser belohnt werden.

Das Auditiorium in Schloss Peseckendorf

Tatsächlich haben sich schon jetzt in Sachsen-Anhalt über 50 Schulen mit viel Engagement und Kreativität auf den Weg zur Ganztagsschule gemacht. Die Versuchung, viel zu experimentieren und angefangene Projekte nicht zu Ende zu bringen, ist jedoch groß - wie so oft, wenn es um Veränderungen von Schule geht. Daher gibt Kati Jauhiainen die drei finnischen "K" mit auf den Weg: Kreativität, Kontinuität und Konsequenz. Außer Kreativität sind auch Kontinuität und Konsequenz erforderlich, um Schulen auf ein solides Fundament zu stellen und nicht auf Sand. "Es gibt viele Ideen, aber es wird nicht kontinuierlich an ihnen gearbeitet", so die Expertin. Denn in die Schule geht immer der ganze Mensch und der braucht als Gegengewicht zu dauernder Veränderung etwas, woran er sich halten kann  - einen klaren Kurs.

 

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