Kunst und Musik für alle
Wenn Projekte wie das Themenatelier "Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen" der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) Bilanz ziehen, heißt es üblicherweise Abschied nehmen: gemeinsame Workshops, Projekte, Kulturkooperationen gehören der Vergangenheit an, oder müssen fortan aus eigener Kraft am Leben erhalten werden. Doch diesmal kam es ganz anders: Zwar ist das erste Themenatelier jetzt Geschichte, aber das zweite knüpft vielfach an den Erfahrungen des Vorgängers an.
Die Künste verfügen über ein die Menschen verbindendes Medium, dessen Vorzüge für den Unterricht und die außerschulischen Lernorte kaum hoch genug geschätzt werden können. Denn Kraft ihrer universellen Sprache gelingt es den Künsten, zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe, Konfession und ethnischer Herkunft einen Dialog herzustellen.
So kam es, dass die PwC-Stiftung "Jugend - Bildung - Kultur" vor drei Jahren die Förderung des ersten bundesweiten Themenateliers "Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen" übernahm. "Die Schule ist der wichtigste Partner der kulturellen Bildung", erklärte Stiftungsvorstand Prof. Rolf Windmöller. Aufgabe der Stiftung sei es, auf diesem Gebiet Projekte wie das Themenatelier anzuschieben.
"Kultur schafft Zugänge zur Bildung"
Nach dreijähriger intensiver Arbeit war nun Gelegenheit, die Ergebnisse an einem Ort mit internationalem Flair, dem GLS Campus "die Schule" in Berlin, zu diskutieren. Doch die rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fachkonferenz waren nicht nur gekommen, um eine gemeinsame Bilanz von Kulturkooperationen mit den Ganztagsschulen zu ziehen.
Sie wurden auch Zeugen einer Staffelstabübergabe. Das von der PwC-Stiftung geförderte erste Themenatelier ist abgeschlossen. Im Mittelpunkt steht nun das seit 2007 vom BMBF geförderte Nachfolgeprojekt. "Ich freue mich sehr, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Programm fortführt und die Mittel dafür bereit stellt", fügte Wildmöller hinzu.
Am zweiten Konferenztagwurde die Staffelstabübergabe an das BMBF konkret. Dazu der Unterabteilungsleiter Dr. Stefan Luther: "Die PwC-Stiftung hat die erste Etappe zurückgelegt." Luther würdigte die Initiative der PwC-Stiftung und die gute Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS). Stiftungen seien Innovationsmotoren: "Wo die Schulen mitunter an ihre Grenzen stoßen, schafft die Kultur neue Zugänge zur Bildung."
Qualität aus einem Guss
Die Begründung einer neuen Lernkultur war ein wesentliches Ziel des ersten Themenateliers "Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen", so die Geschäftsführerin der DKJS, Dr. Heike Kahl. Das erste Themenatelier war mit 13 Projekten aus Berlin, Bremen, Hamburg und Sachsen in den Bereichen Museum, Tanz, Theater und Literatur angetreten. Die Projekte bekamen nicht nur eine Prozessbegleitung sowie zahlreiche Feedbackrunden. Es wurde auch ein Qualitätsrahmen entwickelt, an dem sich Projektbeteiligte orientieren können.
"In jedem Bundesland und an jeder Schule gibt es andere Bedingungen," so Dr. Anja Durdel, Abteilungsleiterin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. "Ein feststehender Qualitätsrahmen wäre da nur hinderlich. Vielmehr haben wir mit dem vorliegenden Qualitätsrahmen eine Grundlage erarbeitet, die von den Beteiligten aufgegriffen und für ihre Bedürfnisse weiterentwickelt werden kann."
Thomas Busch, langjähriger Projektleiter für das Themenatelier, stellte den Qualitätsrahmen vor. Der Qualitätsrahmen erfordere pädagogische, ästhetische und künstlerische Qualität, Qualität der Ausstattung, Prozessqualität, Qualität von Qualifizierung und Entwicklung sowie Qualität der Wirksamkeit. Hinter solchen Begriffen verbergen sich Anforderungen, die zwischen den Beteiligten kommuniziert und ausgehandelt werden müssen.
Will man beispielsweise unter dem Stichwort Inklusion eine Pädagogik der Teilhabe aller als Ziel anstreben, so geht dies nicht ohne Bezug auf die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen. Wie leben diese jenseits der Schule? Welche Erfahrungen, subjektiven Eindrücke und persönlichen Ziele sollen in ein konkretes Kulturprojekt einfließen?
Eine Medienwerkstatt in Bremerhaven macht Schule
Das Themenatelier "Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen" lieferte Beispiele, die überregionale Akzente setzen. An der Immanuel-Kant-Schule Bremerhaven-Grünhufe, an der auch der "kritische Freund" und langjähriger Begleiter des Themenateliers, Jens Carstensen, arbeitet, gibt es viele Kinder, deren Familien nach Deutschland zugewandert sind. Vor rund 14 Jahren gründete der Musikerzieher daher eine Medienwerkstatt.
"Vor meiner Zeit war an der Schule eine Musikbrache. Jetzt wenden wir uns mit unseren Projekten jenen Inseln zu, wo noch die Phantasien gedeihen", erläuterte Carstensen. Zwar habe er nicht die Schulleitung auf seiner Seite, doch dafür stärke die Stadt Bremerhaven in Person des Kulturdezernenten ihm den Rücken: "Ich mache das auch für die Stadt", so der Pädagoge. Außerdem habe ihn die Arbeit im Themenatelier bestärkt.
Schon mit dem ersten Projekt "Both Ends" gelang es dem Lehrer und Tonkünstler, seinen erweiterten Bildungsbegriff in die Praxis einzubringen. Mit Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung "Baobab Connection" und "Both Ends" baute er eine Kooperation mit Kindern und Jugendlichen in Ghana auf, um afrikanische Instrumente nachbauen zu lassen. Das dazu nötige Wissen und Baumaterial bezog das Projekt aus Ghana. Aus dem Verkauf der Instrumente finanzierte man ein gemeinsames Konzert in Deutschland.
2007 schickte der Lehrer, der viel Extrazeit in die Arbeit investiert, seine Schülerinnen und Schüler mit dem "[KLANG] Projekt"auf eine Ohrenreise durch ihre Lebenswelten: "Wie klingen die Elemente, wie unser Körper? Was sind die charakteristischen Klänge unserer Stadt?" Mit diesem Projekt gewann die Immanuel-Kant-Schule den ersten Preis im Rahmen des bundesweiten Wettbewerbs "Kinder zum Olymp!". Handlungsorientierter Unterricht sollte Carstensen zufolge nicht mehr an der Schule als primärer Lernort stattfinden. Vielmehr begab sich die Medienwerkstatt auf eine Entdeckungsreise durch die Stadt Bremerhaven, um Geschichte lebendig werden zu lassen.
Nicht alles ist Kunst, aber alle Kunst eignet sich zum Lernen
Auch der jüngste Erfolg der Immanuel-Kant-Schule - das Filmprojekt "Denk Mal - Mahn Mal!" - vom Juni 2008 spricht Bände: Der Film, der in einer Kooperation mit dem "afz TheaTheo" entstand, erinnert an die Ermordung der europäischen Juden. Drehort war unter anderem das Mahnmal in Berlin. Dafür erhielt das Projekt bei "Kinder zum Olymp!" in der Altersgruppe Klasse fünf bis neun den ersten Preis in der Sparte Film und Neue Medien.
"Die Ideen kommen irgendwann. Sie stellen sich dann wie ein Sprung oder ein Funken ein", erklärte Carstensen die Lebendigkeit ästhetischer Produktion. Wenn der Prozess erstmal ins Rollen gekommen ist, sei das Wichtigste schon passiert. Das Projekt wolle die lebendige Auseinandersetzung mit der Stadt und ihrer Geschichte führen und die Frage provozieren, wohin es gehen könnte - für den Einzelnen und für die Stadt.
Auch wenn das Ergebnis in Gestalt von Fotoreihen, Video- und Klangsaufzeichnungen das Publikum in Begeisterung versetzt, plädiert Carstensen dafür, die Kirche im Dorf zu lassen: "Was wir in der Schule machen, ist noch keine Kunst, allenfalls Hobbykunst. Aber der bewusste Umgang mit den Werkzeugen schafft vielen Kindern und Jugendlichen einen Zugang zur Kunst und Kultur."
Musik (nicht) für alle?
Neueste Forschungsarbeiten wie die Studie zur Musisch-Kulturellen Bildung an Ganztagsschulen (MUKUS) verdeutlichen, dass der Zugang zu einem Musikinstrument bei den Kindern und Jugendlichen eng mit der Bildung der Eltern zusammenhängt. Vor diesem Hintergrund folgerte Thomas Busch: "In der kulturellen Bildung und insbesondere in der Musik potenzieren sich die Probleme der Chancenungleichheit." Musik für alle - ist das nur ein Traumschloss?
In England ist es im Jahr 2004 gelungen, 400 Mio. Pfund für die musikalische Bildung von Kindern und Jugendlichen aufzubringen. Sie sollen auch jenen zugute kommen, die aus sozial schwächeren Familien stammen. Die nationale Kampagne, die unter dem Namen "Music Manifesto" möglichst viele Kinder und Jugendliche erreichen möchte, soll ihnen praktischen Zugang zur Musik bzw. zu einem Musikinstrument eröffnen. Sie sollen in der Schule oder an außerschulischen Lernorten ihre Talente entdecken und sich in der Musik mögliche Berufsbilder wie professioneller Musiker, Lehrer oder Produzent vorstellen können.
Möglich wurde diese beispiellose Kampagne Busch zufolge, weil die wichtigsten Akteure in der englischen Musiklandschaft, also nationale Verbände, Rundfunk und Fernsehen etc. sich auf dieses Programm einigen konnten, wobei sie zuvor die wichtigsten Argumente zusammengetragen und diskutiert haben. Allerdings sei das Angebot auf die Musik begrenzt und erstrecke sich nicht, wie das bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) der Fall ist, auf alle Künste und Kultursparten.
Das neue Paradigma der Inklusion
Nicht zuletzt aus der Sicht der UNESCO darf kein Kind vom gemeinsamen Unterricht ausgeschlossen werden. Vielmehr sollten die individuellen Unterschiede zwischen den Kindern als Reichtum verstanden werden, der einen Paradigmenwechsel erforderlich mache: Migrantenkinder, Flüchtlingskinder, behinderte Kinder, sie alle haben ein Recht auf Teilhabe. Die UNESCO-Konferenz "Inclusive Education" hat dementsprechend dieses Thema am 27. und 28. November 2008 in Genf auf ihre Agenda gesetzt.
So kommt es nicht von ungefähr, dass das Thema Inklusion im zweiten Themenatelier "Klappe, die Zweite" ein Schwerpunkt des Jahres 2009 wird. Der gemeinsame bundesweite Film möchte dies mit Leben füllen. "Entstanden ist eine Collage, in die Ausschnitte aus allen fünfzehn Projektfilmen eingeflossen sind." erklärt Harriet Völker, Projektleiterin des zweiten Themenateliers. "Er fasst das schwer fassbare Wort Inklusion in Bilder, die aus der Lebenswelt der beteiligten Schüler kommen und zeigt, wie Projekte mit außerschulischen Kooperationspartnern den Schulalltag bereichern können." Auf der entstandenen DVD "Klappe, die Zweite!" sind dementsprechend sowohl der Bundesfilm als auch alle fünfzehn Projektfilme in voller Länger zu sehen.
Schulentwicklung braucht einen langen Atem
Wie aber gelingen Projekte zur "kulturellen Bildung", bei denen Künstlerinnen und Künstler mit Kindern und Jugendlichen in den Schulen zusammenarbeiten? "Wie vermeidet man dabei, dass eine Vielzahl von Künstlern spätnachmittags ihre eigenes Schultrauma wiederholen: nervende, ermüdete Schülerinnen und Schüler, welche die künstlerischen Freiräume mit Disziplinlosigkeit quittieren?", fragte Winfried Kneip, Geschäftsführer der Yehudi-Menuhin-Stiftung.
Eine Diskussionsrunde zum Thema "Qualitätsmodelle in Kulturkooperationen" versuchte eine Klärung. Zunächst erinnerte der Vorsitzende der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Prof. Max Fuchs, daran, dass sich die Kulturarbeit bislang vor allem auf die Mittelschicht beschränke. Sie könne aber gerade die Hauptschulen in den sozialen Brennpunkten bereichern, da sie an den Stärken der Kinder und Jugendlichen ansetzt. Eine Chance für die kulturelle Schulentwicklung ergäbe sich daraus, dass die Ganztagsschulen ein Profil entwickeln müssen. Mit der Kultur biete sich ein starker Partner für die Schulen an.
Doch die Erfahrungen mit dem MUSE-Projekt der Yehudi-Menuhin-Stiftung zeigen Kneip zufolge, dass die Schulentwicklung einen langen Atem braucht. "Mindestens sieben Jahre." "Mit den lokalen Bildungslandschaften haben die Ganztagsschulen die Chance, sich mit vielen Kulturpartnern zu vernetzen", fügte Heinz Grasmück, teilnehmender Lehrer des ersten Themenateliers und seit Februar 2008 Referatsleiter für Deutsch und Künste am LI Hamburg, hinzu. "Die Referendare sind einer der wichtigsten Verbündeten der Schülerinnen und Schüler." Letztere sollten auf jeden Fall an den Fortbildungen der Lehrkräfte beteiligt werden.
An der Schnittstelle zwischen lokalem Netzwerk und bundesweiten Akteuren
Im Laufe der Bilanzveranstaltung wurde der ganze Fundus beider Themenateliers greifbar: es wurden Projekte in den Bereichen Tanz und Schule, Museum und Schule, Theater und Schule, Literatur und Schule, Medien und Schule, Interkulturelle Arbeit und Schule vorgestellt. Ein Steinbruch für die Akteure in der kulturellen Bildung. Wenn man bedenkt, dass mit "Klappe, die Zweite!" 15 Schulen (Grund-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien) aus den Ländern Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt sowie ihre außerschulischen Partner hinzugekommen sind, lässt sich die Vielfalt der kulturellen Bildung ermessen.
Sie kommt auch beim Thema Fortbildung zum Tragen: "Was muss und kann in der Lehrerbildung an Universitäten und Künstlerischen Hochschulen getan werden?". Dazu Prof. Bettina Brandi von der Hochschule Merseburg: "Für die Ausbildung von Erziehern und (Grundschul)Lehrern sind Inhalte zur Ästhetischen Bildung und Kenntnisse über pädagogische Wirkungsweisen der kreativen Künste und deren Vermittlungsvielfalt wichtiger als die Beherrschung einzelner künstlerisch-technischer Grundlagen", erläuterte sie.
Kunst gibt es nicht zum Nulltarif
Eine zusätzliche Erkenntnis, die die Teilnehmer nach Hause mitnehmen konnten, besteht darin, dass sich renommierte Akteure und Forscher der kulturellen Bildung wie Prof. Max Fuchs, Winfried Kneip und Dr. Susanne Keuchel, stellvertretende Direktorin des Zentrums für Kulturforschung in Bonn, vernetzen wollen und Kompetenzen der qualitativen Entwicklung der Ganztagsschulen zur Verfügung stellen. So hat die Yehudi-Menuhin-Stiftung mit der gemeinsamen Fortbildung von Lehrkräften und Künstlern Maßstäbe gesetzt: Künstler und Lehrer werden in einem dreistufigen Prozess gemeinsam ausgebildet.
"Die Künstler werden darauf vorbereitet, mit Konflikten kreativ umzugehen und zwar sowohl sozio- wie psychodynamisch" erläuterte Winfried Kneip. Allerdings muss hinzugefügt werden: "Das Projekt MUSE ist teuer." Die ausgebildeten und zertifizierten Koordinatoren müssten schließlich bezahlt werden. Bislang wurden 706 Klassen mit rund 20.000 Schülerinnen und Schülern, 300 Kunstschaffenden und 180 Schulen erreicht.
"Unter drei Jahren Zusammenarbeit fangen wir gar nicht an". Allerdings wandte ein Teilnehmer ein, dass nicht nur die Künstler auf Konflikte vorbereitet werden müssten, sondern auch Sozialpädagogen oder das Quartiersmanagement vor Ort. Natürlich müssten die Lehrkräfte lernen, sich zu öffnen.
Die Früchte des ersten Themenateliers können demnächst von einer interessierten Fachöffentlichkeit gewürdigt werden. Eine Publikation mit dem Titel "Bilanz über die Qualität in Kulturkooperationen nach drei Jahren Programmarbeit im Themenatelier `Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen0", soll ab Dezember 2008 unter www.ganztaegig-lernen.de erhältlich sein.
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