Kooperationen zwischen Kiel, Weimar und Freiburg : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Der 3. Ganztagsschulkongress, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Kultusministerkonferenz in Kooperation mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung veranstaltete, ist schon wieder vorüber. Die Kontakte, Kooperationen und vielen Anregungen, die die über 1300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mitnehmen, beleben jedoch den Schulalltag und legen den Grundstein für Innovationen des Bildungssystems. Ein Streifzug durch die Vielfalt der Themen des 3. bundesweiten Ganztagsschulkongress am 22. und 23. September 2006 in Berlin.
Wer ein zentrales Haus der Ganztagsschulen sucht, findet es mitten in Berlin, am Alexanderplatz: das berliner congress center (bcc), ein auffälliges, modernes, aber zeitloses Haus. Im Sonnenschein glänzt von Ferne die runde Aluminiumkuppel, im Innenbereich bietet die Kubusform des denkmalgeschützten Gebäudes genug Raum für Foren, Workshops, Ausstellungen und festliche Versammlungen. Zwei schwungvolle Wendeltreppen führen ins Obergeschoss, das den Zugang zum blau-violett beleuchteten Kuppelsaal freigibt.
Der Saal, der an ein Laboratorium für Innovation und kreative Ideen erinnert, war Ort des Auftaktes und des künstlerischen Finales "OzonTanz" für die rund 1.300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den 16 Ländern zwischen Rostock und Freiburg. Dort begegneten sich jene Geister und Akteure, die die Veranstalter des Ganztagsschulkongresses ausdrücklich gerufen hatten: die Schulen und ihre Kooperationspartner.
Die Bühne des Kuppelsaales entpuppte sich als ein kreatives Feld der Begegnung und des Dialoges für Politik und Wissenschaft, Jung und Alt sowie Pragmatiker und Kreative, Pädagogen und außerschulische Kräfte. Sie alle engagierten sich - wie einen Tag zuvor Bundespräsident Horst Köhler in seiner bildungspolitischen Grundsatzrede - für anhaltende Innovationen im Bildungssystem.
Die Gretchenfrage der Generationen
Geballte wissenschaftliche Kompetenz des Kongresses konzentrierte sich in dem Kuppelsaal. Dort moderierte Dr. Petra Gruner vom BMBF eine wissenschaftliche Vortragsreihe, die renommierte Vertreterinnen und Vertreter der Ganztagsschule aus Deutschland und Europa zusammenbrachte. Die Botschaften, die die überwiegend der Wissenschaft zugehörigen Experten den Praktikern überbrachten, machten Mut, sie regten aber auch zum Nachdenken an.
Eindrücke aus dem Kuppelsaal: Dr. Petra Gruner vom BMBF gibt den Startschuss für die wissenschaftliche Vortragsreihe.
So lenkte der Familienforscher Prof. Hans Bertram zum Auftakt der Vortragsreihe, die Aufmerksamkeit auf die Generationenfrage und den demographischen Wandel: "Deutschland investiert mehr in die Besitzstände meiner Generation. Andere Länder investieren mehr in die nachwachsenden Generationen." Die Bundesrepublik gebe rund 10 Prozent des Bruttoinlandproduktes für das Gesundheitswesen aus und investiere somit überproportional in die Versorgung der älteren Generationen. Dem Land gehen die Kinder aus, doch die Investitionen für die "vorschulische Erziehung und Betreuung liegen europaweit hinten", Bertram fuhr fort: "Wir haben am traditionellen Familienmodell festgehalten", obwohl die ökonomische Basis dafür, also der Dauerarbeitsplatz, zunehmend verschwinde. In Deutschland reiche das Einkommen des Hauptverdieners immer seltener aus, um eine Familie über die Runden zu bekommen.
Großstädtischen Ballungsräumen drohten zudem Probleme durch den Wegzug der besser gestellten Familien: die Zahl der deutschen Kinder nimmt ab und die der Migrantinnen und Migranten - mit einer (wissenschaftlich ausgedrückt) doppelt so hohen Reproduktion - nimmt deutlich zu. Dies habe Auswirkungen auf die Qualität von Schulen. Rein staatlich strukturierte Systeme könnten diese Probleme, die sich zur größten Herausforderung des Bildungssystems erwachsen, nicht mehr bewältigen. Deshalb sieht Bertram in der Neuorganisation der Ganztagsschule eine echte Chance. Die "Mischung aus Schule, professionellen Betreuern, Eltern und der Vielfalt der Kooperationspartner" ist für ihn der richtungsweisende Weg: "Die jungen Männer gehen dem Bildungssystem sonst verloren", warnte der Familienforscher und federführende Autor des siebten Familieberichtes der Bundesregierung.
Kooperationen in den Ländern
Was eben noch in systematischer, wissenschaftlicher Form erörtert wurde, fand nicht selten in der Kongressausstellung seine praktische Entsprechung. Wenige Meter vom Kuppelsaal entfernt hatte die Sekundarschule Friedrichstadt in Wittenberg als eine von rund 30 eingeladenen Beispielschulen ihren Standort bezogen. Dank geeigneter Partner hat sich diese Ganztagsschule zu einem kulturellen Zentrum mitten in einem Brennpunktbezirk entwickelt. Die Zusammenarbeit mit dem nahe gelegenen Seniorenheim ist Ulrich Apel eine besondere Erwähnung wert: "Wir machen jeden Monat anlässlich der vielen Geburtstagsfeiern ein spontanes Programm für die Senioren", erläutert der Lehrer für Deutsch und Geschichte, der sich zusätzlich im Förderverein der Schule engagiert.
Ulrich Apel, Tobias Gossmann und Ilir Etemi von der Sekundarschule Friedrichstadt in Wittenberg (v.l.n.r.). Viele Einzelpersonen zusammen in einem Boot: Ganztagsschulen bieten mehr Zeit für Musik oder Sport.
Im Unterschied zu vielen Halbtagsschulen bereitet der hohe Migrantenanteil der Sekundarschule Friedrichstadt kaum Probleme. Das Zusammenleben zwischen Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund ist weitgehend konfliktfrei. "Wir sind sehr gemischt und verstehen uns gut", sagte der 17jährige Ilir Etemi. Der albanische Schüler fügt hinzu: "Wenn der Unterricht vorbei ist, haben wir noch den ganzen Tag Zeit, um in der Schule Sport zu machen oder im Internet zu surfen". In der Sekundarschule Wittenberg fühlt sich Etemi wie in "einem Boot" und als Teil einer großen Mannschaft.
Die Ganztagsschule verknüpft ein sportliches mit einem kreativen Profil. Dafür braucht es außer qualifiziertem Personal geeignete Räume. Das Land Sachsen-Anhalt hat die erforderliche Sanierung des Gebäudes mit 2,5 Mio. Euro aus dem Investitionsprogramm des "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) unterstützt: "Eine gebundene Ganztagsschule ist auf eine materielle Basis angewiesen", betont Ulrich Apel. Auf dem 3. Ganztagsschulkongress hat der Lehrer viele Kontakte aufgebaut: mit einer Schule, die aus Bayern kommt und einer weiteren aus Hessen. "Alle, die hierher gekommen sind, wollen doch etwas erreichen."
Kooperationen jenseits des nationalen Tellerrandes
Ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen nehmen keine Rücksicht mehr auf nationale Grenzen. Die damit einhergehende Annäherung der Bildungssysteme in Europa, die derzeit im Rahmen der europäischen Hochschullandschaft stattfindet, verlangt von den Schulen perspektivisch eine stärkere internationale Ausrichtung. Schulen, wie die Sekundarschule Friedrichstadt in Wittenberg greifen auch diese neuen Anforderungen auf, in dem sie Schulpartnerschaften nach Dänemark und Tschechien pflegen. "Jede Lehrerin und jeder Lehrer bringt seine eigenen Kontakte ins Ausland ein", sagt Apel mit Bezug auf die Schulpartnerschaften. Ein Blick auf viele andere Ausstellerschulen in Berlin bestätigte diesen Eindruck.
Überhaupt zeigen internationale Beispiele wie Frankreich, Schottland, Österreich oder Italien, deren Betreuungs- und Bildungssysteme im Rahmen der wissenschaftlichen Vortragsreihe vermessen wurden, den großen Stellenwert, den die ganztägige Bildung und Betreuung im Zuge des demographischen und gesellschaftlichen Wandels einnimmt. Allen Ländern gemeinsam sind Phänomene wie die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Probleme bei der Integration von Migrantinnen und Migranten oder der anhaltende Geburtenrückgang.
Eine Antwort auf PISA sind bessere Kooperationsmodelle
Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt angesichts der PISA-Ergebnisse entwickeln diese Länder neue Schwerpunkte und Lösungsansätze für die zentrale Zukunftsfrage ihrer Gesellschaft: die Bildung aller Kinder und Jugendlichen. Probleme können übrigens ungeahnte Chancen bergen: "Der Geburtenrückgang eröffnet uns große Chancen, wenn bei gleich bleibenden Investitionen in das Bildungssystem, die Qualität für alle verbessert wird", sagte Hans Bertram.
Dr. Anja Durdel von der DKJS fasst die Themen des ersten Kongresstages zusammen.
Die Zukunftsfähigkeit der Ganztagsschule in Deutschland sah der Familienforscher am ehesten gegeben, wenn sie sich an einem kooperativen Modell orientiere. Wie dicht geknüpft der Teppich des kooperativen Modells ist, wenn dabei gute Kooperationen zustande kommen, brachte Dr. Anja Durdel von der DKJS zum Ausdruck. Sie fasste die Diskussionen des ersten Kongresstages zusammen. Kooperation gelinge, wenn - wie das Beispiel "RHYTHM IS IT!" zeige - "Begeisterung und Konzentration auf Prozesse" entstehe". Eckpfeiler der Kooperation seien ferner die Teamarbeit. Diese brauche Dialog und Respekt, aber auch Mut zum Konflikt zwischen Partnern.
Lernende Schulen - so ein weiterer Eckpfeiler - brauchen lernende Kommunen und eine lernende Verwaltung: "Schulen und Kommunen brauchen gemeinsame Zielvereinbarungen und Qualitätsinstrumente". Dritter Eckpfeiler: Schule und Partner wachsen am ehesten zusammen, "wenn sie gut sind". Vierter Eckpfeiler: Geförderte Ganztagsschulen sollten nur noch mit ganztagsspezifischen Lehrerarbeitsmodellen arbeiten dürfen: "Die Präsenszeiten der Lehrerinnen und Lehrer sind der zentrale Zugang zum guten Ganztag". Vor diesem Hintergrund stellte sich eine der wichtigsten Fragen: Wie können die neu entstandenen Ganztagsschulen nach ihrem euphorischen Start den qualitativen Erwartungen der Gesellschaft auf Dauer gerecht werden?
Lernende Schule sucht Partner
"Partner gesucht": diese Kontaktanzeige an der Stellwand im Untergeschoss des bcc war nicht zur privaten Anbahnung von Kontakten gedacht. "Wir sind freiwillig hier, um die Leute zu vernetzen", erläutert die 17jährige Schülerin Claudia Schönsee. An der Stellwand hängt ein Korb mit zahlreichen ausgefüllten "Kooperations-Profilbögen". "Trotz Vortragsreihe, trotz zahlreicher Foren", so Schönsee, sei das Interesse bei allen Ländern sehr groß. Rund 70 ausgefüllte Bögen in eineinhalb Tagen haben die 130 Schülerinnen und Schüler der Servicestelle Jugendbeteiligung und des SV Bildungswerkes im Rahmen des Programmpunktes "Kooperation konkret" zusammengetragen. "Agentur für Schulbegleitung sucht Netzwerk für Schulberatung", zwecks "Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Bundesländern", so der Wortlaut einer der vielen Kontaktanzeigen, den die orange gekleidete Schülertruppe entgegennahm.
Die Schülerin Claudia Schönsee vor der Stellwand mit den "Kooperations-Profilbögen".
Zum letzten Akt des Kongresses vereinigten sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses wieder im Kuppelsaal. Im abgedunkelten Saal schreiten die "Erde" und die "Ozonschicht" auf die Bühne zu: sie werden von einem unsichtbaren Phänomen in Bann gehalten, dem zerstörerischen FCKW. Jetzt strömen die jungen Tänzerinnen und Tänzer, die das FCKW verkörpern, auf die Bühne, bilden Molekülstrukturen, Polarstürme: eine globale Ökokatastrophe aufgeführt von 22 Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Kooperationsprojektes "OzonTanz". Zwei Bremerhavener Schulen, die Tanzpädagogin Claudia Hanfgarn und das Alfred-Wegener-Institut für Ozon- und Meeresforschung haben dieser Aufführung ihr unverwechselbares Gesicht gegeben. Brandender, lang anhaltender Applaus. Kooperation, die ihre Erfüllung auf der Bühne findet, kann unter die Haut gehen.
"OzonTanz" meets "RHYTHM IS IT!"
Für solche kulturellen Projekte brauchen "die Lehrer aber die professionelle Unterstützung von außen", so die Erkenntnis von Royston Maldoom: "Der Tanz hat eine körperlich-geistige Verwandlungskraft, weil er eine gesellschaftliche Kunstform ist, die mit allem arbeitet, was wir sind", fügt der charismatische Tanzchoreograph aus England hinzu.
Zum Grande Finale die Aufführung "OzonTanz". Royston Maldoom und Claudia Hanfgarn über die Kunst, den Tanz zu lehren.
Maldoom ist durch den Film "RHYTHM IS IT!" zu Ruhm gekommen. Sein "unerschütterlicher Glauben" in das Tanzvermögen seiner Berliner Hauptschülerinnen und die gemeinsame Aufführung von Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps" verhalfen ihm und dem Dirigenten Sir Simon Rattle zu einem berauschenden Erfolg, der die kulturelle Bildung der Ganztagsschulen wohl nachhaltig beeinflussen wird. Maldooms subjektorientierte Methode beinhaltet bedingungsloses Vertrauen in die Schülerinnen und Schüler, die Vermittlung von Leidenschaft und Begeisterung an der Sache, das konsequente Einhalten der vereinbarten Regeln und nicht zuletzt den Einsatz für jeden Einzelnen. Zentral ist aber der immerwährende Dialog, denn die Künstler müssen "die Sprache der Didaktiker und die Didaktiker die Sprache der Künstler verstehen" lernen.
Die Leuchtturmpolitik solcher Projekte wie "RHYTHM IS IT!" ist insbesondere dann sinnvoll, "wenn sie durch große Öffentlichkeit auch in die Fläche ausstrahlt", befindet der Kulturwissenschaftler Dr. Wolfgang Zacharias. Um die Kultur in die Fläche zu tragen, plant die nordrhein-westfälische Landesregierung auf beispielhafte Weise ihren Kulturetat von 70 Mio. auf 140 Mio. Euro zu verdoppeln. Für den Kulturstaatsminister Hans-Heinrich Große-Brockhoff bietet die "Ganztagsschule eine riesige Chance, dass Kultur und Schule zusammen kommen".
Fernsehmoderatorin Inka Schneider erörtert den Stellenwert der kulturellen Bildung an Ganztagsschulen mit Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Große-Brockhoff und den beiden Tanzchoreographen. Der Ganztagsschulkongress ist für die Geschäftsführerin der DKJS, Heike Kahl, eine "bildungspolitische Instanz" geworden.
Nach eineinhalb Tagen im inoffiziellen Haus der Ganztagsschule zog Heike Kahl ein ermutigendes Fazit der Veranstaltung: "Über 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind gekommen, viel mehr hätten kommen wollen. Dank an das Bundesministerium für Bildung und Forschung, Dank an Ministerin Dr. Annette Schavan". Der Kongress sei im Hinblick auf den Stellenwert der Ganztagsschulen "eine bildungspolitische Instanz geworden". Dass das "Zeitfenster für Bildungsreformen trotz starker Winde" nicht zugeschlagen wurde, zeigt auch unser dritter Bericht zum 3. Ganztagsschulkongresses, der weitere Stimmen aus den Ländern zusammenträgt.
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