Jüdische Kultur in der Hamburger Joseph-Carlebach-Schule : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Auf dem Bundeskongress 2010 in Hamburg zum Thema "Zukunftsaufgabe Ganztagsschule - Impulse für die Weiterentwicklung" besuchten Kleingruppen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern am zweiten Kongresstag 20 Ganztagsschulen in Hamburg, darunter die Joseph-Carlebach-Schule im Stadtteil Eimsbüttel. Die gebundene Ganztagsschule der Jüdischen Gemeinde hat im Jahre 2007 nach 68 Jahren ihren Betrieb wieder aufgenommen.
Ebenso wenig wie man die Joseph-Carlebach-Schule als eine gewöhnliche Schule bezeichnen kann, ist Gerd Gerhard ein alltäglicher Schulleiter: Der Mann kann aufmerksam zuhören, Prozesse analysieren, geschickt argumentieren, außerdem kann er organisieren und wichtige Entscheidungen rasch treffen. Hinzu kommt, dass Gerhard ein aufmerksamer Gastgeber ist, der seinen Besuchern Neugier entgegenbringt und den nötigen Raum für Fragen eröffnet. So war der Rahmen für einen interessanten und informativen Schulbesuch bereitet". Mit der Gründung der Joseph-Carlebach-Schule sollte, so Schulleiter Gerd Gerhard, die lokale jüdische Kultur wiederaufleben. Dies sei nicht nur das erklärte Ziel der Jüdischen Gemeinde, sondern auch der Freien und Hansestadt Hamburg, so Gerhard, der die jüdische Schule seit August 2010 leitet.
Der Rektor verfügt neben seiner jahrelangen Erfahrung als Lehrer und Schulleiter über eine profunde Kenntnis der christlichen und jüdischen Religion. Er leitete zuvor eine katholische Grundschule und hat eine staatliche Ganztagsschule aufgebaut. Nun nimmt Gerhard an der Seite des Rabbiners und Religionsbeauftragten Shlomo Bistritzky die historische Aufgabe wahr, nicht nur die jüdische Grundschule im Stadtteil aufzubauen, sondern mit ihr auch die jüdische Kultur im Herzen Hamburgs zu verankern. Die Schule der jüdischen Gemeinde trägt den Namen des Gelehrten und ehemaligen Hamburger Oberrabbiners Dr. Joseph Carlebach (1883-1942).
Dieser hatte über fünf Jahre die damalige Talmud-Tora-Schule geleitet und geprägt. Seine Erziehungsprinzipien zielten vor allem darauf ab, die Schüler individuell zu fördern und zu selbstständigem Lernen und Entdecken anzuleiten. Das erklärte Ziel Gerhards ist es, hieran anzuknüpfen und jüdische Tradition mit gesellschaftlicher Offenheit und Toleranz zu verbinden. Dass die Grundschule von Anfang an als eine Ganztagsschule und damit als ein Haus des Lernens und Lebens konzipiert wurde, ermöglichte die Verknüpfung von zeitgemäßem Unterricht und Erziehung zum jüdischen Glauben. Gemäß dem zitierten afrikanischen Sprichwort "Um ein Kind zu erziehen, benötigt man ein ganzes Dorf", sind auch die Eltern dazu aufgefordert, sich aktiv am Schulleben und an Projekten zu beteiligen.
Neugierige, zugewandte Kinder während des Rundgangs durch die Schule. Rechts: Schulleiter Gerd Gerhard in seinem Büro
"Die lieben Kleinen haben immer Vorrang"
Bekanntermaßen benötigt jede effiziente Schulleitung ein Sekretariat, das die Fäden in der Hand hält, vom Schriftwechsel mit den Behörden, über Elternanfragen, bis hin zu den vielfältigen Anliegen der Kinder. "Die lieben Kleinen haben für mich immer Vorrang", erklärt die Liat Golan, die seit der Gründung der Schule das Schulbüro leitet. Dieses versteht sie als Kommunikationszentrum der Schule: "Hier ereignet sich alles: Die Wellen der Ereignisse rollen pausenlos heran." Ihre Aufgabe sei es, dem Schulleiter den Rücken freizuhalten. Das Telefon klingelt pausenlos, Golan antwortet abwechselnd auf Deutsch oder Hebräisch. Viele Telefonate führt sie mit den Eltern der Kinder.
Kaum gegründet, verzeichnet die Schule ein rapides Wachstum der Schülerzahl: Startete die Joseph-Carlebach-Schule am Tag ihrer Gründung am 28. August 2007 mit zwölf Kindern, stieg die Zahl im Jahr 2008 bereits auf 26, ein Jahr darauf waren es schon 46 und im Jahr 2010 sogar 88 Kinder: "Wir verzeichnen jedes Jahr eine Verdoppelung der Schülerzahl", freut sich Schulleiter Gerhard über den Trend. Gemessen an ihrer Glanzzeit, als die Schule 750 Schülerinnen und Schüler hatte, sei noch ein langer Weg zurückzulegen. Dabei sei sich die Jüdische Gemeinde als privater Träger der heutigen Grundschule ihrer Geschichte überaus bewusst.
NS-Vergangenheit: "Die Kinder aus dem Unterricht heraus verhaftet"
Nach der Pogromnacht 1938 sei ein Drittel der Kinder nicht mehr zum Unterricht erschienen, erläutert Gerhard: "Die Kinder wurden sogar aus dem Unterricht heraus verhaftet." Jüdisches Schulleben war noch bis 1942 unter wachsenden Repressionen geduldet, doch im selben Jahr wurden die letzten Lehrerinnen und Lehrer nach Theresienstadt und Riga deportiert. Bis heute ist die Geschichte der Joseph-Carlebach-Schule gegenwärtig. So findet man in dem Schulgebäude eine Mahntafel für die Opfer des Nationalsozialismus - darunter Carlebach selbst.
Die Verbindung von Geschichte und Gegenwart zeigt sich aber auch darin, dass viele Schülerinnen und Schüler laut Gerhard aus dem ehemaligen Ostblock kommen, von wo aus ihre Familien aufgrund des zunehmenden Antisemitismus nach Deutschland geflohen waren. Auch die Kinder sind sich der Besonderheit und der Last der historischen Vergangenheit bewusst, erklärt Liat Golan. Dies zeigte sich auch, als die Kinder die 26 Besucherinnen und Besucher mit einem jüdischen Kinderlied ("Sura") verabschiedeten. Es handelt von Dunkelheit und Licht, erklärt Golan: "Aber das Licht behält die Oberhand."
Die Besonderheit der Schule wird dem Besucher auch dadurch deutlich vor Augen geführt, dass ein spontaner Besuch hier aufgrund der polizeilichen Sicherheitskontrollen nicht möglich ist. "Viele sagen, wir leben in einem Ghetto. Aber das Schulleben selbst ist nicht wie ein Ghetto", meint Liat Golan und fügt stolz hinzu: "Es ist eine Erfüllung, hier zu arbeiten und den Kindern unsere Identität mitzugeben."
Liat Golan leitet das Schulbüro. Rechts: eine freundliche Atmosphäre in der Mensa
Zwar ist der Jüdischen Gemeinde der Glaube sehr wichtig, aber er ist laut Gerhard keine primäre Bedingung für die Aufnahme von Kindern oder Lehrkräften ins Kollegium. Von den zehn Lehrkräften sind fünf jüdischen Glaubens. 70 Prozent der Kinder sind jüdischen Glaubens. Auch die nichtjüdischen Kinder müssen am Hebräisch- und Religionsunterricht teilnehmen. Überhaupt spielt die Spracherziehung eine große Rolle. Neben Hebräisch erhalten die Kinder etwa Deutsch-, Russisch- und Englischunterricht.
Tal AM-Programm: Vermittlung von Sprachkompetenzen und Werten
Beim Hebräischunterricht kommt das Tal AM-Curriculum zur Anwendung, das im Kern darauf abzielt, das hebräische Erbe mehrdimensional zu erlernen. Das Programm wurde im Bronfman-Center für jüdische Erziehung in Montreal (Kanada) entwickelt - es führt Lesen, Schreiben, Sprechen zusammen und vermittelt jüdische Werte. Bei diesem aktiven Lernen werden Bücher, Spiele, aber auch multimediale Unterrichtsmaterialien wie Hörspiele, Videos und Musik eingesetzt.
Da die jüdische Kultur traditionell großen Wert auf die allgemeine Bildung der Kinder legt - und zwar gleichermaßen bei Jungen und Mädchen - werden die Eltern durch Verträge zu einer verbindlichen Kooperation mit der Schule aufgefordert. Die frühe Einweisung in die jüdische Tradition wie den Talmud bringt es ferner mit sich, dass die Kinder nicht nur zum selbständigen Denken erzogen, sondern auch ermutigt werden, sich anspruchsvolle Ziele zu setzen.
Ein Vorteil der Grundschule, die in dem Gebäude der ehemaligen Talmud Tora Schule untergebracht ist, besteht darin, dass sie über moderne Klassenräume, Differenzierungsräume, Mensa, Computerraum (mit moderner Technik), eine Bücherei und eine herausragende Aula für die Gemeinschaftsveranstaltungen verfügt. Die Räumlichkeiten ermöglichen die Differenzierung und Individualisierung im Unterricht sowie in der Wochenplanarbeit. Lehrertandems im Unterricht unterstützen die individuelle Förderung und das Unterrichten von jahrgangsübergreifenden Gruppen.
Hebräisch spielt auch optisch eine große Rolle in den Klassenzimmern. Rechts: Mario Dobe, Schulleiter der Hunsrück-Grundschule in Berlin-Kreuzberg nahm am regen Austausch teil
Akute Raum- und Finanzfragen
Angesichts des rapiden Wachstums der Schule eröffnet sich ein Problem, wie Gerhard verdeutlichte: Die derzeitige Mehrfachnutzung des Schulgebäudes durch die Jüdische Gemeinde und die Schule sei künftig wohl nicht mehr durchführbar. Die Gemeinde werde sich früher oder später um eine andere Unterkunft kümmern müssen. Das dürfte wiederum der Schule zugute kommen, die ja als Ganztagsgrundschule von 8:15 bis 15:30 Uhr geöffnet ist. "Wir überdenken momentan die Rhythmisierung der Schule", gab Gerhard zu bedenken. Die Leistungsfähigkeit der Schule solle aber nicht zuletzt durch diverse Qualitätssicherungssysteme wie Supervision, Hospitation, Fortbildungen, Evaluation sowie über Vergleichsarbeiten gewährleistet werden.
Auch die Frage der künftigen Finanzierung der Joseph-Carlebach-Schule ist ein zentrales Thema. Als private Schule, finanziert von der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, der Freien und Hansestadt Hamburg sowie durch ein monatliches, einkommensabhängiges Schulgeld von bis zu 200 Euro monatlich, scheint sie zunächst gut dazustehen. Doch der Eindruck trügt, wie Schulleiter Gerhard verdeutlichte. Momentan sind 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler Vollzahler. Um die Kosten zu decken, benötige die Schule 30 Prozent Vollzahler oder 140 Kinder. "Unsere Klientel gehört nicht zu den Betuchten", erklärt Gerhard die finanzielle Situation.
Als private Schule in ständiger Veränderungsbereitschaft
Hinzu kommt der Missstand der klammen öffentlichen Finanzen in Hamburg. Das Land hat infolge der Finanzkrise des Jahres 2008 einen deutlichen Sparkurs eingeschlagen. Dies bekomme die Schule in Form von Kürzungen voll zu spüren, während die Härteausgleiche vollständig weggefallen seien: "Wenn uns 100.000 Euro pro Jahr fehlen, spüren wir das erheblich", beschreibt der Schulleiter die Lage - und fügt hinzu: "Als private Schule müssen wir die Einsparungen erwirtschaften."
So stellt sich für die Jüdische Gemeinde die Frage, ob sie ihre Schulträgerschaft künftig an eine Stiftung abtrete, um die Finanzierung auf andere Beine zu stellen. Keine Frage: Die Joseph-Carlebach-Schule besitzt für die Zukunft gute Chancen, doch muss sie für wirtschaftliche Probleme adäquate Antworten finden und ihre Stärken kultivieren. Mit ihrer Qualität wird sie wohl neue Partner und finanzielle Mittel erschließen können. Dann dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die jüdische Kultur einen festen Platz in dem Stadtviertel um den Grindelhof erobert.
Kategorien: Service
Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000