Ganztagsschulkongress 2005: Vertrauen schafft Zukunft : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Aufbruchstimmung und internationales Flair zog sich durch den zweiten Ganztagsschulkongress am 2. und 3. September 2005 im Berliner Kongresscenter bcc. Die Ganztagsschulen sind endlich in der bundesdeutschen Schullandschaft angekommen: Sie werden allmählich - wie in ganz Europa - selbstverständlich. Das zeigte sich auch in den sechs Arbeitsforen zum Thema individuelle Förderung und nicht zuletzt in den Regionalen Foren der 16 Bundesländer am zweiten Tag des Kongresses. Die Arbeit hat begonnen - und die Professionalisierung ist in vollem Gang.
"Es macht Spaß nach Deutschland zu kommen, denn hier wird Schule noch diskutiert." Rainer von Groote, der als Deutscher seit 25 Jahren in Schweden lebt, hatte keinen Grund, seine Zufriedenheit zu verbergen. Von Groote, ein aufgeschlossener und Vertrauen erweckender Mann, war als Referent für das schwedische Schulentwicklungskonzept "Skola 2000" zum zweiten Ganztagschulkongress eingeladen worden. Schweden und Finnland, - beim Fördern starker oder schwacher Schülerinnen und Schüler sind sie beispielgebend geworden.
Nicht wenige betrachten sie gar als Entwicklungshelfer, zumindest aber als Vorbilder, denn seit PISA hat es sich herumgesprochen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen schulischer Leistung und individueller Förderung gibt. Individuelle Förderung, die mit einer Kultur der Wertschätzung des Einzelnen verbunden ist, wurde in Deutschland aus historischen Gründen lange Zeit vernachlässigt. Deshalb ist beim Thema individuelle Förderung der Blick ins Ausland ebenso notwendig wie das Ausfindigmachen guter Beispiele in Deutschland selbst.
Ein Deutscher, der in Schweden lebt und arbeitet: Rainer von Groote.
Auf die Stärken kommt es an
Mit Rainer von Groote und der Schulleiterin Karin Bossaller war schwedische Gelassenheit in Forum 1 eingezogen. "Jedes Kind hat seine Stärken - individuelle Förderung im Unterricht" lautete die Überschrift zum Forum 1. Dass die Schwedin Bossaller eine Beispielschule leitet, nämlich die Grundschule an der Gramker Heerstraße in Bremen, ist ein Beleg dafür, dass skandinavische Managementkompetenz von Nutzen ist, weil sie dem Anspruch der Schülerinnen und Schüler auf individuelle Förderung besonders gerecht wird: "Schluss mit dem defizitären Blick, der Entwicklung hemmt", forderte die Schulleiterin. Stärken müssen wahrgenommen und anerkannt werden. "Kinder lernen auf unterschiedliche Weise - dafür muss in der Schule Platz sein. Und: Kinder brauchen klare Lernziele, die für sie sichtbar und verständlich im Lernraum präsent sind. Lernziele, die - ausgehend von ihren Stärken - gemeinsam evaluiert werden." Doch Bossaller redet nicht nur, sie lässt ihren Worten, wie im Film "Treibhäuser der Zukunft" von Reinhard Kahl zu sehen, auch Taten folgen.
Karin Bossaller gehört ebenfalls zu jenem Menschentyp, der auf Anhieb Vertrauen einflößt: in sich selbst ruhend, aufmerksam, hilfsbereit. Schülerinnen und Schüler bekommen von ihr ein emotionales Grundnahrungsmittel geschenkt: Anerkennung und Wertschätzung unabhängig von ihrer Leistung. Und dennoch gelingt es der Grundschule, den Kindern auch Lust an Leistung und Erfolg, also an Selbstwirksamkeit zu vermitteln. An der Grundschule an der Gramker Heerstraße lernen Schülerinnen und Schüler in altersgemischten Gruppen. Abwechselnd mit Unterricht und Freizeit. Der Tag ist so rhythmisiert und die Lernarrangements sind so angelegt, dass Selbstständigkeit und Gemeinschaft gleichzeitig zu ihrem Recht kommen. "Die Schule wird ein Ort zum Lernen und Leben", so Bossallers Resümee.
Karin Bossaller: Anerkennung und Wertschätzung als Grundnahrungsmittel.
Skola 2000: Vorweggenommene Zukunft
Eine Schwedin in Deutschland und ein Deutscher in Schweden, vielleicht sieht so die Zukunft der Ganztagsschulen in einigen Jahren in Europa aus? Rainer von Groote stellte im Forum 1 das schwedische Konzept Skola 2000 vor, das von Ingemar Mattson entwickelt wurde. Von Groote war Lehrer und Schulleiter in Schweden. Als freier Mitarbeiter von Skola 2000 war er ein Handlungsreisender in Dingen individuelle Förderung nach schwedischem Rezept. Schulen, die in Schweden nach dem Konzept von Skola 2000 arbeiten, gelten als Vorbildschulen, nicht zuletzt deswegen, weil sie außer Innovationen besondere Erfolge bei PISA verbuchten. Skola 2000-Schulen gibt es außer in Schweden auch in Dänemark und Norwegen.
Arbeiten in Workshops in Forum 1: "Jedes Kind hat seine Stärken - individuelle Förderung im Unterricht."
Skola 2000 sieht laut von Groote individuelle Lehrpläne für die Schülerinnen und Schüler vor. "Die Verantwortung für den Erfolg der Kinder und Jugendlichen liegt bei der Schule selbst", so der Bildungsberater. Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in fünf- bis achtköpfigen Teams und sie begreifen sich als Mentoren und Betreuer. Die Teams moderieren fächerübergreifenden Unterricht für Schülergruppen von bis zu 80 Kindern und Jugendlichen. Und: "Die Lehrer definieren in einem persönlichen Gespräch mit den Schülern oder den Schülergruppen die Ziele.
Skola 2000 bedeutet insbesondere Schülerpartizipation: Um acht Uhr in der Früh wird in einer Morgenversammlung die Tagesorganisation besprochen. "Schwache Schüler können nicht sitzen bleiben und starke werden individuell gefördert", so von Groote weiter. Ebenso wie an der Grundschule an der Gramker Heerstraße gibt es bei Skola 2000-Schulen für die besagten Schülergruppen Lernhäuser statt Klassen. Architektonisch zeichnen sich diese Schulen durch Offenheit, viel Licht und Intimität aus. "Es gibt viele kleine Schulen innerhalb der großen Schule", ergänzt von Groote.
Zukunftsschulen in Deutschland
Was den Schweden durch eine reformfreudige Schulpolitik gewissermaßen in den Schoß fiel, ist in Deutschland eher eine Frucht langjähriger Anstrengung: "Der Prozess unserer Schulwerdung ist das Ergebnis 35-jähriger harter Arbeit", sagt der bekannte Schulleiter der Bodenseeschule Alfred Hinz im Forum 1. Die Herausforderung für die Bodenseeschule besteht darin, "Schule neu zu denken, von der ersten Stunde am Montagmorgen bis zur letzten Stunde am Freitagnachmittag".
Vor diesem Hintergrund hat die Schule sieben Strukturelemente entwickelt: Morgenkreis, freie Stillarbeit, vernetzter Unterricht, Fachunterricht, Mittagsfreizeit, Handwerkserziehung und Freizeiterziehung. "Das zielt darauf, die Stärken jedes einzelnen Kindes herauszufinden und individuell zu fördern", so Hinz. Dem liege auch eine radikal andere Form von Schule zugrunde.
Bildungschancen für alle?
Bildungschancen für alle - davon ist man in Deutschland noch immer weit entfernt. Doch ihnen gilt ein Großteil der Bildungsreforminitiativen, darunter des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Es ist ein wesentlicher Ansatzpunkt für das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" des Bundes, das mit dem Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen auch den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufbrechen will. Nicht zuletzt deshalb will man in Deutschland von Skandinavien lernen. "Eine Schule für alle - den Kreislauf von Sozialschicht und Schulerfolg durchbrechen", lautete entsprechend der Vortrag im Workshop von Prof. Christian Palentien von der Uni Bremen.
Prof. Palentien über die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg.
Palentien überraschte mit einer provokativen These: "Wir haben mit allen Reformen viel erreicht, nur nicht das Subjekt." Viele Kinder und Jugendliche lassen sich nicht mehr mit herkömmlichen Bildungsangeboten ködern. Palentien schlug deshalb vor, formale Bildung (Schule), nonformale (Jugendzentren, Studienkreise) und informelle Bildung (Peers, Medien u. a.) zusammenzuführen. "Die Möglichkeiten hierzu kann man an Ganztagsschulen wesentlich besser entwickeln", so der Wissenschaftler.
Auf der Suche nach dem Subjekt
Verschiedene Maßnahmen führen für Palentien zum Ziel einer Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Zum Beispiel den Unterricht nicht immer undifferenziert auf alle auszurichten, in der Hoffnung, dass das Niveau der Einzelnen steige. Risikokinder müssten gezielt angesprochen werden. Die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule solle intensiv ausgebaut werden und finanzielle Förderung in jene Stadtteile und Sozialräume fließen, die benachteiligt seien. "Wir müssen weg von der Defizitperspektive hin zur Straße", folgerte Palentien. Zum Leistungsportfolio gehört für den Experten nicht nur Mathe, sondern auch Sport und Hip Hop. Schule als Lernort müsse als Lebensort umstrukturiert werden, statt Entmischung müsse die Heterogenität gefördert werden. Palentien forderte vor diesem Hintergrund für alle Lehramtsstudenten eine integrative, sonderpädagogische Ausbildung.
Das Prinzip der individuellen Förderung fängt ganz früh an, es unterstützt bereits die elementaren Grundlagen schulischer Bildung: "Der Schulerfolg hängt wesentlich von einer guten Lese-Rechtschreibkompetenz ab", so Urte Wehrhahn im Workshop "Fördern mit Konzept" im Forum 1. An der IGS Vahrenheide in Niedersachsen hat die Pädagogin das Konzept der "Individuellen Förderplanung" eingeführt - für Fünft- und Sechstklässler. "Zuerst wird die Lernausgangslage aller Schüler, die in die fünfte Klasse eingeschult werden, untersucht", so Wehrhahn. Drei Instrumente kommen dabei zur Anwendung: Ein Schulleistungstest, der Sprachverständnis, Leseverständnis, Rechtschreibwissen und Mathekenntnisse abfragt. Außerdem werden eine Schreibprobe und je ein Eltern- und Lehrerfragebogen erhoben. "Die Testergebnisse können mit den Kindern besprochen werden. Sie lernen über den eigenen Lernprozess nachzudenken und eigene Lernstrategien zu entwickeln", erläuterte die Pädagogin.
Urte Wehrhahn stellt ihr Förderkonzept für Lese- und Rechtschreibkompetenz vor.
Nun können Entwicklungsprofile angelegt werden. Die Lehrerinnen und Lehrer, die extra in Diagnostik, Förderplanung geschult wurden, begleiten diesen Prozess durch tägliches systematisches Üben. "Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbesserten sich merklich, denn die Lehrer waren in der Lage, auf die Stärken und Schwächen ihrer Schüler gezielt einzugehen", resümierte Wehrhahn.
Geben und Nehmen
Am Nachmittag des ersten Kongresstages fand ein Geben und Nehmen statt. Experten gaben Inputs, und bald darauf erarbeiteten die Kongressteilnehmer in über 60 Workshops zusammen mit den Referenten erste Ergebnisse. Dieser Prozess spielte sich insgesamt in fünf weiteren Arbeitsforen ab:
. Forum 2: Selbstverantwortlichkeit lernen - individuelle Förderung in Kooperation von Schule, Jugendhilfe und außerschulischen Partnern.
. Forum 3: Welche Kompetenzen und welche Unterstützung brauchen Lehrerinnen und Lehrer
. Forum 4: Vielfalt als Chance - Heterogenität in Ganztagsschulen gestalten
. Forum 5: Lernorte - Zeit und Raum gestalten
. Forum 6: Umsetzung guter Schulprofile: Individuelle Förderung verwirklichen
Ein Geben und Nehmen in den Workshops.
Darüber hinaus hatten Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrende sowie Vertreter aus Verbänden, Jugendhilfe, Verwaltung und Wissenschaft an beiden Kongresstagen die Möglichkeit, sich über Schulen zu informieren, die die individuelle Förderung beispielhaft verwirklichen: Aus jedem Bundesland präsentierten sich in der Regel zwei Schulen mit einem Ausstellungsstand.
Im Kuppelsaal des Kongresses bcc fand außerdem eine spannende Vortragsreihe zum Thema "Individuelle Förderung" statt, die mit nationalen und internationalen Wissenschaftlern besetzt war. Neue Studien über strukturelle, organisatorische oder handlungsbezogene Aspekte von Ganztagsschulen können Praktikern bei der Orientierung im Schulalltag helfen, so bei der Planung und Gestaltung von Ganztagsschulen.
Feierlicher Empfang beim Parlamentarischen Staatssekretär des BMBF, Ulrich Kasparick.
Der arbeitsreiche und von viel Engagement geprägte erste Kongresstag wurde mit einem feierlichen Empfang des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Bildung und Forschung, Ulrich Kasparick, abgeschlossen.
Der Tag der 16 Bundesländer
Der zweite Tag des Kongresses spielte sich in "Regionalen Foren" ab. Er war nicht zuletzt ein Ausdruck dafür, dass die Vielfalt der Ganztagsschulmodelle in den Ländern gestaltet wird. In sechs Regionalforen hatten die 16 Bundesländer die Möglichkeit, ihre Unterstützungssysteme vorzustellen.
"Nah dran": Die Serviceagenturen stellen sich vor.
Das Procedere war in allen Regionalforen deckungsgleich: Unter der Überschrift "Nah dran" stellten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Serviceagenturen ihre länderbezogenen Aktivitäten vor. Im Anschluss daran schilderten Praktiker Best-Practice-Beispiele oder Wissenschaftler referierten über Aspekte der Didaktik und der individuellen Förderung. Die vielen Diskussionen in den verschiedenen Workshops offenbarten ein zentrales Bedürfnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Man sucht Austausch, Dialog, Handlungskompetenz und Vernetzung.
Mut zum Vertrauen
Ein bekannter deutscher Bildungsjournalist, ein sympathischer Finne, ein kluger Professor aus Berlin: Sie bestritten einen Höhepunkt des Ganztagsschulkongresses, die abschließende Gesprächsrunde. Moderator Reinhard Kahl, Jorma Lempinen, Schulleiter und Vorsitzender der Finnischen Schulleiterorganisation SURE-FIRE, und Prof. Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin diskutierten das Thema "Ganztagsschulen - Chancen für eine bessere individuelle Förderung". Es entspann sich zwischen den drei Bildungsexperten eine Art "Ping-Pong-Spiel", das viel Applaus beim Publikum hervorrief.
Prof. Dieter Lenzen, Reinhard Kahl und Jorma Lempinen (v.l.n.r.).
"Innovation", "Autonomie", "Eine Schule für alle" und vor allem "Vertrauen" lauteten die Schlüsselworte des Gespräches. Für Dieter Lenzen sind individuelle Förderung und Kreativität an Ganztagsschulen eine Bedingung für Innovationsfähigkeit, um Kindern aus bildungsfernen Familien bessere Chancen zu ermöglichen. Vertrauen war das Schlüsselwort für Jorma Lempinen. Vertrauen stifte eine "Vertrauenskette": zwischen Staat und Kommunen, zwischen Kommunen und Schulen, zwischen Schulen und Lehrern, zwischen Eltern und Lehrern sowie zwischen Eltern und den Schülerinnen und Schülern. Individuelle Förderung, die auf Vertrauen aufbaue, erzeugt Lempinen zufolge eine positive Spirale aus Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit.
Abschlussrede von Dr. Heike Kahl, Geschäftsführerin der DKJS: Von Berlin in die Länder: "Eine wirkliche Bewegung."
"Viele Schulen haben sich auf den Weg gemacht, die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt zu stellen", resümierte die Geschäftsführerin der DKJS, Heike Kahl. "Der Kongress hat eine wirkliche Bewegung erzeugt und die Motivation des vergangenen Kongresses weiter getragen." Und noch eines steht fest: Mit dem Ausbau von Ganztagsschulen ist Deutschland in Europa angekommen.
Kategorien: Service
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