Eine kurze Geschichte der Ganztagsschule, Teil 2 : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Als Laboratorium der Moderne hat die Weimarer Republik der Reformpädagogik und den Ganztagsschulen einen unverhofften Frühling beschert. Die reformpädagogischen Neuerungen, die das Bildungswesen über die Grenzen Deutschlands hinaus beeinflusst haben, sickerten auch in die Normalschulen ein. Im zweiten Teil unserer "kurzen Geschichte der Ganztagsschule" beleuchten wir diese Aufbruchsperiode in der Weimarer Republik und den Niedergang der Reformpädagogik in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und im NS-Regime.

In der Weimarer Republik erlebten die Schulreformer einen unverhofften Frühling. Nun drängten alle Neuerungen, die bislang entworfen und in vereinzelten Ganztagsschulmodellen auch in die Wirklichkeit übertragen worden waren, zur umfassenden Realisierung. Denn das Bildungssystem schien dem Innovationsdruck, der auf den wilhelminischen Schulen lastete - und die als kleiner Staat im Staate nicht selten ein Abziehbild preußischer Kasernen waren - zunächst nachzugeben.

"Nach dem Ende des 1. Weltkrieges, dem politischen Umsturz und der Begründung der Weimarer Republik ergaben sich für die Entwicklung reformpädagogisch geprägter moderner Ganztagsschulen neue Impulse", führt der Erziehungswissenschaftler Prof. Harald Ludwig in einem Überblicksbeitrag zur Geschichte der Ganztagsschule im "Jahrbuch Ganztagsschule 2004" aus.

Die neuen Ufer der Reformpädagogik

Der Aufbruch zu neuen Ufern der Schulreform wurde von den Waldschulen ebenso verkörpert wie von den Landerziehungsheimen, den Jena-Plan-Schulen, den "sozialen Arbeitsschulen" oder jenen Schulen, die im Zuge der Weimarer Rationalisierungsbewegung entstanden, den "rationalisierten Schulen". Die Weimarer Rationalisierungsbewegung knüpfte übrigens an den wissenschaftlichen Taylorismus in den USA an und war bestrebt, Wirtschaft und Gesellschaft umfassend durchzurationalisieren. Hinter all diesen Versuchs- und Modellschulen standen verschiedene reformpädagogische Ansätze, die sich aber inhaltlich ergänzten.

Dass die Reformschulen in erster Linie als ganztägige und ganzheitlich orientierte Schulgebilde entworfen wurden, geht nicht zuletzt auf das fortwährende Spannungsverhältnis mit den Halbtagsschulen als Regelschulen zurück, die Körper und Geist - wie Johannes Müller ausführt - strikt voneinander trennten: "Die moralische Minderschätzung der körperlichen Arbeit und die Höherschätzung geistiger Bildung, die zumindest implizit heute noch gilt, ist stark mit feudalen Gesellschaftsstrukturen des Mittelalters und noch mehr mit dem Absolutismus verbunden", so Johannes Müller von der Privaten Universität für Gesundheitswissenschaft UMIT in Österreich. Müller ergänzt: "Spätestens seit dem Deutschen Idealismus, der unser Bildungssystem immer noch prägt, gibt es im gesellschaftlich wichtigen Bereich der formalen Bildung eine Vorrangstellung der geistigen, theoretischen Bildung gegenüber der körperlich-praktischen." (Johannes Müller zitiert aus: "Die Entdeckung der Praxis", in Beruf- und Wirtschaftpädagogik 2005)

Reformschulen als schülerorientierte Einrichtungen wurden deshalb überwiegend als Lebensschulen entworfen, die Schule und außerschulische Welt miteinander verzahnten: "Das Einfallstor für die schülerorientierten Reformen war die Not, die an vielen Halbtagsschulen als Regelschulen nach dem 1. Weltkrieg entstanden war", erläutert der Vorsitzende der Vereine deutscher Landerziehungsheime Dr. Wolfgang Harder.

Hochburgen der Schulreform in der Weimarer Republik

Ein Zentrum der Schulreform in der Weimarer Republik war Berlin. So vertrat der Berliner Stadtschulrat Jens Nydahl in den 20er Jahren die Ansicht, dass die Lebensgemeinschaftsschule "neben den Sammelschulen die Lösung der schöpferischen Kräfte im Kinde als ordnender Grundsatz aller Schularbeit vielleicht am klarsten zum Ausdruck" bringe, und dass "auch in den anderen Schulen in steigendem Maße sich der Unterricht auf die schöpferische Arbeit der Hand und des Geistes einzustellen beginnt" (zitiert aus Dietmar Haubfleisch, "Berliner Reformpädagogik in der Weimarer Republik").

In anderen Worten: Reformpädagogische Theorie und Praxis bahnten sich nicht nur in den Versuchsschulen ihren Weg, sie sickerten langsam, aber sicher auch in die Praxis der Regelschulen ein. Und zwar über Berlin hinaus: "Für andere Länder und Kommunen der Weimarer Republik wird die Frage nach dem Eindringen reformpädagogischer Elemente in das Normalschulwesen zunehmend bejaht", stellt Dietmar Haubfleisch in seinem Forschungsbericht fest. Der Potsdamer Erziehungswissenschaftler Hanno Schmitt spricht nicht nur im Hinblick auf die Versuchsschulen, sondern auch mit Blick auf die höheren Schulen von einer unerwartet hohen Zahl in Preußen, "deren Schulalltag in deutlich spürbarer Form durch reformpädagogische Theorie und Praxis geprägt war".

Das Einsickern der Reformpädagogik in die Normalschulen

Berlin gehörte zusammen mit Hamburg zu den Hochburgen der Reformpädagogik. Dort gründeten Paul Oestreich, Siegfried Kawerau und Fritz Karsen den Bund Entschiedener Schulreformer, der als Lehrerorganisation an die Reformdiskussion vor und nach dem Ersten Weltkrieg anknüpfte und sich nicht zuletzt auf Leitsätze der Weimarer Verfassung berief. Er setzte sich beispielsweise für eine demokratische, schichtübergreifende "Einheitsschule" ein, also dem Vorläufermodell der heutigen Gesamtschule, sowie für eine Erziehungsgemeinschaft aus Schülern, Lehrern und Eltern unter Mitwirkung einer kollegialen Schulleitung und einer Schülerselbstverwaltung.

Wie die unterschiedlichen Inhalte und Traditionen der Reformpädagogik in die Praxis der Regelschulen eingeflossen sind, hat Dietmar Haubfleisch in Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern an damaligen Reformschulen herausgefunden: "Aus dem Erinnerungsmaterial der alten Lehrerinnen und Lehrer wird deutlich, dass reformpädagogisches Handeln in der Berliner Normalschule durchaus praktiziert wurde, dass es aber nicht immer eindeutig als eine ,Richtung der Reformpädagogik' (Arbeitsunterricht, Gesamtunterricht, Erziehung vom Kinde aus u.a.) identifiziert werden kann." Sickereffekte gingen - laut Haubfleisch - aber auch von der Lehrerfluktuation aus, denn "die Arbeit an Reformschulen ist ein Knochenjob" gewesen.

Viele Lehrerinnen und Lehrer ließen sich aus privaten Gründen und Überforderung an Normalschulen versetzen und haben dort ihre Reformideen weiter am Leben gehalten. So entstanden - Haubfleisch zufolge - kreative Projekte wie Schultheater, die es an den Regelschulen vorher nie gegeben habe.

Drei Reformmodelle und ihre Realität

In der Weimarer Republik, die insbesondere in den Großstädten ein Laboratorium der Moderne war, hatten viele Reformmodelle zunächst die Chance, sich in der Praxis zu bewähren. Dabei spielte die Pädagogik der industriell und handwerklich orientierten Arbeit eine große Rolle. Arbeit als Erziehungsprinzip der "Produktionsschulen" ging auf Rousseau, Pestalozzi und Marx zurück, doch der eigentliche Begründer dieser Reformschule, Georg Kerschensteiner, wollte die "Produktionsschule" zur "Lebensschule" fortentwickeln. Sie legte ihren Akzent auf die handwerkliche Erziehung unter Einbeziehung der Eltern und anderer außerschulischer Partner.

Diese "sozialen Arbeitsschulen" wurden die Vorläufer der heutigen Berufsschulen. Die Jena-Plan-Schulen Peter Petersens, die ebenso wie die "Arbeitsschulen" als allgemeine Volksschulen konzipiert wurden, legten größeren Wert auf Erlebnis- und Spielpädagogik mit fächerübergreifendem Lernen, Gruppenarbeit, Schülerselbstbewertungen, schriftlichen Berichten statt Zensuren und jahrgangsübergreifenden Unterricht.

Den Charakter einer modernen Volksschule als Gesamtschule hatten auch die "rationalisierten Schulen" eines Fritz Karsen. Sie wurden als "einheitliche" und "rationelle" Großschulen konzipiert, die sozial durchlässig waren und die Schullaufbahnen bis mindestens in die achte Klasse offen hielten. Räume, Arbeitsabläufe, Zeitstrukturen sollten nach betriebswissenschaftlichen Effizienzgesichtspunkten rationalisiert werden, damit es "keinen Leerlauf von Kräften, keinen Leerlauf von sachlichen Mitteln, keinen Leerlauf von Zeit und Raum gibt", so Fritz Karsen im Jahr 1928.

Höhere Bildung für gesellschaftliche Eliten

In der höheren Bildung hat die Weimarer Republik dagegen eine deutliche Kontinuität zum Wilhelminischen Kaiserreich angestrebt. Weder kam es zu einem einheitlichen zentralstaatlichen Schulwesen, noch zu einer durchgehend demokratischen Schulreform. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gab es einen "Schließungseffekt", der insbesondere die Gymnasien betraf und diese über "die Erhebung von Schulgeld zu Eliteeinrichtungen" machte, so Karen Hagemann und Karin Gottschall (in: "Die Halbtagsschule in Deutschland: Ein Sonderfall in Europa?" 2002).

Um die Vorbehalte der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie aus dem Weg zu räumen, wurde bereits im Kaiserreich diese Schließung nach oben hin durch die Einführung der Sozialversicherung und der Facharbeiterausbildung für Industrieberufe kompensiert. Nach Gottschall und Hagemann spielt Deutschland mit dem "systematischen Aufbau von Schulbildung und einer frühen Einführung der Schulpflicht zwar zunächst eine Vorreiterrolle in Europa". Aber mit der "Einführung des Halbtagsschulsystems und der Durchsetzung einer wenig durchlässigen dreigliedrigen Schulstruktur beschritt Deutschland dann in Kaiserreich und Weimarer Republik einen Weg, der nur von wenigen Nachbarländern geteilt wurde".

Abruptes Ende in der Weltwirtschaftskrise 1929/33

Dass die Reformpädagogik in der Weltwirtschaftkrise durch ökonomischen Druck abrupt beendet wurde, darauf hatten selbst die beharrlichsten Reformer am Ende der Weimarer Republik keinerlei Einfluss: "Die reformpädagogischen Ansätze und ihre Verbreitung in den Normalschulen" - so Dietmar Haubfleisch - "wurden von der Weltwirtschaftkrise radikal abgeschnitten."

Allerdings konnten nach dem Ende der Weimarer Republik einige reformpädagogische Entwicklungen im NS-Regime zunächst weiter bestehen. Jüdischen Reformschulen wie der Theodor-Herzl-Schule in Berlin oder den Landschulheimen Caputh bei Potsdam und Herrlingen bei Ulm gelang es in der ersten Zeit des NS-Regimes, ihre schülerorientierte Pädagogik fortzuführen.

Überleben der Reformpädagogik im NS-Regime

Auch die international renommierte Odenwaldschule versuchte, sich vor einer Vereinnahmung durch das NS-System zu schützen: durch den Versuch einer Selbstauflösung. Weil dies nicht gelang, kam es ebenso wie bei Peter Petersens Jena-Plan-Schulen zu "Anpassungen, die weit über die Semantik hinausgingen", erläutert Harder. Der zeitweilige Verzicht auf reformpädagogische Elemente lohnte sich dennoch: dank der Hilfe der Odenwaldschule haben viele Juden überleben können. Biographien damaliger Schülerinnen und Schüler von Berliner Reformschulen - so Dietmar Haubfleisch - zeigen darüber hinaus, dass sie das NS-Regime "durch nicht angepasstes Verhalten infragegestellt haben - und das ist belegbar".

Im faschistischen Italien hatte das von den Reformpädagogen befürwortete Ganztagsmodell (1922-1943) ebenfalls keine Chance - "es kollidierte mit dem staatlich verordneten Mütterlichkeitsmythos. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg befürworteten Pädagogen unterschiedlicher Richtungen die Ganztagsschule, die sich dann teilweise etablieren konnte", so die vergleichende Erziehungswissenschaftlerin Cristina Allemann-Ghionda.

Für das NS-Regime galt allgemein: "Je exponierter eine Reformschule war, desto eher wurde sie aus politischen Gründen aufgelöst", sagt Dietmar Haubfleisch. Langfristig hatten aber die wenigsten Reformschulen im "Dritten Reich" eine Überlebensperspektive: "Diese auf das gesamte Berliner Schulwesen ausstrahlende Reformarbeit wurde nach kaum mehr als einem Jahrzehnt in Folge der Machteroberung der Nazis - vielfach gewaltsam - abgebrochen. Den neuen Machthabern waren vor allem die demokratisch-liberalen bis demokratisch-sozialistischen Intentionen einiger Berliner Reformschulen ein Dorn im Auge, wobei sie mit ihren Kampagnen und Aktionen auf Unterstützung von Teilen des konservativen Bürgertums zählen konnten", schreibt Wolfgang Keim im Vorwort zu Dietmar Haubfleischs Dissertation "Schulfarm Insel Scharfenberg".

So sicherte die Fortführung der Reformpädagogik im Exil, ob nun in England mit der Gruppe "German Educational Reconstruction", in Dänemark oder in Island den Weg der Schulen in die Zukunft.

 

Kategorien: Service

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000