Den eigenen Rhythmus finden : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Viele neue Ideen und Anstöße lieferte der Kongress des Ganztagsschulverbandes vom 17. bis zum 19. November 2004 in Essen: Heinz Günter Holtappels konnte mit neuen Umfragezahlen aufwarten, Schulbesuche vor Ort zeigten ebenso neue Perspektiven im Lernen und Lehren auf wie die Vorträge und Arbeitsgruppen zu den unterschiedlichsten Themen. Eins war am Ende des Kongresses klar: Jeder konnte etwas für sich mit nach Hause nehmen.

Der zweite Tag des Kongresses "Ganztagsschule beginnt am Vormittag - Möglichkeiten zur Gestaltung des Schultages" des Ganztagsschulverbandes startete mit Zahlen. Heinz Günter Holtappels hatte neue Umfrageergebnisse im Gepäck, mit denen er die "empirische Wende" bei Ganztagsschulen ankündigte: "Wir wissen mehr über Ganztagsschulen als vor einem Jahr." Angesichts der "unrühmlichen Marke von knapp zehn Prozent von Jugendlichen ohne Schulabschluss", einem Viertel Sitzenbleiber unter allen Schülerinnen und Schülern bis zum 15. Lebensjahr, "denen dies nichts nützt", und der "stärksten sozialen Ungleichheit im Bildungswesen" müsse die Förderwirkung von Schule verstärkt werden, so der Wissenschaftler vom Dortmunder Institut für Schulentwicklung.

Auf die Überschrift des Kongresses anspielend, meinte Holtappels, einigen Ganztagsschulen müsse man noch sagen, dass die Veränderungen auch schon am Vormittag beginnen. Die Lernmethoden müssten vom gelenkten Unterricht weg und mehr ausdifferenziert werden. Gerade die Wahlangebote und Projekte machten die Qualität von Ganztagsschulen aus. Zudem bestünden "ungeahnte Möglichkeiten, in Ganztagsschulen erzieherisch zu wirken und soziale Kompetenzen zu vermitteln".

"Wir haben die Mehrheit hinter uns"

Bezüglich der Umfrageergebnisse resümierte der Forscher: "Wir haben die Mehrheit hinter uns!" Denn 56 Prozent der befragten Eltern befürworteten die Einrichtung von mehr Ganztagsschulen. Bei dem, was sich Eltern inhaltlich von Ganztagsschulen erhoffen, hat sich laut Holtappels eine neue Reihenfolge ergeben: Statt "verlässlicher Betreuung" und "Mittagessen" liegen nun "Gemeinschaftserfahrung und soziales Lernen" und die "fachliche Förderung" mit über 90 Prozent Zustimmung auf den ersten Plätzen. Für sich selbst erhoffen sich 48 Prozent der Eltern "eine spürbare Entlastung" bei der Kinderbetreuung und 43 Prozent hoffen, eine berufliche Tätigkeit aufnehmen zu können. Bei den Eltern von Grundschülerinnen und -schülern sind es rund 60 Prozent.

Heinz Günter Holtappels

Bei einer Schulleitungsbefragung ergab sich, dass 36 Prozent der gebundenen und 21 Prozent der offenen Ganztagsschulen "curriculare Schwerpunkte" setzen. 52 Prozent der gebundenen und 20 Prozent der offenen Ganztagsschulen setzen auf eine "Tagesrhythmisierung". Holtappels zu Folge ist in den meisten Ganztagsschulen die Teamarbeit im Lehrerkollegium verankert: In 54 Prozent gibt es Klassenleitungsteams, in 66 Prozent Steuerungsgruppen und in 77 Prozent Arbeitsgruppen. "Ganztagsschulen sind in hohem Maße sich entwickelnde Schulen", so der Wissenschaftler. Vielfältig sei auch die Lernkultur: 84 Prozent der Ganztagsschulen verfügen über Dauerschulprojekte, 73 Prozent über Arbeitsgemeinschaften, 70 Prozent über offene Freizeitangebote, 76 Prozent über Hausaufgabenbetreuung und 91 Prozent über Fördermaßnahmen. Problematisch ist laut Holtappels, dass die Fördermaßnahmen zu oft erst durch den Elternwunsch zu Stande kommen.

Zum Schluss würdigte Heinz Günter Holtappels das Bundesinvestitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung", das "die öffentliche Thematisierung und eine Menge an Entwicklungen angestoßen hat". Nun müsse man den Schulen Zeit zur Entwicklung geben. "Ganztagsschulen in Angebotsform können ein Einstieg sein", glaubt Holtappels. Die Eltern, die mehrheitlich noch für die offene Form votierten, könnten langsam überzeugt werden, so dass sich am Ende gebundene Ganztagsschulen entwickelten. Man müsse aber darauf achten, dass an den Schulen auch Entwicklungen stattfänden und nicht die offenen Formen zementiert würden, bei denen sich am Vormittagsunterricht nichts ändere. "Ich bin aber optimistisch, da sich zurzeit viele Unterstützungssysteme wie die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung und Runde Tische in den Kommunen auf den Weg machen."

Fachstunden werden zu Individualisierungsstunden

Nach den vielen Zahlen stand ein Ausflug in die Praxis an: 17 verschiedene Ganztagsschulen in Essen, Mühlheim und Duisburg wurden als Zielorte angeboten. Gruppen von jeweils rund 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmern machten sich auf den Weg. Das Clauberg-Gymnasium mit Ganztagsangebot liegt im Duisburger Stadtteil Ober-Marxloh und gilt als "Türkengymasium". Der hohe Migrantenanteil bildet sich in der Schülerschaft mit 66 Prozent ab. Die Integration ist daher auch eines der Hauptanliegen der Schule, die sich auch im muttersprachlichen Unterricht niederschlägt: Türkischen Kindern werden in der 5. und 6. Klasse vier Stunden Türkisch angeboten. In Klasse sieben ist Türkisch als zweite Fremdsprache wählbar, die durch eine Türkischlehrerin und einen -lehrer erteilt werden.

In der fünften und sechsten Klasse wird Förderunterricht in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik angeboten, bei den Arbeitsgemeinschaften am Mittwochnachmittag steht den Schülerinnen und Schülern ein Angebot aus vielerlei Möglichkeiten wie zum Beispiel Fußball, Tischtennis, Cheerleading und Backgammon zur Auswahl. An zwei Tagen in der Woche gibt es eine Hausaufgabenhilfe, die ein Klassenlehrer betreut. Beim Mittagessen stehen den Kindern und Jugendlichen zwei warme Mittagessen aus der schuleigenen Mensa zur Verfügung. In der eigenständigen Lehrküche werden zugleich zwischen zehn und 20 Jugendlichen zu Köchen ausgebildet. Daneben können an einem Kiosk belegte Brötchen, Obst und Getränke erworben werden.

Hartmut Roth

Hartmut Roth, der kommissarische Schulleiter, stand der Besuchergruppe Rede und Antwort und führte sie durch die Schule. "Unser Gymnasium ist 1973 in eine gebundene Ganztagsschule umgewandelt worden", berichtete er. Die Schule habe mit einem schrumpfenden Stellenzuschlag für den Ganztagsbetrieb zu kämpfen: "Einstmals lag dieser bei 30 Prozent, jetzt bei 20 Prozent unter Vorbehalt - er kann also auch ganz wegfallen." Roth weiter: "Unter diesen Umständen ist das Ganztagsangebot verringert worden. In den Klassen sieben bis zehn können wir auf Grund der Personalsituation nicht mehr für alle Klassen ein Ganztagsangebot machen." Am Clauberg-Gymnasium werde an vier Nachmittagen bis 16 Uhr ganztägig unterrichtet, der Konferenztag sei auf den Freitag gelegt worden. Dabei ist der Unterricht kaum rhythmisiert: In den ersten sechs Stunden bis 13 Uhr 15 findet überwiegend der Fachunterricht statt, der Förderunterricht und die Arbeitsgemeinschaften liegen hauptsächlich am Nachmittag.

Die Mensa des Clauberg-Gymnasiums

In diesem Schuljahr ist aber auch hier Bewegung eingekehrt: Im siebten Schuljahr werden acht Fachstunden zu so genannten I-Stunden (Individualisierungsstunden) umgewandelt. Hier arbeiten Schülerinnen und Schüler an vier Tagen mit zwei Doppelstunden in drei Räumen an freien, selbst ausgewählten Themen. Darunter müssen ein englischsprachiges, ein mathematisches, ein deutsches und ein naturwissenschaftliches Projekt sein. Damit soll sichergestellt werden, dass die Schülerinnen und Schüler sich nicht nur auf ein singuläres Feld beschränken. "Diese Art der Arbeit ist eine Fortsetzung der in den Klassen fünf und sechs angebotenen Freiarbeitsstunden", erklärte Roth. "Hier können sich die Schülerinnen und Schüler mal 90 Minuten am Stück mit einem Thema beschäftigen und ihren eigenen Rhythmus finden." Eine Lehrperson ist als Ansprechpartner anwesend. Insgesamt gibt es vier I-Lehrerinnen und -Lehrer. Alle Schülerinnen und Schüler müssten ein Lerntagebuch führen. "Wir haben noch keine großen Erfahrungen in der Kürze der Zeit sammeln können, aber es zeigt sich, dass einige Schüler Orientierung brauchen", meint Roth.

Freiarbeit zur Leistungssteigerung

Einmal im Monat treffen sich die drei I-Teams, also alle Schülerinnen und Schüler, zum großen Austausch. Die I-Stunden sollen nach und nach bis Klasse zehn eingeführt werden. Die Universität Duisburg-Essen begleitet das Projekt wissenschaftlich. "Wir versprechen uns von dieser Art des Lernens eine Leistungssteigerung", urteilte der Schulleiter über das im Kollegium nicht unumstrittene Projekt, für das Fachstunden umgewidmet werden.

Nach der Rückkehr von den Schulen konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich die Infostände von Verlagen und Firmen ansehen. Vertreterinnen und Vertreter der Ministerien und der Schulaufsicht trafen sich derweil zu einem von Ulrich Rother, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ganztagsschulverbandes, moderierten Gesprächskreis, um sich über die Entwicklungen in den einzelnen Ländern auszutauschen.

Von den schwierigen Bedingungen in ihren Ländern, die durch sinkende Schülerzahlen und Schulschließungen bestimmt würden, berichteten übereinstimmend Heidemarie Klein, Ganztagsschulreferentin aus Sachsen-Anhalt, und Ute Debold vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern.

Run auf Ganztagsschulen

Barbara Zeitzinger vom Hessischen Landesinstitut für Pädagogik konstatierte einen "absoluten Run auf Ganztagsschulen". Gerhard Wächter vom Staatlichen Schulamt Friedberg bestätigte dies: "20 Prozent aller Schulen haben in den letzten beiden Jahren Anträge auf die offene Konzeption hin gestellt. Diese Anträge kommen von allen Schulformen, zunehmend Gymnasien." Von Letzteren würden die Anträge oft ohne die geforderte inhaltliche Konzeption, sondern nur mit dem Verweis auf G8 gestellt. Die IZBB-Mittel würden in den Schulämtern seiner Region gut abgerufen, aber es bestünden "noch einige bürokratische Hürden, welche die Sache als sehr langwierig erscheinen lassen". Man hoffe auf die enge Kooperation mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und mit anderen Ländern und rechne mit der Einrichtung der Regionalen Service-Agenturen. Dies sei von der Hessischen Landesregierung zugesagt.

Auf "verbindlichere Regeln für Ganztagsschulen" hoffte Ute Löther aus dem thüringischen Kultusministerium. Dazu soll jetzt interministeriell das Konzept eines "Bildungs- und Betreuungskonzepts" erstellt werden. Zudem habe der Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung für gebundene Ganztagsschulen plädiert.

Christel Hempe-Wankerl vom Senat für Bildung und Wissenschaft aus Bremen erzählte vom Beschluss in der Hansestadt, die offenen Ganztagsschulen zu gebundenen weiterzuentwickeln. Das Präsenzarbeitszeitmodell von 35 Wochenstunden finde dabei immer mehr Anhänger.

Für Rheinland-Pfalz erklärte Heinz Willi Räpple vom Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend, es gebe eine Kooperation mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und Hessen, die zu zwei gemeinsamen Tagungen über "Partizipation an Ganztagsschulen" in Weilburg und Speyer führe. Ein Schwerpunkt bei der Förderung von Ganztagsschulen sei das Thema Medien. Johannes Jung ergänzte, schon früh habe das Land Begleitforschung zu den Themen "Umsetzung von Konzeptionen an Ganztagsschulorten", "Außerschulische Partner", "Fördern und Veränderung von Lernkultur" und "Naturwissenschaftliches Experimentieren" initiiert. Bis Ende des Jahres würden hier erste Ergebnisse vorliegen.

Aus einigen Ländern hörte man das Bedauern über die Beschränktheit der Förderung allein auf den Primarbereich. Auch bestehen Befürchtungen, dass die offenen Modelle als "Sparmodelle" Schule machen und zu Lasten der bereits bestehenden gebundenen Formen gehen. Mit Verwunderung nahm die Runde zur Kenntnis, dass man in einem Land über die Vergabe der IZBB-Mittel im Ministerium für Bau und Infrastruktur entscheidet.

Peter Hübner

Am Nachmittag hörte das Auditorium einen sehr unterhaltsamen und beispielreichen Vortrag von Prof. Peter Hübner von der Universität Stuttgart über "Ganztagsschule - Schulbau als Lebens- und Lernraum". Hübner hat unter anderem die Odenwaldschule geplant. Für ihn ist schon die erste Außenwirkung einer Schule, "diese Empfangshaltung, dieses Willkommen-heißen, dieses In-die-Arme-Nehmen", wesentlich. Die Schule als Gastgeber.

Wulf Wallrabenstein

Den dritten und letzten Tag eröffnete Prof. Dr. Wulf Wallrabenstein von der Universität Hamburg mit dem Vortrag "Professionalität und Entwicklungsperspektiven - zur Rolle des pädagogischen Personals in Ganztagsschulen". Er warnte vor dem "Hang zur Selbstausbeutung" von Lehrerinnen und Lehrern an Ganztagsschulen und mahnte die dringende Reform der Sekundarstufe eins an. "Lehrer müssen forschende Lerner werden und dürfen keine Insel in der Schule bilden", führte er aus. "Lehrer sind nicht nur Wissensvermittler, sondern müssen auch Lernmoderatoren sein." Zukunftsvisionen müsste man sich als Alltagsaufgabe stellen und die Schulentwicklung dürfe sich nicht nur nach Organisationsmodellen ausrichten, die sich an "Fetischen" wie dem Abitur nach zwölf Jahren orientierten.

Helga Stöwe

Zum Abschluss des Kongresses verteilten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf 14 Arbeitsgruppen, deren Themen von "Peer-Mediation" über "Spielräume gestalten" bis zu "Virtuelle Freundschafts- und Sexualberatung für Jugendliche" reichten. Helga Stöwe, Oberstudienrätin des Gymnasiums Kerpen, bot den Workshop "Möglichkeiten der Begabtenförderung in der Ganztagsschule" an. Dass Nachfrage nach diesem Thema besteht, bezeugten die Äußerungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Während das Fördern von leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern bekannt sei, erweise sich die Begabtenförderung als terra incognita. Jeder Fall eines hochbegabten Kindes liege anders und müsse individuell betrachtet werden, gab die Referentin den Anwesenden auf den Weg. Es war genügend Zeit, um auch Einzelfälle durchzusprechen und verschiedene Lösungsmöglichkeiten zu erörtern. "Man fährt zu manchem Kongress und denkt sich nachher: Das hättest du dir auch schenken können. Hier war das nicht der Fall, und ich möchte mich noch mal bei Ihnen auch persönlich bedanken für die wohl sehr aufwendige Arbeit", gab ein Teilnehmer Rückmeldung an Frau Stöwe. Dieses Lob könnte auch für den Kongress insgesamt gelten.

Lesen Sie hier den 1. Teil unserer Reportage über den Ganztagsschulkongress!

 

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