Brückenbauer und Visionäre

Visionen allein sind nicht genug. Gefragt sind alle Kräfte in Schule und Jugendhilfe, die Brücken bauen wollen. Brücken zu den Lern- und Lebenswelten junger Menschen im Zeichen von Globalisierung und PISA. Erfahren Sie im zweiten Teil des Berichtes über die Bundeskonferenz "Zukunftsprojekt: Gemeinsame Gestaltung von Lern- und Lebenswelten" am 21. und 22. April 2005 in Berlin, wie diese neuen Welten zusammen gestaltet werden können.

"Nichts fürchtet der Mensch mehr als Berührung durch Unbekanntes." Vor vier Jahrzehnten formulierte Literaturnobelpreisträger Elias Canetti in seinem Werk "Masse und Macht" eine Erkenntnis, die nun, in Zeiten der Globalisierung, noch aktueller geworden ist: Menschen müssen lernen, die Furcht vor unbekannten Welten zu überwinden.

Wo sollte dies beginnen? In der Familie? In Kindergarten, Schule und Ausbildung? Auf Kongressen? Oft ist es im Arbeitsleben schon zu spät: "Es gehört viel Kraft dazu, die institutionellen Grenzen zu überschreiten", sagte Willi Ungeheuer auf der Bundeskonferenz in Berlin. "Gruppen", so der Personalrat der Stadt Köln, "haben die Gewohnheit, sich früh abzukapseln." Man müsse neue Wege gehen - und die sind oft "sehr personenbezogen".

Fremde Welten berühren

Betrachtete man das Geschehen in den Hallen des dbb forums Berlin genauer, war der Eindruck gleichermaßen überraschend und ermutigend. Im Laufe der Veranstaltung stimmten sich die Teilnehmer des Kongresses auf einen Dialog ein, indem sie fortwährend fremdes Territorium berührten: Lehrerinnen entdeckten in Gesprächen die unbekannten Welten von Sozialarbeitern und vice versa. ,Pauker' hörten den Schülervertretern zu - und staunten über die aufgeweckten und engagierten Jugendlichen. Genau dafür war der Kongress gedacht: als "Zukunftsprojekt" einer bundesweiten Begegnung der unterschiedlichen Welten - Schule und Jugendhilfe.

 

Dialog zwischen Welten

Und diese Zukunft braucht Raum und Zeit. Wo diese beginnt, erschließen sich bessere Perspektiven für junge Menschen. Die Arbeitsgemeinschaft 5 "Individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen" zog nicht nur auffällig viele Teilnehmer an, sie zeigte auch, dass klare Analysen der Realitäten und das Aufzeigen von erweiterten Handlungsmustern in Schule und Jugendhilfe zusammengehören.

Armutszyklen unterbrechen

Prof. Wolfgang Edelstein begründete die Notwendigkeit von Ganztagsschulen in einem größeren gesellschaftlichen und globalen Zusammenhang. Für den Bildungsexperten vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sind Ganztagsschulen ein "wichtiger Schritt zu einer individuellen Förderung der Kinder". Gerade vor dem Hintergrund zunehmender Armut infolge von Globalisierungskrise und Transformation der Arbeit, ermögliche die Ganztagsschule pädagogische Strategien, um situatives Lernen und Projektlernen zu fördern. "Komprimierte Halbtagsschulen entsprechen der Mittelschicht", sagte Edelstein.

Also jenen Familienmilieus, in denen die Eltern durch anregende Nachmittags- und Freizeitgestaltung privat die "ganztägige Bildung" ihrer Kinder organisieren. Anregungsarme Milieus hingegen, so Edelstein, trügen große Risiken der sozialen Deprivation oder der Ghettobildung. Migrantenkinder sind dabei besonders von Armut betroffen: "Es bedarf der schulischen Unterbrechung", sagte Edelstein. Rhythmisierung sei dafür eine "entgegenkommende Struktur". Der Bildungsexperte fügte als These hinzu: "Ganztagsschulen können den Armutszyklus unterbrechen."


Martina Liebe und Prof. Wolfgang Edelstein während der Podiumsdiskussion in der AG 5 "Individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen"

Ganztagsschulen zeichneten sich durch eine "Gelegenheitsstruktur" aus, die die Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe attraktiv mache. Den Migranten erlaube die Ganztagsschule ihre Identität zu wahren und zugleich förderte sie mit der Unterstützung der Mehrsprachigkeit auch die Integration. Oder: Die 20 Prozent übergewichtigen Kinder eines Jahrgangs, oft ebenfalls Folge von Armut, erhielten hier eine Gesundheitserziehung.



Doch Ganztagsschulen sind für Edelstein auch "kulturelle Einheiten" und ein "mikropolitischer Raum in der Gemeinde", der große und bisher ungenützte Chancen der Kooperation mit Sozialarbeitern, Erziehern, Künstlern und Senioren erschließe. "Die Ganztagsschulen können der kulturellen Austrocknung von Halbtagsschulen entgegenwirken." Sie können Edelstein zufolge sogar noch mehr: Partizipation, Gemeindenähe und Selfgovernment herstellen - gegen Politikverdrossenheit. "Ein erheblicher Anteil des Rechtsextremismus ist schulerzeugt", glaubt der Erziehungswissenschaftler. Sein Stichwort lautete "Zivilgesellschaftliche Erziehung".


Modernisierungskonflikte zähmen


Modernisierungskonflikte könnten durch Ganztagsschulen erheblich gemindert werden. Allerdings forderte Edelstein eine partnerschaftliche Beteiligung der Jugendhilfe: "Die Kooperation auf Augenhöhe zwischen Schule und Jugendhilfe ist zwingend."


Konkreter wurden die Aussagen während der Diskussion. Edelstein kritisierte, dass individuelle Förderung im Verhältnis zur allgemeinen Förderung sehr gering sei. Und vieles, was sich Ganztagsschule nenne, ist für den Bildungsfachmann "nur Augenwischerei". "Ganztagsschulen können nicht ohne Beteiligung der Jugendhilfe eingeführt werden." Doch Schule und Jugendhilfe sollten sich auch auf neue Formen der sozialen Arbeit und des politischen Engagements einstellen, denn Vollbeschäftigung - so Edelstein - wird es nicht mehr geben.



Berührungsängste tauchten immer wieder auf: "Die Individuen, über die geredet wird, sind nicht vorhanden." Mark Schmieder von der Servicestelle Jugendbeteiligung forderte, dass die Schülerinnen und Schüler selbst befragt würden, welche Wünsche sie hätten. Deshalb plädierte er für noch mehr Schülerbeteiligung auf dem nächsten Ganztagsschulkongress.

 

Schüler und Aktive der Servicestelle Jugendbeteiligung



Nach dem Ende der Vollbeschäftigung .


Martina Liebe vom Bayrischen Jugendring hingegen erinnerte an die Sogwirkung von besserer Kooperation: "Wo immer es Menschen gibt, die kooperieren wollen, gibt es auch mehr Erfolge." Die Sozialarbeiterin hatte zuvor in ihrem Referat die Möglichkeiten der Jugendhilfe am Beispiel des minderjährigen N. aus Afghanistan aufgezeigt, dem nur durch das Zusammenwirken von Schule und Jugendamt eine Ausbildung gesichert werden konnte.


Brücken bauen in fremde Welten. Wie dies gelingt, zeigte sich in der Arbeitsgemeinschaft "Andere Lernformen von Jugendhilfe und Schule". Mit viel Enthusiasmus berichtete Rainer Micha vom Arbeiter Samariter Bund Hamburg über seine Arbeit: "Wir erleben die Jugendlichen anders, als sie meist dargestellt werden - und wir reden von Haupt- und Sonderschulen", so Micha. So nahmen Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines Sozialpraktikums Kontakt mit der jüdischen Gemeinde auf und forschten über ein deportiertes jüdisches Ehepaar.

Wenn Ältere auf Kinder warten - und Kinder auf Ältere

Oder die Kinder lernen alte Menschen kennen: "Die Alten haben auf die Kinder und die Kinder auf die Alten gewartet." So lernten sie Behinderung, Alter und Krankheit wahrzunehmen und die eigene Lebensgeschichte im Spannungsfeld von eigener und fremder Kultur zu sehen. Das Besondere bei Micha ist der Hintergrund als Lehrer und Sozialpädagoge: "Er schafft den Perspektivwechsel", kommentierte Dr. Joachim Schulze- Bergmann vom Landesinstitut für Schule in Soest (NRW). Es gehe aber nicht nur darum, das Denken der Lehrerinnen und Lehrer zu verändern, sondern auch das der Schülerinnen und Schüler.

Rainer Micha, Dr. Joachim Schulze-Bergmann und Karlheinz Thimm (v.l.n.r.)






Vielfach und mit Nachdruck wurde die Rolle der Kommunen hervorgehoben. Sie erkennt man an der wachsenden Bedeutung der Jugendhilfe sowie an einer partizipativen Grundeinstellung der Schulverwaltung, beispielhaft gelöst durch die Kommune Herford: "Mit dem Antragsverfahren für den Aufbau von Ganztagsschulen wurden alle wesentlichen Beteiligten ins Boot geholt", so Schulze-Bergmann. Andere Kommunen wie die Stadt Bonn haben verschiedene Dezernate zusammengezogen, um die offenen Ganztagsgrundschulen besser zu entwickeln.


Mehr als ein Zukunftsprojekt


Und wieder war die Rede von Berührungsangsten: "Ich vermisse, dass es auf Bundesebene zu wenig interkulturelle Kommunikation gibt und dass sich immer dieselben Menschen treffen", sagte Karlheinz Thimm von KoBra.net ("Kooperation in Brandenburg" - eine Kooperationsstelle von Schule und Jugendhilfe). Tatsächlich waren kaum Teilnehmer zu sehen, die Migrantenorganisationen oder - projekte vertraten.

 

Christel Riemann-Hanewinckel, Staatssekretärin im BMFSFJ und Reiner Prölß von der AGJ sowie Ulrike Blischke-Meyer und Vera Timmerberg vom Projekt "Kultur macht Schule" des BKJ

Im Hauptsaal des dbb forums stellten ausgesuchte Projekte ihre Arbeit aus. Beispielsweise das Projekt "Kultur macht Schule" der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, das Vera Timmerberg engagiert vertrat. Zentral platziert, hatte Timmerberg immer einen guten Blick auf das Geschehen der Bundeskonferenz. Sie war rund um die Uhr als überzeugte Botschafterin für kulturelle Bildung an Ganztagsschulen ansprechbar. 

Als die parlamentarische Staatssekretärin des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Christel Riemann-Hanewinckel, sich am Donnerstagabend auch die Projekte anschaute, informierte sie sich präzise über die Formen der Kooperation von Schule und Jugendhilfe. Sie kam zu folgender Einsicht: "Das sind keine Zukunftsprojekte, das ist Realität, die für viele Kinder geeignet ist, ihre Not zu wenden."



Was bringt World Café?


Wer am zweiten Tag der Bundeskonferenz das "World Café" betrat, in das sich der Hauptsaal inzwischen verwandelt hatte, der wurde von einem gleichförmigen Gemurmel umschlossen. Und wer eine der vielen Kommunikationsinseln aufsuchte, also eine im Rund zusammensitzende Gruppe, die Tags zuvor eine große AG gewesen war, der tauchte in einen Informationsfluss über die Arbeit der AGs am Vortag ein.

 

Das World Café und die abschließende Talkrunde

Im World Café, dessen Arbeitskreise mit Luftballons nummeriert und dessen Arbeitsergebnisse auf Metaplan fixiert wurden, konnte man von einer AG-Welt in die andere herüberspringen - man konnte Fragen stellen und war stets gut informiert. Beweglichkeit für die Einzelnen und stetig sprudelnde Informations- und Reflektionsinseln auf der anderen Seite zeichneten das World Café als Lernraum aus.



Wer fängt an?


Die abschließende Diskussionsrunde zum Thema "Soziale Stadt" warf wieder die Ausgangsproblematik auf. Auf der Bühne saßen: Hartmut Brocke, Direktor des Sozialpädagogischen Instituts Berlin (SPI), Dagmar Szabados, Bürgermeisterin der Stadt Halle. Maria Norrenbrok, Lehrerin an der Hulda-Pankok-Gesamtschule in Düsseldorf, Margarete Meyer von der Stadt Essen, Benjamin Mosebach vom Bundesarbeitskreis "Schüler gestalten Schule" und Torsten Raedel vom Deutschen Jugendring sowie Moderator Ralf Zimmer-Hegmann. Auch unter ihnen gab es sichtbare Berührungsängste, doch sie bemühten sich, diese zugunsten eines Dialogs abzubauen.

Hartmut Brocke beispielsweise ermunterte dazu, Brücken zu bauen und die Zuständigkeitsgrenzen zu überwinden: "Wer fängt an", dies sei die Gretchenfrage. Benjamin Mosebach erinnerte daran, dass die Gesetzeslage besser sei als das, was in die Praxis umgesetzt werde. Er appellierte daran, sich direkt und häufiger an die Schülerinnen und Schüler zu wenden. Wilfried Steinert, der Vorsitzende des Bundeselternrates, regte ein neues Verständnis von Schule an, das die Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt sehe und die Elternmitwirkung ernst nehme.



 

Zwei Generationen: Wilfried Steinert und Benjamin Mosebach in der Talkrunde



Wo man hinhörte, traf die Bundeskonferenz auf ausgesprochen positiven Widerhall. Schule und Jugendhilfe wollen sich auf einander zu bewegen und besser zusammen spielen, das war das Signal. Beide gehören zwar unterschiedlichen Welten bzw. Systemen an, doch die Herausforderungen können sie nur gemeinsam meistern. Für Personalrat Willi Ungeheuer war ohnehin klar: "Auf normalem Annäherungsweg kann die Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe nicht gelingen". Gesucht sind Brückenbauer und Visionäre.



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