Bildung gegen Armut, Gewalt und Verwahrlosung

Bildung schützt vor gesellschaftlichem Ausschluss. Ganztägige Betreuung für Kinder ermöglicht Frauen und Müttern, den Spagat zwischen Familie und Beruf besser durchzuhalten. Individuelle Förderung der Kinder erhöht die Lebenschancen, Sporttrainer und Musikpädagogen kommen an Ganztagsschulen zu den Kindern. Vieles spricht aus Sicht des Kinderschutzbundes für den Ausbau von Ganztagsschulen.

Online-Reaktion: Herr Hilgers, Kinder - heißt es - sind die Zukunft. Worin liegt die Zukunft der Kinder in unserem Land?

Hilgers: Kinder werden in unserem Land nur eine gute Zukunft haben, wenn wir alle miteinander daran arbeiten, dass die wichtigsten Kinderrechte aus der UN-Kinderrechts-Konvention eingehalten werden: das Recht auf gewaltfreie Erziehung und gewaltfreies Aufwachsen, das Recht auf Bildung, das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf Partizipation, auf Beteiligung. Diese Rechte bedingen einander und hängen voneinander ab. Nur eine Gesellschaft, die sich der Verwirklichung dieser Kinderrechte widmet, wird für ihre Kinder ein gute Zukunft organisieren können. 

Online-Reaktion: Deutschland gehört zu den kinderfeindlichsten Ländern. Was haben wir falsch gemacht?  

Hilgers: Ich glaube, eine wesentliche Ursache ist die Trennung von Bildung und Erziehung: in den Köpfen, in den Gesetzen und in der Organisation unseres Staates und der Gesellschaft. Die Deutschen haben im Kopf, dass für die Bildung der Staat und die Schule zuständig sind und für die Erziehung die Familie bzw. ersatzweise, wenn das nicht klappt, das Jugendamt, die Jugendhilfe oder freie Träger. Das funktioniert nicht immer, denn wenn man mit Kindern zusammen ist, führt man automatisch Bildungs- und Erziehungsprozesse aus, ob man nun ein Mensch ist, ein Fernsehapparat, ein Computer oder eine Zeitung.

Erziehung funktioniert durch gute Beispiele oder dass man Kinder mag, also durch Vorbild oder Liebe, wie Pestalozzi gesagt hat. Deswegen sind Lehrer auch ständig im Erziehungsprozess, allein durch das gute oder schlechte Beispiel, das sie ihnen geben. Kinder sind total neugierig: Sie fragen uns aus und sie erfahren ihre Antworten, verbal oder nonverbal, auf verschiedenst mögliche Weise. Deswegen übt jeder, der mit einem Kind zusammen ist, automatisch Erziehung und Bildung aus.

Das Wort Betreuung ist ein Ergänzungsvorschlag, das sich die Politik ausgedacht hat, um eine Billigform der Bildung und Erziehung zu proklamieren. Aber Bildung, Erziehung und Betreuung sind ein ganzheitlicher Prozess. Wenn wir den zusammenbringen - politisch, juristisch, gesellschaftlich und in der Lebenswirklichkeit - dann haben wir einen Weg, mit dem  wir vieles besser machen können.

Online-Reaktion: Jedes 5. Kind lebt hierzulande in Armut. Darüber hinaus hat PISA offenbart, dass das gegliederte deutsche Schulsystem mit seiner frühen Auslese die Chancen für Kinder aus sozial schwachen Familien noch verschlechtert. Wie sollte aus Ihrer Sicht die deutsche Bildungspolitik darauf reagieren?

Hilgers: Das machen uns viele Länder vor. Wir sind ja außer Österreich und den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz das einzige Land mit einem gegliederten Schulsystem. Wenn sie beispielsweise beim PISA - Sieger Finnland ein gegliedertes Schulsystem hätten mit Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Gesamtschule und noch zehn Sonderschularten, dann müssten Sie in Finnland die Kinder zur Schule fliegen, bei der dünnen Bevölkerung in diesem Land. Die haben aus der dünnen Bevölkerungsdichte einen Vorteil gemacht, indem sie eine Schule aufgebaut haben, in der alle Kinder zusammen sind. Aber eine in der den Kindern unterschiedliche Aufgaben und Anforderungen gestellt werden und in denen es Zielvereinbarungen gibt. Da gibt es nicht den Elternsprechtag, wo die Eltern und Lehrer über die Kinder hinwegdenken, sondern da setzt man sich zusammen: Kind, Eltern, Lehrer und da heißt es: Wo stehst du jetzt, wo willst du nächstes Jahr stehen, was sind deine Ziele? Was kannst du dazu beitragen, was können die Eltern dazu beitragen als gemeinschaftlichen Prozess und was wir Lehrerinnen und Lehrer? 

Da werden unterschiedliche Ziele gesetzt. Ich will das mal vereinfacht darstellen: Ein Kind möchte im nächsten Jahr in seiner Sportart zwei Meter hoch springen, das ist sein Ziel. Wie arbeitet man darauf hin? Bei dem anderen Kind sind alle froh, wenn es nur jedes dritte Mal sein Sportzeug vergisst, dann ist das Ziel auch schon erreicht.

Binnendifferenzierung, Schulverträge, Schulprofile und individuelle Zielvereinbarungen, für jedes Kind, das ist der Weg mit dem wir unsere Kinder in der Schule weiterbringen können.

Online-Reaktion: Welche Chancen bietet aus Ihrer Sicht der Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland für eine kinderfreundlichere Familienpolitik?

Hilgers: Einmal ist die Ganztagsschule geeignet, Familie und Beruf zu vereinbaren. Sie dürfen nicht vergessen, dass bei den Kindern, die in Armut leben, etwa 40 Prozent bei Alleinerziehenden leben. Das bedeutet, dass den jungen Frauen und Müttern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht möglich ist. Das hat übrigens dazu geführt, dass gerade die Akademikerinnen sich quasi in einem "Gebärstreik" befinden. Diese bekommen ganz wenig Kinder, die meisten Kinder wachsen bei den Armen auf, das ist ein doppeltes demografisches Risiko, das wir da eingehen.

Der zweite Punkt ist, dass Ganztagsschulen dazu beitragen können, die Chancengleichheit von Kindern zu verbessern. Ich meine nicht Gleichmacherei. Das hat Berolt Brecht schön ausgedrückt, der Me-ti aus dem "Buch der Wendungen" sagen lässt: "Gemessen wer höher ragt, darf erst werden, wenn die Füße gleich hoch stehen." Darum geht es. Es geht bei Ganztagsschulen auch darum, dass eben nicht die Mütter die Nachhilfelehrerinnen der Nation sind, sondern dass man den Kindern eine fachlich qualifizierte Hausaufgabenbetreuung anbietet.

Der dritte Punkt ist: Ich beobachte mit Sorge den "Tourismus", der sich da entwickelt: Mütter oder Väter, die Kinder heute von Musikschule zum Sportverein und von dem Sportverein zum nächsten und dann ins Fitnessstudio und dahin und dorthin fahren. Dies ist in der Ganztagsschule zusammenzubringen. Dort müssen Sporttrainer und Musiklehrer wieder hinkommen. Ich glaube, dass es übrigens ein historischer deutscher Fehler ist, dass wir gerade die musische Erziehung so aus der Schule verbannt haben. Über die Ganztagsschule können wir sie wieder zurückholen. Das sind gewaltige Chancen für den Bildungsprozess, dass Trainer oder Musiklehrer zu den Kindern kommen, und sie nicht zu den Kindern gefahren werden müssen. Das ist auch eine wichtige Chance für die Ganztagsschule. Es kann übrigens nicht die Zielsetzung sein, dass man vormittags Unterricht macht und nachmittags Trainer, Nachhilfelehrer, Musikerzieher kommen. Abwechseln, dem Lebensrhythmus des Kindes gemäß, das ist die kindgerechte Schule.

Online-Redaktion: Einen Einwand würde ich gerne vortragen, der sich auf den "Tourismus" an Schulen bezieht. Den können sich doch nur Eltern leisten, die ein gewisses soziales Niveau haben? 

Hilgers: Das wäre ganz wichtig, dass bei den sich teilweise entwickelnden Elternbeiträgen bei offenen Ganztagsschulen - das ist ja auch nicht typisch, denn in Europa gibt es das sonst nirgendwo - keine unangemessene Elternbeteiligung erhoben wird. Übrigens, was die Grundschulen betrifft, ist dies ein Verstoß gegen die UN-Konvention. Deswegen wurde dies ausdrücklich zum nichtschulischen Angebot erklärt, damit man überhaupt die Beiträge nehmen darf.

Aber wenn schon Beiträge, dann bitte sozial gerecht und dem Einkommen der Familie entsprechend. Für viele Familien im unteren Einkommenssegment muss das beitragsfrei bleiben. Da sind dann die Gemeinden gefordert, um in die Gestaltung vor Ort einzugreifen.

Online-Reaktion: Sind Ganztagsschulen die letzte Trutzburg benachteiligter Kinder vor erzieherischer Gewalt und Verwahrlosung?  

Hilgers: Damit würden wir die Ganztagsschulen überfordern, aber Bildung war immer schon gut gegen Gewalt, gegen Armut und gegen Verwahrlosung. Daher glaube ich, dass Ganztagsschulen einen Beitrag leisten können, um Kindesvernachlässigung und Gewalt einzudämmen.

Online-Reaktion: Welche Ganztagsschulen wünschen Sie sich, um Kinder optimal zu fördern?

Hilgers: Ich wünsche mir kindgerechte Ganztagsschulen mit eigenem Schulprofil, mit einem Schulvertrag zwischen Eltern, Lehrern und Schülern, mit Zielvereinbarungen über jeden Bildungs- und Lebensabschnitt, mit Abwechslung zwischen Unterricht und Spielpädagogik: Ich wünsche mir Ganztagsschulen, in die die Kinder gerne gehen.

Online-Reaktion: Würden Sie auch Ihre eigenen Kinder auf eine Ganztagsschule schicken?

Hilgers: Meine drei Söhne waren in einer Ganztagsschule, aber erst ab dem fünften Schuljahr, die ersten vier Jahre leider nicht. Die so genannte Betreuungslücke führte dazu, dass ich arbeiten ging und meine Frau mit den drei Söhnen zuhause bleiben musste. Das hat meiner Frau weh getan, denn sie hat eine gute Ausbildung, aber damals verdienten Männer noch mehr als Frauen, was übrigens leider auch heute noch der Fall ist. Anderes hätten wir uns gar nicht leisten können. Ansonsten würden wir heute noch in der siebten Etage in einer Mietskaserne wohnen anstatt in einem schönen Einfamilienhaus. Ich wäre froh gewesen, wenn wir auch schon für die Grundschule dieses Angebot gehabt hätten.

Ich wünsche mir, dass Plätze in Kinderhorten, die durch Ganztagsschulen und Plätze in Kindertagesstätten, die durch die demografische Entwicklung frei werden auch in Westdeutschland umgewandelt werden in Betreuungsplätze für unter Dreijährige, damit alle Eltern die Chance haben - nicht nur wegen des wirtschaftlichen Interesses, sondern auch zu ihrer Zufriedenheit - Familie und Beruf miteinander vereinbaren zu können. 


Angaben zur Person
Heinz Hilgers wurde 1948 in Dormagen geboren, dort lebt er auch heute mit seiner Frau und den drei Söhnen. Der Diplom-Verwaltungswirt leite bis 1985 das Jugendamt der Stadt Frechen im Erftkreis. Seit 1975 war Hilgers Mitglied des Rates der Stadt Dormagen, bis 1989 Fraktionsvorsitzender der SPD. Von 1989 bis 1994 hatte er die Position des ehrenamtlichen Bürgermeisters der Stadt inne, von 1994 bis 1999 übte er das Amt des hauptamtlichen Bürgermeisters in Dormagen aus. In der Zeit von 1989 bis 1994 war Hilgers zudem Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen. Seit 1993 ist Heinz Hilgers Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.

Kategorien: Service

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