Berliner Kongress schmiedet Ideen für Zukunftsschulen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Mit einem ungewöhnlichen und vielleicht gerade deshalb erfolgreichen Moderationskonzept ging der Ganztagsschulkongress "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" in die zweite, entscheidende Runde. Aus sieben Arbeitsforen gingen rund 30 Workshops hervor. Im zweiten Teil des Berichts geben wir Einblicke in die Arbeitsstruktur der Workshops, dokumentieren die Themen und Ergebnisse und versuchen zu zeigen, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von dem Berliner Kongress mitnehmen.
"Kreativität gibt es nicht auf Knopfdruck": Solche und ähnliche Schriftzüge finden sich in den sieben Arbeitsforen am Nachmittag des 17. September überall an den Wänden. Außerdem fallen die Bilder von Schmetterlingen und Hummeln auf und die großen Schalen mit den Äpfeln.
Schmetterlinge und Hummeln als Wegweiser auf dem Kongress
Innerhalb der sieben Arbeitsforen entstehen Ideenschmieden in äußerst bunter Zusammensetzung: mit Experten, Politikern, Wissenschaftlern, Praktikern, Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern. Gültig ist nur das Gesetz der Füße und der individuellen Wahl. Die Räume der Arbeitsforen sind sperrangelweit offen. Trotzdem sind die nun entstehenden Arbeitsgruppen alles andere als ein Taubenschlag.
Offene Räume, offene Ohren für neue Ideen
Das Moderationskonzept heißt "Open Space"- Methode und sieht folgende Rahmenbedingungen vor: Heterogene Gruppen; die Fragen sollen auf den "Fingernägeln brennen"; nicht auf alles gibt es eine Antwort; die von den Kongressteilnehmern generierten Ideen werden Bestandteil des Begleitprogramms der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Der Gedanke, der sich dahinter verbirgt, ist die Botschaft des Films "Treibhäuser der Zukunft", der Gelingensbedingungen für Ganztagsschulen aufzeigt. Partizipation und Verantwortung oder neue Zeitstrukturen und offene Raumkonzepte sind Schlüsselbegriffe für Reinhard Kahls Tableau gelungener Ganztagsschulen von Hamburg bis zum Bodensee.
Selber die Themen bestimmen, die auf den Fingernägeln brennen. Das Spektrum der Themen konnte breiter und vollständiger kaum sein. Zunächst gab es die sieben Arbeitsforen. Abeitsforum 1: "Von den Stärken ausgehen - Kinder individuell fördern". Arbeitsforum 2: "Neue Unterrichtsformen - Chancen für die Schüler". Arbeitsforum 3: "Weg vom 45 Minuten-Takt - Verzahnung von Vormittag- und Nachmittag". Arbeitsforum 4: "Lernumgebung verbessern - Räume neu gestalten". Arbeitsforum 5: "Schule neu gestalten - gemeinsame Verantwortung von Schülern und Eltern". Arbeitsforum 6: "Ganztagsschule im Mittelpunkt - Kooperationen mit außerschulischen Partnern". Arbeitsforum 7: "Neuen Anforderungen gerecht werden - Qualifizierung des pädagogischen Personals".
Im Arbeitsforum 2 "Neue Unterrichtsformen", in das fünf Experten eingeladen waren, bildeten sich rasch zahlreiche Untergruppen. Außer den Experten boten auch Lehrerinnen und Lehrer oder Teilnehmer, die über externe Kooperationen mit Ganztagsschulen zu tun haben, eigene Workshops an.
Fruchtbare Diskussionen in den Arbeitsgruppen und Anleitung durch Sabine Schweder (r.)
Einen der vielen Workshops leitete hier Sabine Schweder von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Rund 20 Teilnehmer wollen mehr darüber wissen, wie eine "Stundentafel zum Lehrersprechzeitenplan" wird. Schweder sammelte zunächst Assoziationen zum Thema des Workshops. Danach schilderte sie ihre Erfahrungen als Projektleiterin eines Pilotprojektes an der Integrierten Gesamtschule "Grünthal" in Stralsund. Das Unterrichtsprojekt zum Thema "Athen 2004" veränderte nicht nur die Schüler-, sondern auch die Lehrerrolle tiefgreifend: während die Schülerinnen und Schüler sich als eine kooperative Lerngemeinschaft neu definierten, wurde aus dem Lehrkörper ein Team von Lernberatern. "Es hat vier Wochen lang geklappt", resümierte Sabine Schweder. Das Pilotprojekt an der IGS "Grünthal" ist ein Beispiel dafür, dass mehr Fragen beantwortet wurden, als offen blieben. Auch dies brauchte die Zusammenkunft der 1200 Schulreformer in Berlin: Fragen beantworten.
Alle Themen auf einen Blick
Ein unvollständiger Durchgang durch die Themen der sechs übrigen Foren ist der Mühe wert. Er verdeutlicht die einmalige Vielfalt der selbstinitiierten Workshops: Was brauchen Ganztagsschulen in sozialen Brennpunkten? Was bringt es, gute Beispiele in den Medien zu multiplizieren? Schülerinnen als Subjekte, Eigenständiges Lernen, Förderung von Begabungen, individuelle Förderpläne, Bildung für Demokratie- und Zivilgesellschaft, Körperliche Erziehung in Ganztagschule integrieren, Neue Lernkultur, Schülerfirmen, Laptop-Klassen, Rhythmisierung im Sekundarbereich, Hausaufgaben, keinen Schüler zurücklassen, Umgestaltungsprozesse in Herford, Defizitäre Schulpädagogik, Essenskonzepte, Stadtentwicklungsplanung, Raumumwandlungen von der Halbtags- zur Ganztagsschule, Kinder wahrnehmen, Partizipation an Schulen, Bundesarbeitskreis "Schüler gestalten Schule", Motivation von Schülerinnen und Schülern, Kooperation mit Betrieben, Kooperationsverträge, Kooperation von Schule und Jugendhilfe, Globales Lernen, Studenten als Kooperationspartner, Öffnung der Ganztagsschule für andere Generationen, Geschlechtsbewusste Erziehung, Kunst - Kultur - Mediengestaltung, Qualitätssicherung für externe Partner, Schulleitungen motivieren, Lehrerinnenausbildung aus SchülerInnensicht.
Wie gewinnt man ein Kollegium?
Am frühen Abend war eine große Diskussionsrunde angesetzt worden, um Experten zu befragen: "Wie werden wir Ganztagsschule?" Die Workshop-Teilnehmer versammelten sich nun wieder im großen Plenum. Ein riesiger Raum vollbesetzt.
Das Olympia-Projekt der IGS Grünthal
"Wie gewinnt man ein Kollegium, das die Ganztagsschule nicht will?" lautete die Auftaktfrage. "Man hole sich einen Berater von außen, der die Schulgebäude kennt und die Länderspezifika", sagte Stefan Appel, Bundesvorsitzender des Ganztagsschulverbandes. Und er fügte hinzu: "Wenn es mal begonnen hat, schwenkt die andere Hälfte ein." Am besten sei es, wenn eine Ganztagsschule langsam hochwachse. Ein anderes, wichtiges Argument steuerte Christine Kieschnick, die Schulleiterin an der IGS "Grünthal", bei: "Ein Lehrer muss Kinder mögen und bereit sein, sie zu verstehen." Durch die Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer und der Eltern sei die Schule "fast unbemerkt von einer offenen in eine gebundene Schule übergegangen".
Kieschnick versteht die Ganztagsschulen als Kompetenzzentrum: "Da sind wir in Mecklenburg-Vorpommern schon sehr weit und haben das vier Wochen in unserer Schule mit dem Olympia-Projekt der Klasse 7a ausprobiert." Die Schülerinnen und Schüler hätten erfolgreich Kompetenzen nachgewiesen, und der Prozess wurde begutachtet.
"Wie verlässlich schätzen Sie die Kommunen ein?"
"Welche Verpflichtungen gibt es für die Schulträger, die Personalangelegenheiten zu unterstützen?" Und: "Wie verlässlich schätzen Sie die Kommunen ein, Aufgaben zu übernehmen, zu denen sie nicht verpflichtet sind?" Dies waren die wohl zentralen Fragen der Diskussionsrunde.
Rainer Schweppe, Leiter der Schulverwaltung der Stadt Herford
Die Städte sind nicht verpflichtet, solche Aufgaben zu übernehmen, antworteten einvernehmlich Jutta Paprott und Rainer Schweppe. "Aber die politische Debatte setzt die Schulträger unter Druck", erläuterte Paprott, Leiterin des staatlichen Schulamts Greifswald, den Sachverhalt. "Für Familien mit Kindern sind Ganztagsschulen besonders wichtig", fügte Rainer Schweppe, Leiter der Schulverwaltung der Stadt Herford, hinzu. "Dadurch werden sie ein Standortfaktor", so Schweppe.
Andere Organisationen akzeptieren
Kathrin Höhmann vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund zufolge ist das Thema Förderung im öffentlichen Bewusstsein wichtiger geworden. Untersuchungen würden belegen, dass gebundene Ganztagsschulen den Bedarf nach mehr individuelle Förderung besser gerecht würden. Wichtig sei auch die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler als "autonome Lerner": "Eine Schule, die sich als Ganztagsschule versteht, wird die Schülerinnen und Schüler besser einbeziehen."
Für Karlheinz Thimm, den koordinierenden Leiter der Agentur "Kooperation in Brandenburg" (KoBra.net), muss die Jugendhilfe einen Selbstklärungsprozess durchlaufen: "Wenn Jugendhilfe sich nicht bei den Ganztagsschulen engagiert, dann wird sie verlieren." Um dies zu erreichen, müsse die Schule auch andere Organisationsformen akzeptieren, denn Ganztagsschulen ohne Schulsozialarbeit seien undenkbar, sagte ein Jugendsozialarbeiter aus dem Plenum. Darüber hinaus kritisierte der Schulleiter eines Berufskollegs, dass nur ein viel zu geringer Teil der Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern abgefragt werde. Die Schüler sollten in die Ganztagsschulen gehen und ihr Wissen vermitteln: "Lasst uns solche kleinen Kompetenzzentren schaffen."
Der Freitagabend klang mit einem Empfang des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Bildung und Forschung Ulrich Kasparick aus. "Was mir besonders gefällt, ist die Atmosphäre einer Zukunftswerkstatt." Kasparick freute sich über die vielen Schülerinnen und Schüler, die mithalfen beim Gestalten dieser Zukunftswerkstatt. "Als ich vor 15 Jahren hier in der ehemaligen Kongresshalle am selben Ort war, wollte man aufbrechen zu neuen Ufern und ein großes Projekt anfangen." Für einige sei diese Werkstatt-Atmosphäre deshalb nicht neu. "Wichtig ist das Gespräch zwischen Praktikern und den politisch Handelnden vor Ort." Es dürfe kein Talent mehr verschenkt werden. Noch lange standen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen, tauschten sich aus und diskutierten über das Gelingen von guter Schulpraxis.
"Es fängt an, wenn die Zeit reif ist"
Am nächsten Morgen, Samstagvormittag, machten die Arbeitsforen und die vielen Workshops da weiter, wo sie tags zuvor aufgehört hatten. Mit einem Unterschied: es sollten nun Botschaften, Wünsche, Forderungen an Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Praktiker formuliert werden. Außerdem sollten Anforderungen an Unterstützungs- und Beratungsleistungen des Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" erarbeitet werden.
Auch diesmal rasches Zusammenfinden der Gruppen. So im Arbeitsforum 1 "Von den Stärken ausgehen - Kinder individuell fördern". Es war mehr als beeindruckend, in welch kurzer Zeit Ideen und Forderungskataloge geschmiedet wurden. Mit dabei: mehrere Schülerinnen und Schüler in orangenem T-Shirts. Ein Auszug aus dem Forderungskatalog: ein Bildungsportal mit Einrichtungen, die Finanzmittel verteilen; Organisation von runden Tischen; Aufbau von Netzwerken; Wissenschaftliche Forschung über die Bedürfnisse von Kindern- und Jugendlichen; Rahmenbedingungen schaffen für mehr Personal; Ombudsstellen für Kinderrechte; Notengebung aufbrechen beziehungsweise verändern; Recht auf Supervision an Ganztagsschulen; Adressenpool bei der DKJS von Leuten, die Ganztagsschulen machen wollen; neue Auswahlverfahren für die Lehrerbildung entwickeln (Beziehungsfähigkeit von Lehramtskandidaten testen); Erhalten der Kommunikationsgemeinschaften. Auch hier bewies ein Schriftzug aus dem Moderationskonzept seine Genauigkeit: "Die da sind, sind genau die Richtigen."
Was sagt PISA- Erfinder Andreas Schleicher?
Wenig später fanden sich zahlreiche Wünsche aus dem Forderungskatalog der Workshopteilnehmer in der Rede des PISA-Experten Andreas Schleicher wieder.
Andreas Schleicher
Ein Grund - so der Bildungsexperte - warum es Schweden, Finnland und Japan gelingt, erfolgreich zu sein, "ist die systemische Verankerung von Innovation". Es gebe viel zu wenig individuelle Förderung an den Schulen, die für alle "das Richtige in der richtigen Zeit" sei. Grundlegend ist für Schleicher die Vernetzung in der Gesellschaft. Angesichts der demografischen Entwicklungen prognostizierte der Bildungsfachmann "einen dramatischen Mangel an gut ausgebildeten jungen Menschen". Bildungssysteme seien Tanker, die nur langsam ihre Richtung ändern. Dass das Bildungssystem reformierbar sei, "zeigen uns gute Schulen in Deutschland".
Schleicher forderte mehr Gewicht auf die Bewertung pädagogischen Handelns. Außerdem sei die Leistungserwartung an die Schülerinnen und Schüler zu gering: "Wenn wir von den Schulen mehr Ergebnisorientierung verlangen, brauchen sie auch mehr Freiräume." Die Schulen müssten mehr Verantwortung für die Schülerinnen und Schüler übernehmen. Wichtig sei auch die Bereitschaft, mit Heterogenität umzugehen und die Anreize für den Lehrerberuf zu verändern. Schleicher setzte sich zudem dafür ein, dass an den Schulen "offene und integrierte Angebote" vorhanden seien, die unterschiedlichen Interessen gerecht wird: "Gute Bildung hat ihren Preis", fügte Andreas Schleicher hinzu. Die für Bildung eingesetzten Gelder seien aber keine Kosten, sondern Investitionen.
Wenn du merkst ...
Viele Erwartungen, ja Begeisterung wurde auf dem Berliner Kongress geweckt. "Ich habe noch nie erlebt, dass so viele Menschen in einem Forum zu Wort gekommen sind", sagte Heike Kahl zum Abschluss der Veranstaltung. Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung wolle mit einem "Programm der kleinen Schritte" die Euphorie mitnehmen. Heike Kahl ergänzte: "Wir brauchen die gesellschaftliche Verständigung über Bildung."
Verabschiedung der Helfer des Bundesarbeitskreises "Schüler gestalten Schule"
Diese Verständigung reicht bis in die konkreten Schulen hinein. Sie brauchen - wie Ruben Herzberg eher beiläufig vor dem Ausstellungsstand seiner Schule bemerkte - eine "Selbstvergewisserung" über ihre Identität. In einem kurzen Redebeitrag von Reinhard Kahl unmiitelbar vor dem Kongressabschluss wünschte dieser dementsprechend eine Kultur des "Und" an den Schulen, statt des "Entweder-Oder". Auch Institutionen - so Kahl - hätten Körper und Seele. "Man muss Schulen erlauben, dass sie eine Biographie haben." Ganztagsschulen als Systeme bzw. "Individuen" mit Zukunft haben diese Chance eher als Bildungsbereiche, die vom Wind der Veränderung wenig tangiert werden. UND: "Wenn du merkst, dass du auf einem toten Pferd sitzt, steige ab", zitierte Reinhard Kahl ein "Indianersprichwort" von Schulleiter Alfred Hinz.
Lesen Sie hier Teil 1 unserer Reportage über den Ganztagsschulkongress.
Kategorien: Service
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