Aufbruchstimmung in den Häusern des Lernens : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Drei völlig unterschiedliche Ganztagsschulen besuchten Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn und der brandenburgische Bildungsminister Steffen Reiche am 27. August 2004 in Templin, Hennigsdorf und Velten. Allen drei Schulen war bei aller Vielfalt eines gemein: Die Mittel aus dem Bundesinvestitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" haben dort für Aufbruchstimmung gesorgt.

"Von Ganztagsschulen spreche ich eigentlich gar nicht so gerne", erzählt Steffen Reiche, Brandenburgs Kultusminister, "denn das wird oft so missverstanden, als sollte Schule einfach nur den ganzen Tag dauern. Doch es geht ja um eine völlig andere Lernkultur - daher rede ich lieber von Häusern des Lernens."

Auf dem Weg zu diesen Häusern des Lernens ist Brandenburg dem Minister zu Folge schon ein gutes Stück vorangekommen: "Wir haben nach einem strengen Auswahlverfahren 54 ganztägige Angebote an Schulen zum neuen Schuljahr neu genehmigt und damit derzeit insgesamt 134 öffentliche Schulen mit Ganztagsangeboten im Land Brandenburg. Das entspricht einer Ausweitung der Schulen mit Ganztagsangeboten um 67 Prozent. Insgesamt 66 Ganztagsschulen erhalten in diesem Jahr Mittel aus dem Bundesinvestitionsprogramm 'Zukunft Bildung und Betreuung'."

Treffen im Klassenzimmer der Waldhofschule (v.r.): Edelgard Bulmahn, Markus Meckel, Schulleiter Wilfried Steinert und Torsten Silberbach, Direktor der Stephanus-Stiftung, dem Schulträger

Am letzten Freitag besuchten Reiche und Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn drei dieser geförderten Schulen, um sich ein Bild vom Einsatz der IZBB-Mittel und den damit verbundenen Fortschritten zu machen. Dabei gaben sie den Schulleitungen und Lehrerkollegien auch die Gelegenheit, Probleme anzusprechen und zu diskutieren.

Erste Station der Tagesreise war Templin. Die im Grünen gelegene Waldhof-Schule feiert in diesem Jahr ihr 150-jähriges Bestehen unter anderem mit der Errichtung eines multifunktionalen Erweiterungsbaus mit Unterrichts-, Therapie-, Gruppen- und Betreuungsräumen. In Anwesenheit der Politiker wurde dieser Bau, der 970 000 Euro gekostet hat und mit einem Bundeszuschuss von 773.600 Euro unterstützt worden ist, nun eingeweiht. Schulleiter Wilfried Steinert bedankte sich in seiner Rede bei Edelgard Bulmahn: "Durch das Ganztagsschulprogramm haben Sie einen wichtigen Rahmen für diese Arbeit geschaffen."

Transparenz durch Glastüren

Die Waldhofschule, deren Träger die Stephanus-Stiftung ist, ist eine integrative Grundschule mit angegliederten Förderklassen für Geistigbehinderte und trägt den Namen "Eine Schule für alle". Im Schuljahr 2003/04 wurden zwei erste Klassen mit je 16 Schülerinnen und Schülern aufgenommen, davon jeweils die Hälfte Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf wie Geistigbehinderte, Lernbehinderte, Körperbehinderte und Sprachbehinderte. Kinder mit und ohne Behinderungen lernen seitdem gemeinsam. Zeitgleich sind dort der rhythmisierte Ganztag und für die Lehrkräfte das Präsenzzeitmodell eingeführt worden. "Zeit und Raum zum Lernen haben - das wird durch das Ganztagsschulkonzept möglich", erläutert Steinert. "Von acht bis 15 Uhr wechseln sich Phasen des Lernens und Spielens, des Konzentrierens und Entspannens, des gemeinsamen Lernens und der individuellen Arbeit ab. Nicht Stundenpläne bestimmen den Rhythmus, sondern die Bedürfnisse und Lernvoraussetzungen der Lerngruppen."

Jedes Kind bekommt einen individuellen Lern- und Entwicklungsplan zugeordnet, der regelmäßig weitergeschrieben und mit den Eltern abgestimmt wird. Mit diesen besteht eine enge Zusammenarbeit, wozu auch ein eigenes Elternzimmer im Schulgebäude beiträgt. Durch den Neubau stehen nun für alle Jahrgangsteams Lehrerarbeitszimmer zur Verfügung. Transparenz wird groß geschrieben: Überall sind Glastüren eingesetzt, und jede Klasse verfügt über einen eigenen Computer, mit dem auch computergestützter Fachunterricht erprobt wird. Schon in der ersten Klasse können die Kinder den Computer-Führerschein erwerben. "Als die Venus neulich vor die Sonne zog, haben wir das hier auf all unseren Bildschirmen mitverfolgen können", berichtete der Schulleiter.

 

     

Edelgard Bulmahn und Steffen Reiche bei ihren Ansprachen zur Neubaueröffnung der Waldschule in Templin

"Wie erfolgreich das gemeinsame Vorgehen von Bund, Land und Kommune sein kann, können wir heute ganz konkret an der Waldhofschule sehen", lobt Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn das "rasche und entschiedene" Handeln aller Beteiligten. Das Gebäude, an dem die Arbeiten vom 5. Januar bis zum 13. Juni 2004 dauerten, ist hell und freundlich eingerichtet. Die Klassenräume haben nichts mehr mit den Rechtecken traditioneller Schulen gemein, sondern sind verwinkelt und verfügen über jeweils zwei Eingänge. Als eine Schülerin und ein Schüler während des Rundgangs debattierten, welcher Klassenraum größer sei, vermittelte die Ministerin: "Sie sind gleich groß, nur unterschiedlich geschnitten."

Bei ihren Gesangs- und Tanzdarbietungen für die anwesenden Gäste kam etwas von der Freude rüber, welche die Schülerinnen und Schüler beim Lernen und Leben an ihrer Schule empfinden. Antje Lachmann, Mutter und Vorsitzende der Schulkonferenz bestätigte in ihrer Rede, dass "die Kinder das Haus angenommen und mit Leben erfüllt haben".

Auch für Edelgard Bulmahn ist die Waldhofschule eine "Vorzeigeschule", deren erfolgreiches Konzept eines integrativen Ansatzes und einer frühen und individuellen Förderung für den großen Zuspruch und Zulauf in der Region sorgt. "Zum neuen Schuljahr nehmen wir zwei Klassen auf", ergänzte Wilfried Steinert, "wir hatten aber Anmeldungen für fünf."

Ein neuer Trick in der Schach-AG

Nach zwei Stunden brachen die Politiker und Journalisten zur zweiten Station auf, der Albert Schweitzer-Gesamtschule in Hennigsdorf. Diese verfügt seit 1996 über einen Ganztagsbetrieb für die Klassen sieben und acht und ab diesem Schuljahr auch für die neunte Klasse. Für die zehnte Klasse ist der Ganztag beantragt. Insgesamt besuchen 403 Schülerinnen und Schüler 16 Klassen, darunter ab diesem Schuljahr drei Integrationsklassen mit lernbehinderten und verhaltensauffälligen Schülern.

Hier beträgt der Bundeszuschuss 1.150.000 Euro für eine neue Sporthalle und die Vollsanierung des aus dem Jahr 1964 stammenden Schulgebäudes, das komplett entkernt und neu an den Bedürfnissen des Ganztags orientiert wiederaufgebaut wird. Ab Februar 2005 muss die Schule daher für die Zeit der Baumaßnahmen für eineinhalb Jahre in ein leerstehendes Schulgebäude umziehen. Deutsch- und Geschichtslehrerin Sibylle Schumann erzählte, dass die Umgestaltungspläne dem Kollegium vorgestellt wurden und dieses Wünsche bezüglich der neuen Räumlichkeiten äußern konnte.

Die Schach-AG an der Albert Schweitzer-Gesamtschule in Hennigsdorf

Schulleiterin Sybille Kutschke-Stange führte ihre Gäste derweil durch die Klassen- und AG-Räume. An der Albert Schweitzer-Schule gibt es zahlreiche AG-Angebote, die jedes Schuljahr neu festgelegt werden. Steffen Reiche lernte in der Schach-AG des Mathematiklehrers Joachim Schwarzbach "einen neuen Trick", ermutigte die Schulleiterin, die Zoo-AG mit den Hasen und Meerschweinchen nach dem Umbau räumlich auszuweiten und schmetterte in der Chor-AG das Lied "Märkische Heide". Neben diesen Arbeitsgemeinschaften gibt es unter anderem noch eine Schulfunk-AG, Theater-AG, eine Sport-AG, eine Billard-AG und eine Koch-AG. Letztere sorgte zur Mittagszeit auch für das leibliche Wohl der Anwesenden mit Suppe, Buletten, belegtem Baguette und Auflauf.

Beim gemeinsamen Essen nutzte Schulleiterin Kutschke-Stange die Möglichkeit, Edelgard Bulmahn und Steffen Reiche auch auf Probleme anzusprechen: "Die Verzahnung zwischen Schule und Jugendhilfe funktioniert noch nicht. Bei verhaltensauffälligen Jugendlichen, die den Unterricht massiv stören und nicht zugänglich sind, muss immer erst was Schlimmes passieren, bis das Jugendamt tätig wird." Reiche räumte eine "schwierige Gratwanderung" ein: "Schreitet das Jugendamt früh ein, heißt es: Das verfassungsrechtlich verbriefte Recht der Eltern auf Erziehung wird beschnitten. Greifen wir zu spät ein, heißt es: Warum wird erst gehandelt, wenn es zu spät ist?" Die Problematik rühre aber am Kern des Problems: "Wir haben in Deutschland keine Bildungs-, sondern eine Erziehungskatastrophe." Zugleich versicherte der Minister den Pädagogen, dass das 610 Stellen-Programm, über das auch die Schulsozialarbeiterin der Albert Schweitzer-Schule finanziert wird, weiterlaufe. "Die Kollegin hat sich hier eine Vertrauensstellung erworben und ist eine große Hilfe", berichtete Frau Kutschke-Stange.

Selbstbewusstsein durch Arbeitsgruppen

Wie an der Waldhof-Schule betonten auch hier die Eltern und Lehrerinnen die Bedeutung der engen Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus. Beim Albert Schweizer-Gedenklauf, der Elternstaffel, der Stadtstaffel, den Abschluss- und Weihnachtsfeiern sind die Eltern involviert. Bei der Initiative "Eltern helfen Eltern" besuchen Eltern die Erziehungsberechtigten von Jugendlichen, denen als so genannten Problemfällen Disziplinarmaßnahmen drohen, um mit ihnen zu sprechen und zu helfen. "Die Zusammenarbeit hat an unserer Schule Tradition", erzählte ein Vater, dessen Sohn an der Schach-AG teilnimmt. "Mein Sohn hatte zu Beginn der Schulzeit Angst, an die Tafel zu gehen. Durch die Arbeitsgemeinschaften hat er an Selbstbewusstsein gewonnen und jetzt ein gutes Zeugnis erhalten."

Steffen Reiche und Edelgard Bulmahn als Mitsänger in der Chor-AG an der Albert Schweitzer-Gesamtschule

Selbstbewusstsein können die Jugendlichen auch auf der Bühne gewinnen. Für Ministerin Bulmahn und die anderen Gäste spielten die Mitglieder der Theater-AG eine Szene aus einem Stück über Albert Schweitzer, den Namenspatron der Schule, das diese Woche zur 40 Jahr-Feier der Schule aufgeführt worden ist. Dustin Marcinkowski und Coline Ludwig, beide 14 Jahre alt, bringen in den Rollen des Ehepaars Schweitzer Geschichte nahe. Um die Geschichte der Olympiade ging es zeitgleich in der Computer-AG. "Erkunde die olympischen Stadien! Finde raus, wer welche Medaillen für Deutschland gewonnen hat!", lauteten die weiteren Aufgaben für die Schülerinnen und Schüler vor den Bildschirmen.

Es finden auch Arbeitsgemeinschaften statt, die von Kooperationspartnern organisiert werden, wie Deutsch- und Englischlehrerin Ines Fitzke zu berichten wusste: "Das Deutsche Rote Kreuz bietet ein Streitschlichter-Programm und das Projekt ,Mädchen stärken' an, eine Musikschule veranstaltet Afrikanisches Trommeln, eine Einzelperson bietet eine Fahrradwerkstatt, und die Schule steht gerade in Verhandlungen mit einem Fitnessstudio."

Dritter und letzter Halt der Ganztagsschulreise war Velten, wo Schulleitung und Lehrerkollegium der Grundschule Velten-Süd die Besuchergruppe erwarteten. Hier ist das große Thema die flexible Eingangsphase, die mit Beginn dieses Schuljahrs eingeführt worden ist. Allen Kindern wird jetzt ein individueller Schulstart ermöglicht, der die Lernvoraussetzungen jedes Einzelnen berücksichtigt. In den Klassenstufen eins und zwei wird jahrgangsübergreifend unterrichtet. Zwei Lehrerinnen arbeiten zusammen in einer Klasse, in der sie die Schülerinnen und Schüler in Gruppen aufteilen. Zusätzlich treffen sie sich zur gemeinsamen Vorbereitung des Unterrichts. "Es ist in den ersten Wochen noch ein wenig learning by doing", meinte Schulleiterin Astrid Bloch, "aber wir wollen das Angebot für die Kinder weiter ausbauen."

"Schulen müssen die Chancen ergreifen"

Edelgard Bulmahn erkundigte sich bei Daniela Strick und Gundula Thomas nach der neuen Arbeitsweise. "Nicht mehr als Einzelkämpfer, sondern im Team zu agieren, fällt uns nicht so schwer, sondern macht Spaß, auch wenn es jetzt erheblich mehr Zeit beansprucht", berichteten die beiden Lehrerinnen. "Die ersten Rückmeldungen von Eltern sind sehr positiv, auch sie merken, dass so eine wesentlich bessere individuelle Förderung möglich ist." Auch Steffen Reiche ist vom FLEX-Konzept überzeugt: "Bis 2009 wollen wir in allen Grundschulen flexible Eingangsstufen einrichten und für alle Kinder das Recht auf Bildung ab fünf Jahren festschreiben."

In der in einem Plattenbaugebiet gelegenen Grundschule erhalten 176 Schülerinnen und Schüler Unterricht, von denen 80 am offenen Ganztag teilnehmen, der mit diesem Schuljahr eingerichtet worden ist. Unterricht und Betreuung umfassen an drei Wochentagen acht Zeitstunden, wobei von montags bis freitags ein flexibler Tagesbeginn ab 7.30 Uhr gewährleistet ist. Die Nachmittagsbetreuung findet in einem neben dem eigentlichen Schulgebäude liegenden Flachbau, dem so genannten Zwergenhaus, statt. Dieses hat neue Fenster erhalten, die aus IZBB-Mitteln finanziert wurden.

Das Zwergenhaus der Grundschule Velten-Süd mit den erneuerten Fenstern

Insgesamt 18.000 Euro flossen in die Grundschule: Für die Anschaffung von Bühnenteilen, die Einrichtung einer Videowerkstatt und die Ausstattung der Schulbibliothek. Doch weiterer Finanzbedarf besteht. "Können Schulen auch noch Gelder nachfordern?", fragte nach dem Schulrundgang eine Fachlehrerin in der abschließenden Gesprächsrunde. "Unser Fachraum ist auf dem Stand von vor 20 Jahren, und ich habe nicht mal einen Brennofen." Steffen Reiche gab eine "prinzipielle" Zusage: "Das Land entscheidet über die Anträge, aber wenn Ihr pädagogisches Konzept gut ist und Sie genügend Kooperationspartner haben, könnte es klappen."

Am Ende des Tages hatten die Besucher drei ganz unterschiedliche Schulen gesehen, denen das Bundesinvestionsprogramm eine "Chance bietet, die die Schulen selbst ergreifen und gestalten müssen", wie Edelgard Bulmahn erklärte. In Templin, Hennigsdorf und Velten ist diese Chance genutzt worden.

 

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