Qualitätsdialog: „Soziale Beziehungen“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Im Online-Workshop „Soziale Beziehungen“ im Rahmen des „Wissenschaftsgeleiteten Qualitätsdialogs zum Ganztag“ kamen erneut Forschung, Verwaltung und Praxis an einen virtuellen Tisch.
Wenn Wolfgang Vogelsaenger, der ehemalige Schulleiter der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule Göttingen, kurz IGS Göttingen genannt, vom Ganztag spricht, meint er wirklich den „ganzen Tag“: „Für mich beginnt der Ganztag, wenn die Schülerinnen und Schüler abends ohne Angst vor der Schule einschlafen und morgens aufwachen und sich auf die Schule freuen, weil es da nette Menschen gibt, individuelle Lernanreize gesetzt werden, es ein gutes Mittagessen gibt, die Pausenangebote spannend sind, sie individuelle Hilfe erfahren, Zeit haben, etwas in Gruppen zu unternehmen, und vieles mehr.“
All dem zugrunde liegen soziale Beziehungen. Das Erleben positiver sozialer Beziehungen von Schülerinnen und Schülern untereinander, aber auch die Interaktion mit den pädagogisch Tätigen befördert die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Welche Gelegenheiten und Umgebungen Ganztagsschulen schaffen können, um dies zu flankieren und zu unterstützen, beleuchtete der „Wissenschaftsgeleitete Qualitätsdialog zum Ganztag“ des DIPF I Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation mit dem Titel „Soziale Beziehungen“.
In der auf sechs Themenfelder angelegten Veranstaltungsreihe kommen Wissenschaft und Praxis ins Gespräch und öffnen den Dialog für Teilnehmende aus Forschung, Verwaltung, Politik, Verbänden und Vereinen, Schulen und außerschulischen Lernorten. In das Thema „Soziale Beziehungen“ führten Natalie Fischer und Wolfgang Vogelsaenger ein.
Vertrauen und Wohlbefinden befördern Motivation
Natalie Fischer, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Soziale Beziehungen in der Schule“ an der Universität Kassel, begründete zum Auftakt den Fokus auf die sozialen Beziehungen: „Um überhaupt lernen und Fähigkeiten ausschöpfen zu können, brauchen Schülerinnen und Schüler das Wohlbefinden in der Schule.“ Soziale Beziehungen tragen zum Wohlbefinden bei. Das gilt aber nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für die Erwachsenen: „Wenn sich die Lehrkräfte wohlfühlen, können sie ihr Potenzial besser ausschöpfen und einen qualitätsvollen Unterricht und Ganztagsangebote gestalten.“ Der Aspekt des Wohlbefindens sei bisher zu wenig erforscht; meist stehe das Belastungserleben im Vordergrund.
In der Ganztagsbildung geht es Natalie Fischer zufolge um „nachhaltiges Lernen“, also nicht nur um fachliches Lernen, sondern auch um die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen, sozialen Kompetenzen wie Teamfähigkeit sowie um Wertebildung und Demokratiebildung. Der Ganztag vermittle und ermögliche selbstgesteuertes Lernen, das durch Motivation und positive Emotionen unterstützt wird. „Dazu braucht es in einem erweiterten Bildungsverständnis vielfältige Kontexte, die der Ganztag bereitstellen kann“, so die Erziehungswissenschaftlerin. „Auch die informelle Kommunikation, zum Beispiel beim Mittagessen und besonders in den AG-Angeboten, kann gegenseitiges Vertrauen verstärken und auf Unterricht und Ganztagsangebote ausstrahlen.“
Was bedeutet das für die sozialen Beziehungen? „Wenn wir möchten, dass nachhaltige Bildung aufgebaut wird, müssen wir Kontrolle an die Schülerinnen und Schüler abgeben – und das bedingt Vertrauen“, so Natalie Fischer. Das sei nicht auf den Klassenraum begrenzt. „Eine Vertrauenskultur auf allen Ebenen wirkt.“ In Schulen, in denen die Schulleitung unterstützend und kollegial gegenüber dem Kollegium auftritt, Vertrauen hat und Kompetenzen delegiert, gibt es mehr Engagement für die Schulentwicklung. Diese Schulen weisen dann auch wiederum eine hohe Motivation und entsprechende Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler auf. Voraussetzung sei allerdings, so Natalie Fischer, dass das Personal in der Ganztagsschule nicht zu häufig wechsle, denn „Vertrauensaufbau benötigt Zeit.“
Vertrauen bedingt Verantwortung
Wolfgang Vogelsaenger spann den Faden weiter. „All das, was Frau Prof. Fischer ausgeführt hat, muss in schulische Strukturen gegossen werden.“ Damit sich in der IGS Göttingen solches Vertrauen entwickeln kann, sind dort die Lehrkräfte sechs Jahre lang einer Klasse zugeordnet und dort mit möglichst vielen Stunden eingesetzt. Alle sind in Teams eingebunden, die selbstständige Entscheidungen treffen können, beispielsweise Vertretungen regeln oder die Verwendung von Mitteln. „Wenn man Vertrauen entgegengebracht bekommt, muss man auch Verantwortung übernehmen“, so der Pädagoge. „Und wenn man Verantwortung übernimmt, werden natürlich auch Fehler passieren. Da ist dann entscheidend, welche Fehlerkultur und welches Konfliktmanagement an der Schule herrschen.“ Hier sei wiederum die Schulleitung gefragt.
Wenn sich Schülerinnen und Schüler in der Schule nicht wohlfühlten, müsse gegengesteuert werden. Er berichtete ein Beispiel aus der IGS Göttingen: „Wir haben festgestellt, dass sich die Kinder und Jugendlichen in der Schule selbst sehr wohlgefühlt haben, aber nicht auf dem Schulweg. In den Bussen zur Schule gab es zum Beispiel Rangeleien mit Schülern anderer Schulen.“ Die Schulen taten sich zusammen und sorgten – auch mit Unterstützung der Polizei – dafür, dass Bus-Scouts ausgebildet wurden.
Dass Vertrauen von der Erwachsenenebene ausgehen muss, sieht Wolfgang Vogelsaenger ebenfalls. „Wenn man es schafft, dass die Lehrkräfte, der Hausmeister, die Sekretärin, Koch und Köchin, Sozialpädagoginnen und -pädagogen und alle weiteren an der Schule Beteiligten einen solchen Gemeinschaftsgeist, eine solche Haltung entwickeln, dann steigen die Identifikation mit der Schule, die Motivation und die Leistung.“
„Schülerinnen und Schüler einbeziehen“
In Arbeitsphasen diskutierten die 65 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 16 Bundesländern und der Schweiz anschließend in vier Gruppen unter anderem darüber, wie Vertrauen hergestellt wird und was eine Vertrauenskultur behindert. „Die gegenseitige Wertschätzung der Professionen und eine wertschätzende Kommunikation auf allen Ebenen unterstützen eine Vertrauenskultur“, fasste ein Teilnehmer die Diskussion einer Gruppe zusammen. „Um gegenseitige Kenntnisse über die Arbeitsgrundlagen und rechtlichen Bestimmungen der Professionen zu erlangen, sind gemeinsame Fortbildungen günstig, auch um den Ganztag gemeinsam zu planen. Die Schülerinnen und Schüler sollen dabei einbezogen werden und sich für ihre Lern- und Lebensbereiche verantwortlich fühlen.“
Für die Gruppe „Soziale Eingebundenheit stärken“ berichtete eine Mitarbeiterin der Fachstelle Ganztagsangebote Sachsen: „Kommunen, Kirche und die Kinder- und Jugendhilfe sollen die Möglichkeit der Mitgestaltung haben.“ Die Teilnahme des Schulträgers an der Gesamtkonferenz, wie in Rheinland-Pfalz schon festgeschrieben, oder die Beteiligung der Jugendhilfeplanung waren ebenfalls Themen. Schülerinnen und Schüler sollten Verantwortung übernehmen können, ob in der Schulcafeteria, in Pausendiensten, als Mediatoren und Schulsanitäter oder in der Hausaufgabenbetreuung.
Die Gestaltungsebene nutzen
„Autonomie und Partizipation“ beschäftigte eine weitere Gruppe. Ein Sozialwissenschaftler der Universität Koblenz sah Partizipation nicht als „Frage des Ob, sondern des Wie.“ Beteiligungsstrukturen und Ressourcen seien immer mitzudenken. Nicht alle Möglichkeiten würden schon gesehen. So sei auch im Bereich der Jugendhilfe nicht immer bekannt, was Kinderrechte und Partizipation bedeuten. Er berichtete von einer Schule, in der „den Erwachsenen durch eine Befragung der Schülerinnen und Schüler die Augen geöffnet wurden“. Die Kinder und Jugendlichen würden immer den gesamten Tag sehen, nicht Vor- oder Nachmittag isoliert. „Mitreden ist ein Teil von Partizipation“, verwies der Mitarbeiter eines kirchlichen Jugendhilfeträgers aus Westfalen auf den 16. Kinder- und Jugendbericht.
Wolfgang Vogelsaenger bilanzierte am Ende: „Viele Argumente haben wir bereits vor 25 Jahren gewälzt. Was an einzelnen Standorten toll läuft, kommt nicht in die Breite.“ Natalie Fischer ermutigte, sich nicht auf die Systemebene zu konzentrieren, sondern auf die Gestaltungsebene – die jeweilige Ganztagsschule. Auch sie sprach sich dafür aus, die vielen guten Beispiele noch viel mehr bekannt zu machen.
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