Bildung im Ganztag: „Lernen und Unterricht unterscheiden“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Wie erleben Kinder in der Grundschule den Ganztag? Was kommt für die Schülerinnen und Schüler dabei „herum“? Dr. Stephanie Staudner, Lehrerin an der gebundenen Ganztagsgrundschule Gotthold Ephraim Lessing in Ingolstadt, hat das erforscht.
Online-Redaktion: Frau Dr. Staudner, was hat Sie als Lehrerin an der Grundschule Gotthold Ephraim Lessing in Ingolstadt bewogen, eine Dissertation zum Thema „Bildungsprozesse im Ganztag. Wahrnehmung und Wertung erweiterter Bildungsgelegenheiten durch Kinder“ vorzulegen?
Stephanie Staudner: Ich habe 2007 die erste Ganztagsklasse an unserer Schule übernommen, damals eine der ersten in Ingolstadt. Unsere Schule hat den Ganztag über die Jahre weiter ausgebaut, sodass wir heute eine der wenigen voll gebundenen Ganztagsgrundschulen in Bayern sind. Irgendwann hatte ich das Bedürfnis, mir diesen Prozess aus einer anderen Perspektive anzuschauen. Im Promotionskolleg „Bildung als Landschaft“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bekam ich die Möglichkeit, dieses Dissertationsthema einzureichen.
Online-Redaktion: Wie haben Sie Ihr Thema gefunden?
Staudner: Ich wollte wissen, wofür man das eigentlich tut, was man da in der Praxis macht. Was kommt für die Schülerinnen und Schüler dabei herum? Und ich wollte dies aus der Sicht der Kinder untersuchen: Wie wird die Schule von ihnen wahrgenommen, wie wird der Ganztag wahrgenommen? Wie bewerten die Kinder einzelne Elemente, welchen Stellenwert und welchen Gehalt haben die verschiedenen Bildungsanlässe für die Schülerinnen und Schüler?
Online-Redaktion: Wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Staudner: Ich habe mich für eine Mehrebenen-Studie entschieden und bin mit einer Befragung an Ganztagsgrundschulen in Oberbayern gestartet, mit dem Ziel, mich später auf eine Schule zu konzentrieren. Daran schloss sich an dieser Schule, die den Halbtag und den Ganztag anbot, eine Tagebuchstudie im kompletten dritten Jahrgang mit 80 Schülerinnen und Schülern an. Die Kinder haben ihre Aktivitäten über eine Woche dokumentiert. Das waren sowohl Halbtags- als auch Ganztagsschüler. Nach Auswertung dieser Tagebuchstudie habe ich mit 16 Schülerinnen und Schülern Interviews geführt, bei denen ich ins Detail gehen konnte. Ich habe dort versucht, verschiedene Typen der Nutzung von Bildungsangeboten, wie sie sich aus den Tagebüchern ergeben hatten, genauer zu beleuchten.
Online-Redaktion: Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Staudner: Ich habe verschiedene Nutzungsmuster erkennbar machen können. Dazu gehören ganz unterschiedliche Settings, also Angebote im Rahmen des Ganztags – vom Mittagessen über erweiterte Lernzeiten bis zu zusätzlichen außerschulischen Angeboten. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die diese Angebote bewusst wahrnehmen und intensiv nutzen, im Vergleich zu Kindern, denen weiterhin das Lernen am wichtigsten ist. Manche Schülerinnen und Schüler haben sozusagen das formale Lernen komplett in die Schule verlagert, bei anderen fand es auch zu Hause statt. Das Bemerkenswerte war, dass es in allen Nutzungsmustern sowohl Ganztags- als auch Halbtagsschüler gegeben hat. Es liegt nicht allein an der Organisationsform, wie Schülerinnen und Schüler Bildungsangebote annehmen.
Online-Redaktion: Wie nehmen die Ganztagsschülerinnen und -schüler die zusätzliche Zeit wahr?
Staudner: Kinder im Ganztag wussten das Mehr an Unterrichtszeit zu schätzen. Sie haben auch viel stärker zwischen Lernen und Unterricht unterschieden. Die Zeiten, in denen sie selbstständig lernen konnten, sind von ihnen als sehr positiv bewertet worden – viel positiver, als die Halbtagsschüler die Hausaufgaben zu Hause bewerteten. Bei den Ganztagsschülern hat sich das auch auf die Wahrnehmung des eigenen Lernens ausgewirkt. Wenn die Halbtagsschüler in den Interviews über das Lernen gesprochen haben, ging es hauptsächlich darum, mit Lernen gute Noten oder Belohnungen zu erreichen. Sie sind sehr stark an den formalen Lernleistungen orientiert gewesen. Bei Ganztagsschulkindern fiel dagegen öfter die Formulierung „Dann habe ich das verstanden, da habe ich was gelernt“. Da ging es mehr um das kompetenzorientierte, selbstständige Konzept.
Online-Redaktion: Unterscheiden die Schülerinnen und Schüler zwischen Lehrkräften und außerschulischen Pädagogen?
Staudner: An der Schule, an der ich die Daten erhoben habe, haben die Kinder eine ganz deutliche Grenze zwischen Unterricht und den zusätzlichen Angeboten gezogen. Das hängt aber sicherlich davon ab, ob und wie eine Ganztagsschule dies verbindet.
Online-Redaktion: Ein Schwerpunkt Ihrer Forschung ist die Bildungsgerechtigkeit. Wie definieren Sie diese?
Staudner: Ich habe lange nach einem Gerechtigkeitsbegriff gesucht und auch sehr damit gehadert. Er war mir aber wichtig, weil mit der Ganztagsschule auch häufig die Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit verbunden wird. Die Grundschule hat für mich ein widersprüchliches Verständnis von Gerechtigkeit. Sie ist eine Schule für alle, die jeden und jede individuell fördern soll und am Ende dann per Leistungsbewertung unterschiedliche Bildungswege ermöglicht. Das sind für mich drei unterschiedliche Gerechtigkeitsbegriffe, die sich widersprechen. Daran ändert auch die Ganztagsschule nichts.
An diesem Konflikt hing ich lange, bis ich auf die Anerkennungsgerechtigkeit gestoßen bin und sie meiner Studie zugrunde gelegt habe. Anerkennungsgerechtigkeit zielt stärker auf die Persönlichkeit der Kinder, auf ihr Selbstbild und ihre Handlungsfähigkeit. Da geht es zum Beispiel um die Qualität pädagogischer Beziehungen und um Partizipation. Die untersuchte Schule hat die zusätzliche Zeit im Ganztag stark mit kulturellen Inhalten gefüllt, was für die Ganztagsschülerinnen und -schüler etwas Besonderes war, da sie im Elternhaus oft keine kulturellen Angebote bekommen haben. Hier konnte die Ganztagsschule kompensierend wirken.
Die Kinder sind stark in die Eigenaktivität gekommen, auch im unmittelbaren Kontakt mit Künstlerinnen und Künstlern. Es ging darum, Talente der Kinder zu entdecken, zu fördern und zu entwickeln. Diese zusätzliche Zeit im Ganztag, den Schülerinnen und Schülern eine Stimme zu geben und sie erleben zu lassen, was sie können, ist sehr positiv für ihr Selbstwertgefühl gewesen. Im Halbtag sind solche zusätzlichen Lerngelegenheiten oft zeitlich nicht möglich.
Online-Redaktion: Welche ihrer Potenziale nutzt die Ganztagsschule schon, und wo gibt es noch Optimierungsbedarf?
Staudner: Die größte Ressource ist die Zeit. Aber die Zeit alleine ist nicht das Allheilmittel. Es braucht Mut und Kreativität jeder einzelnen Schule, die Zeit effektiv zu nutzen. Es geht dabei aber nicht darum, den gesamten Tag vollständig zu verplanen. Man kann Kinder nicht den ganzen Tag fremdbestimmen, gerade dann nicht, wenn man Selbstständigkeit und Eigenverantwortung fördern will. Meine Studie zeigt, dass die ungebundene Freizeit für die Schülerinnen und Schüler einen hohen Stellenwert hatte, in der sie auch im sozialen Miteinander viel mitgenommen haben. Da sind Grundschulen wegen der Aufsichtspflicht allerdings zögerlich, den Kindern einen größeren Freiraum zuzugestehen. Ich denke, dass gerade da aber noch ganz viel Bildungsgehalt drinsteckt.
Das Potenzial des gebundenen Ganztags besteht darin, dass die Lernförderung aus einer Hand kommt. Lehrkräfte sind auch in das nichtunterrichtliche Lernen eingebunden, es gibt mehr Zeit für individuelle Förderung. Und als Lehrerin oder Lehrer kann man auch mal eine AG anbieten, in die man eigene Interessen einbringt und in der man sein Talent weitergibt. Da werde ich auch als Person für die Kinder anders greifbar. Ich fand es umgekehrt ebenfalls bereichernd, wenn Menschen mit anderen Professionen in die Schule gekommen sind.
Online-Redaktion: Wie erleben Sie selbst die Wirkungen des Ganztags in Ihrem Alltag?
Staudner: Mir ist beim Nachdenken über diese Frage bewusst geworden, dass man als Lehrerin im Ganztag doch immer noch sehr auf das formale Lernen fixiert ist. Diese ganzen anderen Bereiche, die ich zum Teil durch meine Forschung kennenlernen durfte und deren Wert mir aufgegangen ist, bekomme ich im Alltag nur am Rande mit – obwohl ich in einer gebundenen Ganztagsschule arbeite.
Online-Redaktion: Eine Möglichkeit, Ganztagsschule aus Sicht der Kinder zu gestalten, ist es, sie mitbestimmen zu lassen. Was gibt es an der Grundschule Gotthold Ephraim Lessing an Partizipation?
Staudner: Wir befragen die Schülerinnen und Schüler am Ende eines Schuljahres immer zu den Angeboten des abgelaufenen Jahres. Was hat ihnen gut gefallen? Welche Verbesserungsvorschläge wünschen sie sich? Was haben sie an Wünschen für das kommende Schuljahr? Das beschränkt sich nicht nur auf die AGs, sondern umfasst auch Themen wie das Mittagessen. Weitere partizipative Elemente sind bei uns die regelmäßigen Schulversammlungen und das Schulradio.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Ganztag und Grundschule - Qualitätsdialog zum Ganztag
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