Ganztag mit „Expertenzeit“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Im Qualitätsdialog „Angebotsdurchführung“ stellte sich die Kettelerschule Bonn, eine inklusive Ganztagsgrundschule, vor. Wie Angebote konkret aussehen sollten, verrät die Leiterin der OGS Claudia Moritz im Interview.
Online-Redaktion: Wie groß war angesichts der aktuell besonders hohen Belastung Ihre Begeisterung, als Sie und Ihre Stellvertreterin Verena Reis als Referentinnen zum ersten „Wissenschaftsgeleiteten Qualitätsdialog zum Ganztag“ des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation eingeladen wurden?
Claudia Moritz: Es stimmt sicher, dass es ruhigere und entspanntere Zeiten in der Schule und im Ganztag gibt. Aber wir sahen darin eine Chance, den außerunterrichtlichen Teil in den Fokus zu rücken und unser weit entwickeltes und vielfach ausgezeichnetes Konzept in die Öffentlichkeit zu tragen. Ein Gedankenaustausch in solch einem Kreis von Expertinnen und Experten kommt immer recht. Die Erfahrungen anderer sind von unschätzbarem Wert. Man hinterfragt das eigene Handeln, sieht, was gut und was nachbesserbar ist.
Online-Redaktion: Im Dialog haben Sie gesagt, dass die Einbeziehung aller Professionen in Ihrer Schulentwicklungsgruppe Zufriedenheit und Motivation schaffe. Haben Sie damit schon das Erfolgskonzept Ihrer Schule, die 2019 beim Deutschen Schulpreis auf Platz zwei gelandet ist, „verraten“?
Moritz: Sicher nicht das gesamte Erfolgskonzept. Aber unbestritten ist: Wenn Sie Angebote im Ganztag so entwickeln möchten, dass die Schülerinnen und Schüler sie gerne annehmen und sich darauf freuen, dann müssen Sie alle Beteiligten mitnehmen. Was nützt die vermeintlich schönste und spannendste Arbeitsgemeinschaft, wenn sie die Schülerinnen und Schüler nicht anspricht? Was nützt solch eine AG, wenn die Erzieherin oder Lehrkraft sie halbherzig leitet? Unsere Antwort lautet: Dann nützt sie nichts. Und selbstverständlich müssen die entsprechenden Strukturen geschaffen sein, damit Verlässlichkeit für Kinder und Erwachsene gegeben ist.
Online-Redaktion: „Alle mitnehmen“ klingt in der Theorie wunderbar. Doch wie setzen Sie das konkret um?
Moritz: Wir sprechen viel miteinander. Wir im Leitungsteam, wir im Gesamtteam, die Lehrkräfte und Bezugserzieherinnen und -erzieher in der Lernfamilie. Manchmal entwickeln wir im Leitungsteam, bestehend aus Schulleitung, OGS-Leitung und den jeweiligen Stellvertreterinnen, Ideen. Die stellen wir dann allen vor, hören uns die Meinungen an, gehen Kompromisse ein und fragen am Ende: Wollen wir das jetzt so ausprobieren? Erst wenn es dazu ein klares Votum gibt, legen wir los. Hinzu kommt unsere Inklusionsgruppe, sie ist unser „zentrales Steuerungselement“. Hier kommen Vertreterinnen und Vertreter aller Professionen, Kinder und Eltern zusammen und treiben die Schulentwicklung voran.
Online-Redaktion: Ein Beispiel bitte…
Moritz: Wir waren schon lange mit der starren Regelung einer Übungs- und Hausaufgabenzeit nach der Mittagspause von 14 bis 15 Uhr unzufrieden. Wir haben gespürt, dass die Kinder nicht mehr so konzentriert sein konnten. Wir haben uns Angebote der benachbarten Elsa-Brändström-Schule in Bonn angeschaut und dann im Leitungsteam unsere Idee einer sogenannten Expertenzeit geboren. Das Konzept haben wir allen vorgestellt und gemeinsam entschieden, es umzusetzen.
Online-Redaktion: Was verbirgt sich dahinter?
Moritz: Einmal wöchentlich kann ein Kind alternativ zur Übungszeit ein Angebot nutzen, das es besonders interessiert. Das können sportliche oder künstlerische Dinge sein, aber auch Schreibschrift lernen oder Knobeln. Die Expertenzeit geht über circa zehn Wochen. Die eine leitet eine Erzieherin oder ein Erzieher, eine andere eine Lehrkraft. Wir haben das Schuljahr in Tertiale aufgeteilt. Das hängt mit der Anzahl der Wochen mit Schwimmunterricht und dem Radfahrtraining zusammen. Bei der Wahl der Expertenzeit unterstützen die erwachsenen Bezugspersonen unsere Kinder.
Online-Redaktion: Damit verschwindet aber die von Ihnen als nicht so glücklich empfundene Übungs- und Hausaufgabenzeit nicht. Warum stellt die Expertenzeit dennoch eine deutlichere Verbesserung dar?
Moritz: Da wir auch noch entsprechend unserem Konzept „Spielen ist Lernen“ eine Spiele-Übungszeit an einem festen Tag in der Woche haben, bleiben also nur zwei reguläre Übungszeiten pro Woche in der Zeit von 14 bis 15 Uhr übrig. Das ist für alle gut machbar. Die anderen beiden haben wir in den Vormittag verschoben, wo die Kinder sich noch besser konzentrieren können.
Online-Redaktion: Woran erkennen Sie, ob ein Angebot der Expertenzeit angenommen wird?
Moritz: Wir konnten beobachten, dass die Schülerinnen und Schüler pünktlich sind, dass sie regelmäßig kommen, dass sie konzentriert sind und nicht die ganze Zeit rumlaufen oder ständig zur Toilette wollen. Unser Team haben wir befragt, denn ich will auch nicht verschweigen, dass einige skeptisch waren. Doch inzwischen fällt das Urteil sehr positiv aus. Zur Zufriedenheit, insbesondere der Lehrkräfte, trägt auch bei, dass sie die Kinder noch einmal von ganz anderer Seite kennenlernen und ein intensiverer Kontakt entsteht. Die Schülerinnen und Schüler haben im Kinderparlament angesprochen, selbst eine Expertenzeit anbieten zu wollen. Und na klar, wir haben ihnen gesagt: Sucht Euch einen Erwachsenen, der euch unterstützt.
Online-Redaktion: Wird auch die Kinder-Expertenzeit evaluiert?
Moritz: Wir hatten im Februar gerade begonnen, da kam uns Corona in die Quere. Aber generell kann man sagen, bei uns wird so ziemlich alles evaluiert.
Online-Redaktion: Wie geschieht das?
Moritz: Nach besonderen Aktionen oder auch unseren Ferienprogrammen, bei denen die Kinder täglich aus bis zu fünf verschiedenen Angeboten wählen können, werden die Beteiligten um ihre Meinung gebeten. Grundsätzlich fragen wir im jährlichen Wechsel Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie alle Mitarbeitenden schriftlich, was sie gut oder schlecht finden, was nachgebessert oder ergänzt werden sollte. Das haben wir übrigens auch nach dem ersten Lockdown im Sommer vergangenen Jahres getan: Wie war‘s, was fehlte?
Die Ergebnisse, die wir online ermittelt haben, gaben uns wichtige Hinweise, die uns nun beim zweiten Lockdown extrem geholfen haben. Ein Wunsch des Erzieherteams war zum Beispiel, dass wir uns besser vorbereiten und absprechen. Als die Zahlen in den Herbstferien wieder stark gestiegen sind, haben wir die nächste Teamsitzung sofort zur Vorbereitung genutzt. Solch intensiver Austausch erleichtert es uns ungemein, unsere Angebote zu steuern und zu optimieren. Auch wenn wir natürlich nicht alle Wünsche auf Knopfdruck realisieren können.
Online-Redaktion: Wenn Sie als Leiterin der OGS von der Lernfamilie, also dem Unterricht sprechen, klingt das nach großer Einheit zwischen Schule und Betreuung…
Moritz: Bei uns gehören die Zeiten, in denen Schule und OGS zwei nebeneinander agierende Partner waren, längst der Vergangenheit an. Auch wir Erzieherinnen und Erzieher haben den Auftrag Bildung und Erziehung. Es geht darum, Kinder bestmöglichst zu fördern. Und so ist es selbstverständlich, dass wir nicht erst nach Unterrichtsschluss mit unserer Arbeit beginnen, und genauso gilt, dass die Lehrerinnen und Lehrer nicht nach der letzten Stunde nach Hause gehen.
Online-Redaktion: Will heißen, eine enge Verzahnung ermöglicht noch stärker, die Angebote maßgerecht zuzuschneiden?
Moritz: Wenn diese zwei Professionen professionell und mit ihrem Wissen auf Kinder schauen können, wenn sie in der Lage sind, zu erkennen, was sie beschäftigt, was sie brauchen und was sie interessiert, dann kann Bildung gelingen. Dazu gehört auch, dass wir Dinge anbieten, die den Horizont erweitern. Das alles erfordert aber eine entsprechende Fachkompetenz. Alle unsere Gruppenleitungen verfügen über eine Ausbildung zur Erzieherin und Erzieher.
Das hilft auch, besondere Bedürfnisse zu erkennen. So wussten wir schnell, um welche Kinder wir uns in Zeiten des Distanzunterrichts besonders kümmern mussten. Mit einigen haben wir uns dann regelmäßig zum Vorlesen oder einfach nur zum Reden im individuellen Chat oder Telefonat verabredet. Auch das sind Angebote.
Online-Redaktion: Wenn wir auf die Vielzahl der unterschiedlichen Angebote schauen, stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen für eine gelingende Angebotsdurchführung erfüllt sein müssen…
Moritz: Wenn wir von Qualität sprechen wollen, benötigen wir an jeder Position qualifiziertes Fachpersonal. Das braucht die Bereitschaft, die eigene Arbeit zu hinterfragen. Wir hatten beispielsweise festgestellt, dass bei einem Kinderfragebogen die Rückmeldung der Kinder deutlich wurde, dass es immer noch viel Streit und Ärger gab. Daraufhin haben wir noch einen detaillierten Fragebogen an die Kinder ausgegeben. Anschließend haben wir gemeinsam ein sehr umfangreiches Friedenskonzept erarbeitet. Streit und Ärger wurden weniger. Und selbstverständlich müssen die Interessen und Wünsche der Kinder berücksichtigt werden, denn um die Kinder geht es bei allem, was wir tun.
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