Zirkus im Ganztag: Alle erreichen und alle bewegen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Manchmal wird er als „Zirkusdirektor“ begrüßt. Wolfgang Pruisken, Mitgründer der Bundesarbeitsgemeinschaft Zirkuspädagogik, begeistert Ganztagsschulen für die Welt der Manege, in der Kinder zeigen, was sie können.
Online-Redaktion: Wie kommt ein Deutsch- und Sportlehrer dazu, Zirkusprojekte anzubieten und später sogar entscheidend dazu beizutragen, dass eine Bundesarbeitsgemeinschaft Zirkuspädagogik gegründet wurde?
Wolfgang Pruisken: 1985 lernte ich bei einer Fortbildung bei Andreas Saggau jonglieren. Dort sah ich auch ein Video einer Aufführung des Kinderzirkus Bumm Balloni der IGS Garbsen. Damals gab es schon eine Reihe von Zirkusprojekten an Schulen. Klaus Hoyer, der Leiter des Zirkus Bumm Balloni und Fachberater für die niedersächsischen Ganztagsschulen, versuchte mit diesem Kurs Sportlehrerinnen und Sportlehrer für Zirkusprojekte zu begeistern.
Online-Redaktion: Und Sie waren sofort fasziniert?
Pruisken: Exakt. Während andere schmunzelnd abwinkten: „Ist doch kein Sport“, hat es mich nie wieder losgelassen. Dabei war es noch gar nicht der pädagogische Gedanke, sondern die Faszination des Jonglierenlernens, die mich gepackt hatte. In den Mittagspausen an der IGS Fürstenau, einer der damals nicht so zahlreichen Ganztagsschulen in Niedersachsen, hatte ich oft Aufsicht, und die nutzte ich beziehungsweise wollte ich nutzen, um selbst zu jonglieren. Mit drei Bällen kam ich allerdings bald nicht mehr aus. Immer mehr Schülerinnen und Schüler wollten meine Bälle haben und selber lernen. Es dauerte nicht lange, und die Kunst drängte zur Aufführung. Heute ist daraus mit dem Zirkus Fantasia eine bald zwanzig Jahre bestehende Zirkusgruppe der Schule geworden.
Online-Redaktion: Sie sind mittlerweile pensioniert und trotzdem weiter im Einsatz für den Zirkus, seine Wertschätzung und Etablierung in deutschen Schulen. Warum?
Pruisken: Zirkusprojekte an Ganztagsschulen werden nach wie vor häufig als „netter“ Event betrachtet und ich als „Zirkusdirektor“ begrüßt. Viele haben sie zwar erkannt, doch immer noch zu wenige können die Bedeutung des Zirkus wertschätzen. Das wollen wir ändern. 2005 wurde auch deshalb die Bundesarbeitsgemeinschaft Zirkuspädagogik, deren stellvertretender Vorsitzender ich bin, gegründet. Inzwischen vertritt sie über 200 Einzelmitglieder, etwa 80 Institute und Vereine sowie sieben Landesgemeinschaften.
Online-Redaktion: Welche Ziele verfolgt die BAG?
Pruisken: Sie ist eine noch junge Sparte der kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Heute bieten die Zirkuseinrichtungen Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen die ganze Vielfalt von zirzensischen Ausdrucksmöglichkeiten. Wir vertreten die Interessen von hunderten von Organisationen, Artistinnen und Artisten, Pädagoginnen und Pädagogen sowie von zigtausenden Kindern und Jugendlichen. Die Nachfrage nach Zirkusangeboten steigt ständig. Ein neues Berufsfeld „Zirkuspädagogik" ist entstanden. Dafür haben wir Qualitätsstandards für die Ausbildung mit einem entsprechenden Anerkennungsverfahren entwickelt.
Online-Redaktion: Welche Bedeutung spielt die Qualität der Angebote?
Pruisken: Zirkus fasziniert Kinder und Jugendliche. Er bietet jenseits der im Sport häufig herrschenden Maxime „höher, weiter, schneller“ Gelegenheit zur Bewegung und zur Darstellung. Und er eröffnet einen idealen Spielraum zur Persönlichkeitsentwicklung. Zirkus zeichnet sich durch eine große Breite an künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten aus: von den Bewegungskünsten Akrobatik, Jonglage und Balance bis zu Theaterelementen, Musik, Tanz, aktuellen Jugendtrends und ‑sportarten. Wir wollen die Qualität der Zirkuspädagogik als Teil der Kinder- und Jugendhilfe verbessern. Daher setzen wir uns auch für die Anerkennung von Zirkus als eigenständiger Kunstform ein. Diese einzigartige Form bietet eine unendliche Ausdrucksvielfalt auch mit theatralen, musikalischen und tänzerischen Mitteln.
Online-Redaktion: Was bewirken Zirkusprojekte?
Pruisken: Wenn die Qualität stimmt, hat das Medium Zirkus eine positive Wirkung auf Kinder und Jugendliche. Es ermöglicht Bildungs- und Lernprozesse, individuell oder in der Gruppe. Wir haben inzwischen bis zu 400 Zirkuspädagoginnen und -pädagogen qualifiziert. Manche von ihnen arbeiten mit den Sportlehrkräften von Ganztagsschulen zusammen. Mal sind sie im Sportunterricht integriert, andernorts bieten sie eigene Arbeitsgemeinschaften an. Und immer endet ein solches Projekt in einem Auftritt. Kinder lieben es, sich zu präsentieren, zu zeigen, was sie können. Das erlebe ich immer wieder, wenn ich selbst mit Bällen jongliere und ein Kind zuschaut und sagt: „Das kann ich auch. Darf ich einmal?“
Online-Redaktion: Was muss eine Schule, die ein solches Projekt initiieren möchte, tun?
Pruisken: Ihre Lehrkräfte können natürlich an unseren Fortbildungen teilnehmen oder sich an Landesverbände wenden, Kontaktdaten sind auf unserer Homepage zu finden. Sie sollten sich dann vergewissern, was und wie es angeboten wird. Beispielsweise sollte darauf geachtet werden, dass – als ein Qualitätsmerkmal – die psychische und physische Sicherheit der Kinder gewährleistet wird. Denn auch hier gilt: Je größer die körperliche Herausforderung, desto höher auch das Verletzungsrisiko. Manches wird deshalb schon gar nicht mehr angeboten – wie etwa das Feuerspucken.
Online-Redaktion: Was zählt denn zu den Lieblingsaktivitäten der Kinder und Jugendlichen?
Pruisken: Pauschal ausgedrückt: alles, was nach einem „Trick“ aussieht. Das können Zaubertricks sein, Balancieren jeder Form, Jonglieren, Einradfahren oder auf einem Bein stehen. Alle, die selbst Kinder haben, sind mit Sicherheit schon einmal im Kinderzimmer, im Garten oder auf der Wiese zu einer „Vorstellung“ gebeten worden. Die Kinder wollen sich zeigen und den Erwachsenen stolz präsentieren, was sie alles können. Das Schöne daran ist, dass jedes Kind etwas tut an, was seinen Fähigkeiten entspricht. Es gehört zur „Zirkus- und Künstlerfamilie“ dazu.
Genau genommen ist das Integration und Inklusion in perfekter Form. Denn es ist für jeden etwas dabei, egal, ob groß oder klein, unabhängig vom Status der Familie, von Kultur, Sprache und Herkunft. Denn jedes Kind kann irgendetwas. Die positive Wirkung von Bewegung wird noch gesteigert, wenn sich Kinder und Jugendliche mit anderen bewegen. Dabei lernen sie, auf andere zu achten, zu planen, zu üben und dabei auftauchende Probleme zu bewältigen. All das sind Prozesse, die auch Kommunikation und sprachliches Handeln fördern. Angebote von Zirkuspädagoginnen und -pädagogen kommen an, wenn man die Zielgruppe ihre eigenen Maßstäbe setzen und sich natürlich bewegen lässt. Es besteht die Möglichkeit, Inseln zu schaffen ohne Bewertung. Erfahrungsgemäß funktioniert dabei der Peer-to-Peer-Ansatz extrem gut.
Online-Redaktion: Warum eignet sich der Ganztag besonders?
Pruisken: Entscheidend ist, dass man im Ganztag alle Kinder erreichen kann. Insbesondere die Jüngeren gieren nach Bewegung. Doch in unseren Sportvereinen sammelt sich erst einmal überwiegend die Mittelschicht. Dabei ist es so wichtig, die Entwicklung von Basiskompetenzen zu unterstützen. Dazu zähle ich die Fähigkeit, eigene Stärken zu erkennen, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit zu entwickeln und Ängste abzubauen, etwa vor anderen Menschen zu stehen und etwas darzustellen. Die abschließenden Auftritte sind, wie erwähnt, ganz wichtig, nicht nur vor den Eltern. Mit Zirkus kann man überall hingehen und seine Kunststücke vorführen.
Online-Redaktion: Was benötigt eine Schule, um beispielsweise eine Zirkus-AG zu etablieren?
Pruisken: Zunächst einmal die Einsicht und das Verständnis, was mit Zirkus bewirkt werden kann. Natürlich sind Requisiten notwendig. Jongliermaterial ist leicht zu beschaffen, Bälle können selbst hergestellt werden, ebenso wie Verkleidungsmaterial. Größere Requisiten, wie Seiltanz-Anlagen oder Laufkugeln, können durch Eintrittsgelder bei Aufführungen finanziert werden. Es ist halt ein wenig Kreativität und Initiative gefragt. Ich kann versprechen – es lohnt sich.
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