„Multiprofessionell für einen guten Ganztag“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Von Anfang an begleitet die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ den Ganztag in Nordrhein-Westfalen. Ihre Leiterinnen, Birgit Schröder und Anja Sibum, verraten, welche Inhalte aktuell geblieben sind und was neu hinzukommt.
Online-Redaktion: Was hat Sie, Frau Sibum, gereizt, von der Grundschule zur Serviceagentur „Ganztägig lernen“ zu wechseln?
Anja Sibum: Als ich die Ausschreibung gesehen habe, hatte ich sofort den Wunsch, hier mitarbeiten zu können. Es waren einzelne Begriffe, vor allem aber die Haltung, die ich dahinter zu erkennen meinte. Es entspricht beispielsweise meiner Vorstellung, eine qualitativ hochwertige Ganztagsschule vom Kind aus zu denken, so, wie es die Serviceagentur tut. Ich möchte dazu beitragen, diesen Gedanken ins Land zu tragen und Schulen zu unterstützen, die den Ganztag als Gewinn verstehen und sich der Frage widmen, wie alle an Schule Tätigen von ihm profitieren können.
Online-Redaktion: Sie haben beide kürzlich am Ganztagskongress teilgenommen. Was haben Sie von dort mitgenommen?
Birgit Schröder: Natürlich war es die Bestätigung unserer Überzeugung, dass die Multiprofessionalität ein Baustein, ja eigentlich das Fundament für einen guten Ganztag ist. Dabei verstehen wir die Multiprofessionalität als Kooperation auf allen Ebenen. Das fängt bei den Ministerien im Bund und in den Ländern an, reicht über die verschiedenen Ämter in den Kommunen und geht schließlich bis zu der Zusammenarbeit von Lehrkräften mit Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Erzieherinnen und Erziehern und natürlich möglichst vielen Akteuren im Sozialraum.
Online-Redaktion: Die Erkenntnis ist also für Sie nicht neu.
Schröder: Nein, ich glaube nur, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder noch einmal wie eine Initialzündung gewirkt hat. Alle, na ja fast alle, halten noch einmal inne und überlegen, worauf es ankommt, wenn man die Kinder wirklich in den Blick nimmt. Man muss auch sagen, die Themen wiederholen sich natürlich, unter anderem, weil neue, junge Lehr- und Fachkräfte, aber eben auch andere Professionen an den Schulen aktiv werden.
Sibum: Leider kommen viele junge Kolleginnen und Kollegen aller Professionen an die Ganztagsschulen, ohne in ihrer Ausbildung auf diese multiprofessionelle Zusammenarbeit vorbereitet worden zu sein. Das Wissen über die anderen Professionen fehlt oft, und dann beginnt sich das Karussell von neuem zu drehen. Man hat zwar schon einmal gehört, dass man sich auf Augenhöhe begegnen soll, dass Zusammenarbeit einen selbst auch entlasten kann, aber um die Vorteile tatsächlich zu erkennen, muss man sie erlebt haben. Dazu müssen auch Vorurteile abgebaut und Ziele neu definiert werden – wie etwa aus der Sicht des Kindes zu denken und gemeinsam ein erweitertes Bildungsverständnis zu entwickeln
Schröder: Und manchmal werden die alten Pfründe wie das Lehrerzimmer oder „mein“ Klassenzimmer verteidigt. Aber es benötigt mehr Begegnung in der Schule – auch in einem gemeinsamenTeamzimmer für alle an Schule tätigen Personen.
Online-Redaktion: Apropos Räume. Täuscht der Eindruck, dass das Thema Raumnutzung wieder mehr in den Vordergrund rückt?
Schröder: Spätestens mit dem Rechtsanspruch und einer weiter steigenden Zahl von Kindern im Ganztag, jedenfalls bei uns in Nordrhein-Westfalen, kann es bei der Raumfrage ein „Mein-und-Dein-Denken“ nicht mehr geben. Wir haben das in unserer jüngsten Arbeitshilfe „Pädagogische Raum- und Flächengestaltung im kooperativen Ganztag" aufgegriffen. Das Besondere dieser Arbeitshilfe sind nicht nur die Inhalte, Anregungen und Ideen, sondern ihr Entstehen. Am Prozess der Materialerstellung waren viele beteiligt: die Arbeitsstelle „Kulturelle Bildung“, die „Innovativen Ganztagsberaterinnen und -berater“ (InGa) der fünf Regierungsbezirke in NRW, die Landesjugendämter Rheinland und Westfalen-Lippe, vertreten durch die Fachberatungen Jugendförderung, die Qualitäts- und UnterstützungsAgentur Landesinstitut für Schule (QUA-LiS) und die Vernetzungsstelle Kita- und Schulverpflegung. Mehr Multiprofessionalität geht nicht.
Online-Redaktion: Das heißt, die Serviceagentur lebt den kooperativen Ganztag vor?
Schröder: Unsere Arbeitshilfen und Praxisbeispiele berücksichtigen von jeher möglichst viele Sichtweisen. Immer vor dem Wissen, dass man es im Unterricht und in den außerunterrichtlichen Angeboten ja mit den gleichen Kindern zu tun hat. Unser aller Auftrag lautet, ihnen das Beste zu bieten und das über den gesamten Tag und gemeinsam. Ob das gelingt, hängt oft von der Schulleitung und den Verantwortlichen für den Ganztag ab, ob sie die Einstellung „Wir sind ein Team“ haben.
Multiprofessionalität ist ein Markenzeichen unserer Steuerungselemente für die Primarstufe, ob bei den Regionalkonferenzen, den Regionalen Qualitätszirkeln oder unseren Fachtagen. Und zwar in der personellen Zusammensetzung, die beispielsweise die obere wie die untere Schulaufsicht einbindet, aber eben auch Jugendämter oder Träger der Freien Wohlfahrtspflege. Selbstverständlich greifen auch unsere Ganztagsberaterinnen und -berater für die Sekundarstufe I und die Gymnasien das Thema in ihren Veranstaltungen oder bei ihrer Arbeit in den Schulen auf.
Zu dieser Arbeit zählt untrennbar in allen Altersstufen auch der Kontakt zu den Eltern. Auch hier gilt es, überholte Bilder von Schule oder von der Kinder- und Jugendhilfe zu verändern. Schule ist schon immer mehr als das fachliche Lernen, Und die Kinder- und Jugendhilfe greift nicht erst ein, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht, sondern kann bei allen Fragen der Förderung aller Kinder einbezogen werden.
Online-Redaktion: In Nordrhein-Westfalen gibt es Qualitätszirkel in den Kommunen. Um sie scheint es etwas stiller geworden zu sein?
Schröder: Wir müssen uns eingestehen, dass diese Form der Vernetzung auf der kommunalen Ebene während Corona ein Stück weit gelitten hat, werden über sie künftig aber wieder einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung leisten. Aktuell entwickeln wir einen Fragebogen, um den Stand zu ermitteln, wo es solche Zirkel gibt, wer beteiligt ist und welche Verbindungen es auch in die städtischen Ausschüsse gibt. Unser Ziel ist, solche Gremien als Form der kommunalen Steuerung flächendeckend zu etablieren.
Online-Redaktion: Warum spielt die Führungsebene bei der Entwicklung hin zu einem multiprofessionellen Team solch eine bedeutsame Rolle?
Sibum: Natürlich geben immer auch Personen jenseits der Führungsebene wichtige Impulse und stoßen Entwicklungsprozesse wie die Teamarbeit an. Aber die Schul- und Ganztagsleitungen lenken ihre Schiffe. Sie können auch Dinge einfordern, das fällt Einzelnen eher schwer. Zudem können die Leitungen zeitliche Rahmen für den Austausch zwischen den Professionen schaffen, sogar veranlassen, dass diese im Zeitplan der Lehr- und Fachkräfte verankert wird. Wichtig erscheint uns genauso, dass Anlässe geschaffen werden für den informellen Austausch, und wenn es eine gemeinsame Feier ist.
Online-Redaktion: Über allem schwebt das Streben nach Qualität. Welche Unterstützung bietet die Serviceagentur in dieser Kernfrage?
Sibum: Wir sind überzeugt, dass Schülerinnen und Schüler wertvolle Impulse geben können, „ihre“ Schule als lebenswerten Ort zu gestalten. Sie sind der Ausgangspunkt von Qualitätsentwicklung. Darum haben wir das Modul „Qualitätsentwicklung in Ganztagsschulen“, kurz: Quigs, etabliert. Dabei handelt es sich um ein neu entwickeltes digitales, interaktives und kostenfreies Angebot für alle Ganztagsschulen in NRW, die Qualitätsentwicklung kind- und jugendorientiert gestalten wollen. Es unterstützt eine dialogische qualitative Weiterentwicklung der Ganztagsschule gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen.
Im Zentrum stehen die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen rund um die Kernthemen „Ganztagsschule & Mitmachen“, „Ganztagsschule & Lebenswelt“ und „Ganztagsschule & Raum“. Wer das Instrument nutzen möchte, benötigt nur eine Internetverbindung und Smartphones oder Tablets – eine spezielle Software oder App sind nicht erforderlich. Quigs kann ab der 2. Klasse in der Primarstufe und dann bis zur 10. Klasse in der Sekundarstufe I eingesetzt werden.
Online-Redaktion: Noch einmal zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder: Wie blicken Sie in Richtung 2026?
Schröder: Allein die Diskussion darüber hat bei uns in Nordrhein-Westfalen sehr viel Positives ausgelöst. In vielen Kommunen wird gemeinsam überlegt, wie man den Rechtsanspruch umsetzen kann, wie entsprechender Platz in den Einrichtungen geschaffen und Personal gefunden werden kann. Wir spüren aber darüber hinaus einen regelrechten Aufbruch, das heißt, dass die Beteiligten es als Chance betrachten, über einen guten Ganztag nachzudenken. Bei allen absolut berechtigten Bedenken, ob und wie schnell die Umsetzung funktioniert, sollten wir nicht vergessen: Es gibt schon sehr viel – gute Strukturen, gute Zusammenarbeiten, gute Beispiele. Wir fangen wahrlich nicht bei null an.
Kategorien: Bundesländer - Berlin
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