Mit der Verkehrswacht sicher in die Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Das neue Schuljahr 2020/2021 hat begonnen, und die Deutsche Verkehrswacht ist wieder besonders gefragt. Was sie für Ganztagsschulen zu bieten hat, erläutert Redaktionsleiter Josef Weiß im Interview.
Online-Redaktion: Herr Weiß, heute starten die bundesweiten Aktionstage „Zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten“. Ist das Laufen die beste und sicherste Art, zur Schule zu kommen?
Josef Weiß: In den 1970er Jahren sind noch 90 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler zu Fuß zur Schule gegangen – von dieser Zahl sind wir heute weit entfernt. Vor 40 Jahren gab es auch wesentlich weniger Kinder mit Bewegungsmangel – und das merken wir in der Verkehrserziehung. Es gibt zum Beispiel wesentlich mehr Unfälle durch Stolpern, und viel mehr Kinder in der 4. Klasse haben motorische Schwierigkeiten, auf dem Fahrrad zu sitzen. Das Problem ist seit langem bekannt, und es wird schon im Kindergarten unheimlich viel dagegen unternommen. Neben der Sprachförderung ist dort die Bewegungsförderung ein zentrales Thema. Auch im Sportunterricht wird das integriert. Und von Seiten der VMS Verkehrswacht Medien & Service Center haben wir mit „move-it“ und „Velofit“ Programme zur motorischen Förderung entwickelt.
Die einfachste Art der Bewegungsförderung ist regelmäßige Bewegung im Alltag, angefangen mit dem Weg zur Schule. Im Grundschulbereich sollten die Schülerinnen und Schüler deshalb unserer Ansicht nach möglichst zu Fuß gehen. Die Bewegung an der frischen Luft hält gesund und fit. Wenn ein Kind, das sich bewegt hat, in der Schule ankommt, kann es sich auch besser konzentrieren. Zweitens entsteht Verkehrssicherheit dadurch, dass Kinder Erfahrungen sammeln. Diese enthalte ich dem Kind vor, wenn ich es auf die Rückbank meines Autos packe. Wie soll ein Kind ein sicherer Verkehrsteilnehmer werden, wenn es nicht aktiv am Verkehr teilnimmt? Ich tue meinem Kind nichts Gutes, wenn ich es immer mit dem Auto zur Schule fahre.
Drittens ist der Schulweg nicht einfach eine Strecke von A nach B, sondern trägt auch zum Sozialverhalten bei: Auf dem Fußweg treffen sich die Kinder und sprechen miteinander. Und nicht zuletzt ist das Zu-Fuß-gehen deutlich umweltfreundlicher, als wenn jede Schülerin und jeder Schüler mit dem Auto zur Schule gebracht wird.
Online-Redaktion: Wann ist Radfahren die beste Option?
Weiß: Die Kinder sollten erst nach der bestandenen Radfahrausbildung zur Schule fahren, also de facto am Ende des 4. Schuljahres. Darüber wird immer wieder diskutiert, aber die Mehrheit der Schulen und die Polizei sehen das auch so. Es gibt einfach bestimmte Dinge, die ein Kind können muss, um als Radfahrer eigenständig sicher am Straßenverkehr teilzunehmen. Das ist nicht nur eine Frage der Übung, sondern auch des Entwicklungsstandes.
Kinder mit sechs oder sieben Jahren können Gefahren noch nicht antizipieren oder sogar bereits so handeln, dass die Gefahr gar nicht erst entsteht. Sie können auch Geräusche im Straßenlärm noch nicht genau lokalisieren. Manche Eltern sagen, ihr Kind könne doch schon gut Rad fahren. Aber es ist was anderes, wenn die Familie sonntags im Park radelt, als wenn ein Kind im Berufsverkehr alleine morgens in die Schule fährt.
Online-Redaktion: Das Thema „Eltern-Taxi“ ist immer wieder präsent. Wie positionieren Sie sich dazu?
Weiß: Das „Eltern-Taxi“ ist keine Mobilitätslösung, die wir präferieren. Ich höre sehr oft von Lehrkräften, Polizei und Verkehrswachten, dass viele Eltern argumentieren, der Verkehr sei inzwischen so gefährlich, dass sie ihr Kind lieber mit dem Auto bis vor die Schule fahren. Sie übersehen dabei, dass die Gefahren, die morgens rund um die Schulen entstehen, größtenteils von diesen „Eltern-Taxis“ selbst ausgehen.
Das Verkehrsaufkommen entsteht vor allem durch sie selbst. Und das häufig auch noch unter gefährlichem Zeitdruck und Stress. Darüber gibt es viele Aufklärungsaktionen auch der Polizei und der Schulen. Es geht hier nicht um moralische Verurteilung oder ob es erlaubt ist oder nicht, sondern man kann einfach viele gute Argumente ins Feld führen, warum es für die Gesundheit, die Sicherheit und das Sozialverhalten der Kinder besser ist, diese nicht bis vor das Schultor zu kutschieren. Aber das ist ein Bohren sehr dicker Bretter.
Online-Redaktion: Gerade ist Baden-Württemberg als letztes Land ins Schuljahr gestartet. Wie begleitet die Deutsche Verkehrswacht diese besonders für Schulanfänger sensible Phase?
Weiß: In Zusammenarbeit mit den Landesministerien organisieren die Landesverkehrswachten Auftaktveranstaltungen zum Schulanfang. In der Aufklärungsarbeit der Verkehrswacht bieten wir viel zum Thema „Vorbereitung auf den Schulweg“ an. Eine wichtige Aktion ist hierbei „Sicher zur Schule“, die viele Verkehrswachten vor Ort bereits im Kindergarten in einem Heft für Kinder und in einem Elternratgeber für die „Wackelzahngruppe“ – also die Kinder, die innerhalb des nächsten halben Jahres in die Grundschule wechseln werden – vorstellen. „Sicher zur Schule“ wird von den Erzieherinnen und Erziehern sehr gerne im Kindergarten eingesetzt und engagiert durchgeführt.
Mit Plakatmaßnahmen, die sich vor allem an die erwachsenen Verkehrsteilnehmer wenden, machen wir daneben darauf aufmerksam, dass gerade jetzt wieder „Neulinge“ am Straßenverkehr teilnehmen und sie sich besonders rücksichtsvoll und vorsichtig verhalten sollen.
Wir geben auch den Eltern möglichst viel an die Hand, damit sie ihre Kinder optimal auf den Schulweg vorbereiten. Sie erhalten praktische Tipps, wie sie den Schulweg vorbereiten können und wie sie den Schulweg auswählen – der kürzeste muss nicht immer der sicherste Weg sein. Die Eltern können an den Grundschulen auch schon Schulwegpläne einsehen.
Online-Redaktion: Was können die Eltern praktisch tun?
Weiß: Sie übernehmen die wichtigste Rolle, indem sie den Schulweg mit ihren Kindern vorab mehrmals abgehen – und zwar den exakten Schulweg. Kinder sind in diesem Alter noch nicht fähig, Transferdenken zu leisten, und daher müssen sie konkret zum Beispiel wirklich an den Kreuzungen üben, die sie auf ihrem Schulweg überqueren werden, und nicht an irgendeiner Kreuzung. Am besten findet dieses Schulwegtraining noch vor den Sommerferien statt, in denen es trügerisch weniger Berufsverkehr gibt. Natürlich kann man auch in den Ferien üben, aber realistischer vom Verkehrsaufkommen her ist es während der Schulzeit.
Und nicht zuletzt gibt es den Schülerlotsendienst, einer der Klassiker der Verkehrswacht. Da sind nicht nur Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse, sondern auch viele Eltern im Einsatz. Die helfen bei der Schulwegsicherung ungemein.
Online-Redaktion: Helfen die Maßnahmen, Unfallzahlen zu senken?
Weiß: Die Zahlen entwickeln sich gut, gerade wenn man große Zeiträume betrachtet. Wenn wir die Unfallzahlen von Kindern und Jugendlichen von 6 bis unter 15 Jahren im Straßenverkehr – nicht nur auf dem Schulweg – betrachten, gab es 2001 rund 42.800 Unfälle. 2019 waren es 28.000 – das ist also eine Reduzierung um ein Drittel. Das ist auch keine zufällige Zahl, sondern man sieht, wie die Fälle kontinuierlich über die Jahre zurückgehen – egal ob zu Fuß, per Rad oder per Auto. Die aktuelle Entwicklung ist sehr positiv. Dennoch bleibt noch viel zu tun, jeder Unfall ist einer zu viel.
Online-Redaktion: Hat sich die Verkehrserziehung über die Jahre verändert?
Weiß: Sicheres Verhalten im Straßenverkehr, Sozialkompetenz, umwelt- und gesundheitsbewusstes Verhalten sind seit Jahren Themen der Verkehrserziehung. Hinzugekommen sind – in der überarbeiteten KMK-Empfehlung zur Mobilitäts- und Verkehrserziehung von 2012 – Aspekte des Klimaschutzes, des Ressourcenverbrauchs, der Nachhaltigkeit und der Förderung von selbstständiger Mobilität.
Online-Redaktion: Die Verkehrswacht hat auch Projekte für Ganztagsschulen durchgeführt, welche sind das derzeit?
Weiß: Die Deutsche Verkehrswacht bietet ein breites Angebotsspektrum von der Radfahrausbildung in der Grundschule bis zum Mofakurs in der Sekundarstufe. Besonders beliebt ist die Fahrradwerkstatt in der Sek I. In unserem Projekt „Skaten für den Ganztag“ trainieren die Schülerinnen und Schüler die sichere Fortbewegung auf Inlineskates. In 18 Doppelstunden vermittelt der Kurs grundlegende Fahrtechniken wie Fallen, Bremsen, Ausweichen und Kurvenfahren. Ausrüstung und andere sicherheitsrelevante Themen kommen zur Sprache. Auf einem Skateparcours erlangen die Jugendlichen durch praktische Übungen mehr Fahrroutine und Sicherheit. Am Beispiel des Skatens handeln wir aber auch hier die Themen Verantwortung und Sozialverhalten im Straßenverkehr ab. Höhepunkt des Halbjahreskurses ist zum Abschluss die Vorbereitung und Durchführung einer Skatetour, die die Schülerinnen und Schüler selbst planen. So etwas könnte in der Form nicht im Vormittagsunterricht untergebracht werden.
In der Sekundarstufe bieten wir auch einige Peer-Projekte an. So können sich Jugendliche zu Schülermentorinnen und -mentoren „Mobilität und Verkehr“ ausbilden lassen. Sie können dann unter anderem die Radfahr- und Inlineskating-Ausbildung und schulische Maßnahmen und Projekte zur Verkehrssicherheit unterstützen oder Verkehrspatenschaften für die jüngeren Mitschülerinnen und Mitschüler übernehmen. Die Ausbildung zum Schulbusbegleiter ist ebenfalls möglich. Diese leisten auch einen wichtigen Beitrag, um die Sicherheit zu erhöhen. Die Schülerinnen und Schüler fahren angstfreier mit dem Bus, drängeln weniger und überqueren an den Haltestellen die Straße sicherer.
Schließlich – auch diese Themen finden Sie bei uns online im Netz – gibt es für weiterführende Schulen noch Angebote zum Radfahren, neben der bereits genannten Fahrradwerkstatt auch etwas zum neuen (Rad-)Schulweg nach dem Schulwechsel.
Ferner möchte ich erwähnen, dass es noch zahlreiche interessante Angebote und Aktionen von den Landes- und Ortsverkehrswachten gibt. Interessierte Schulen mögen vor Ort bei ihrer Landesverkehrswacht nachfragen. Es gibt für jede Altersstufe vom Kindergarten an etwas. Ab Anfang 2021 werden die Verkehrswachten mit „Jung+Sicher+Startklar“ umfassende Materialien für die höheren Klassen der Sek I. und die Sek II anbieten.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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