Lesen im Ganztag: „Die Bibliothek als Ort ist hybrid“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Lesen ist die Kompetenz Nummer 1, wenn es um Bildung und Teilhabe an der Gesellschaft geht. Wie moderne Bibliotheken heute Kinder und Jugendliche zum Lesen verführen, verrät Kathrin Hartmann vom Deutschen Bibliotheksverband.
Online-Redaktion: Lesen ist eine Schlüsselkompetenz. Doch nach jüngsten Studien tut sich ein Viertel der Schülerinnen und Schüler schwer mit dem Lesen. Können Bibliotheken gegensteuern?
Kathrin Hartmann: Lesen zu lernen ist ein komplexer Prozess und braucht viele Fördererinnen und Förderer. Viele wichtige Kompetenzen, die hierfür nötig sind, müssen bereits vor dem Schulbeginn gefördert werden, um das eigene Lesen vorzubereiten und zu erleichtern. Von Geburt an benötigen Kinder vielerlei Anreize und Erfahrungen, um Grundfertigkeiten rund um Sprache zu erlernen. In der Bildungsforschung wird dies unter dem Begriff der „Early Literacy“ zusammengefasst. Dazu gehören Erzählen, Sprechen, Reimen, Singen, Bilderbuch betrachten, Vorlesen etc., wodurch Sprach-, Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit sowie auch die Schrift- und Buchkultur aktiv vermittelt werden.
Die Familie ist da als zentraler Sozialisationsort entscheidend. Familien, in denen nicht viel gelesen wird, müssen wir über die Wichtigkeit der „Early Literacy“-Bildung informieren und unterstützen. Eine besondere Rolle haben hier natürlich die Erzieherinnen und Erzieher in Krippe und Kita, aber auch Bibliotheken. Sie sind in der gesamten Lesesozialisation eine zentrale Institution. Unsere Bibliotheken bieten immer mehr Veranstaltungen für Familien mit kleinen Kindern an und arbeiten systematisch mit Kitas und Schulen zusammen. Damit Kinder Bibliotheken für sich als Orte für ihre Freizeit entdecken, als Lernbegleiter und Raum für ihr gesamtes Leseleben, müssen sie diese möglichst früh kennenlernen.
Online-Redaktion: In der Schule wurde lange auf die Hochliteratur und einen klassischen Literaturkanon gesetzt. Setzt man sich heute kleinere Ziele – nach dem Motto: Hauptsache, es wird gelesen?
Hartmann: Tatsächlich sollte das erste Ziel sein, die Lesekompetenz aller Kinder zu stärken – ganz egal, was sie lesen und für welchen Lesestoff sie sich begeistern. Denn Lesefähigkeit ist nach wie vor Grundlage für alle Bildungsprozesse. Ihr Erwerb ist ein wichtiges Kinderrecht. Heute haben wir durch digitale Lesemedien ganz neue Möglichkeiten, Kindern Zugänge zum Lesen zu eröffnen. Warum sollten wir die nicht nutzen? Gerade für Kinder, die sich mit dem Lesenlernen schwertun, können das attraktive Angebote sein.
Auch Bücher, die in leichter Sprache verfasst sind, können leseschwachen Kindern ein erfolgreiches Leseerlebnis bereiten und die Tür zur Literatur öffnen. Comics, Mangas oder Bücher mit einem hohen Bildanteil sind ebenfalls für viele Kinder attraktiv und eine ganz eigene, wunderbare Kunstform in der Kombination aus Sprache und Bild. Aus meiner Sicht ist es wichtig, Kindern eine große Breite an Büchern und Lesestoffen anzubieten und dies auch in unterschiedlichen Formaten.
Online-Redaktion: Und Literaturunterricht wird weniger wichtig?
Hartmann: Die Kinder- und Jugendliteratur ist so reich und lebendig, dass jedes Kind mit einem geeigneten Text und früher Förderung zum Lesen animiert werden kann. Für gute Geschichten und spannende Stoffe können sich alle Kinder begeistern. Auch wenn ich sehr dafür bin, weiter Kinderbuch-Klassiker zu lesen und Kinder an anspruchsvolle Stoffe heranzuführen, sollte auch in Schulen Wert darauf gelegt werden, aktuelle Kinder- und Jugendbücher aktiv zu vermitteln, die nah an der Lebenswirklichkeit der Kinder, ihren Interessen und Erfahrungen sind. Bibliotheken und Buchhandlungen können hier mit attraktiven Lesestoffen unterstützen.
Gleichzeitig wäre es wünschenswert, dass Literaturpädagogik in der Aus- und Weiterbildung der Grundschullehrkräfte fest verankert ist und diese Neuerscheinungen rezipieren. Interessant ist beispielsweise derzeit das Phänomen der „Young Adult“- und „New Adult“-Literatur: Auch wenn viele Bücher eher romantische und mitunter klischeehafte Liebesgeschichten in allen möglichen Subgenres von Fantasy bis Crime erzählen, schaffen sie bei jugendlichen Leserinnen und Lesern einen großen Lesehype. Das ist aus meiner Sicht absolut positiv zu bewerten. Und so finden sich selbstverständlich auch diese Bücher in Bibliotheken, die sich bei ihrem Bestandsaufbau immer stark an den Interessen ihrer Leserschaft orientieren.
Online-Redaktion: Manche schreiben die sinkende Lesekompetenz der Nutzung neuer Medien zu – zu Recht?
Hartmann: Die gar nicht mehr so neuen Medien sind sicher ein Faktor, dass Kinder nicht mehr so häufig zum Buch greifen, da sie ein zusätzliches und für viele sehr attraktives Angebot zur Information und zum Zeitvertreib sind. Gleichzeitig ist auch für die Nutzung von digitalen Medien die Lesefähigkeit eine Nutzungsvoraussetzung – selbst wenn die Bedeutung von audiovisuellen Medien im Netz immer weiter zunimmt. Wichtig scheint mir, dass wir diese neuen Realität von heute Aufwachsenden anerkennen und in der Leseförderung aktiv aufnehmen. Zumal es inzwischen viele tolle Lese-Apps gibt, die gerade auch das Lesenlernen sehr gut unterstützen oder Lesestoffe zeitgemäß und attraktiv aufbereiten. Digitales Lesen erfordert andere Fähigkeiten als analoges Lesen – auch das muss erlernt und vermittelt werden. Damit Kinder zu Leserinnen und Lesern werden und Freude an Büchern bekommen, ist es wichtig, sehr früh mit der Förderung zu beginnen, etwa durch Vorlesen aus analogen und digitalen Medien. Hier sollten wir ansetzen.
Online-Redaktion: Sie nennen Bibliotheken „moderne Orte der Wissensvermittlung“. Entspricht das Angebot der Bibliotheken noch den Bedürfnissen der jungen Generation?
Hartmann: Bibliotheken verstehen sich heute als weit mehr als Ausleihstationen für Bücher, sie bieten Wissenszugänge in unterschiedlichsten Medien- und Veranstaltungsformaten an. Anders als andere Kultur- und Bildungsorte haben Bibliotheken sich sehr früh damit beschäftigt, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf ihre Angebote haben wird. Da Bibliotheken per se medienbasiert arbeiten, wirkt sich jeder Medienwandel selbstverständlich auf Bibliotheken aus.
Digitale Medien ergänzen den Printbestand, es gibt zahlreiche Veranstaltungen zur Leseförderung, zur digitalen Bildung und zur Stärkung der Informations- und Medienkompetenz. Die Bibliothek als Ort ist hybrid. Digitale und analoge Medien und Techniken können gleichzeitig genutzt werden. Immer mehr Bibliotheken verfügen neben WLAN beispielsweise über Maker Spaces mit 3-D-Druckern und anderer professioneller Technik, eine „Bibliothek der Dinge“, in der man Alltagsgegenstände ausleihen kann, und vielem mehr.
Gleichzeitig gibt es Arbeitsplätze, Leseecken und Gruppenarbeitsräume. Die Bibliothek ist auch einfach ein Ort, an dem man in Ruhe lernen oder sich mit Freunden treffen kann. Sie ist gleichzeitig Lern- als auch Freizeitort. Für Schülerinnen und Schüler lizensieren Bibliotheken digitale Wissensressourcen, Datenbanken, Tutorials und Lernmaterialien. Aber natürlich ist das Angebot abhängig von den finanziellen, räumlichen und personellen Möglichkeiten einer Bibliothek.
Online-Redaktion: Alle Länder haben Rahmenkooperationsverträge mit ihren Landesbibliotheksverbänden zur Zusammenarbeit im Ganztag. Haben diese sich bewährt?
Hartmann: Viele Bibliotheken haben aufgrund dieser Landesrahmenverträge selbst Kooperationsverträge mit Schulen abgeschlossen. Die Verträge bieten eine sehr wichtige Grundlage für die Zusammenarbeit. Gleichzeitig ist die Erfahrung, dass die reine Existenz eines Vertrages noch nichts über die Qualität der Kooperation aussagt. Entscheidend ist, dass die Kooperation gelebt wird, dass Bibliothek und Schule im Ganztag tatsächlich eng zusammenarbeiten und diesen gemeinsam gestalten. Manchmal ist es trotz Vertrag schwierig, tragfähige Kontakte aufzubauen. Deswegen hängt es auch immer an guten persönlichen Beziehungen zwischen den verantwortlichen Mitarbeitenden.
Es braucht verlässliche Kanäle für die Kommunikation und Vernetzung, aber auch die feste Einbindung ins Curriculum, damit alle Kinder die Bibliothek im Ganztag verlässlich kennenlernen und an gemeinsamen Projekten partizipieren können. Im Ganztag müssen dafür ausreichend Ressourcen für die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern bereitgestellt werden: feste Zeit im Stundenplan und Betreuungspersonal, das den Besuch in die Stadtbibliothek begleitet. Zusätzlich zu der Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek setzen wir uns als Verband aber auch für zeitgemäße Schulbibliotheken an jeder Schule ein, die eine moderne Lernumgebung bieten und gerade in der Ausgestaltung des Ganztag unverzichtbar sind.
Online-Redaktion: Welche Chancen bietet der Ganztag?
Hartmann: Der Ganztag bietet die Chance, das Lesen für alle, auch für Kinder, in deren Familien wenig bis gar nicht gelesen wird, im Alltag fest zu verankern – auch außerhalb des Deutschunterrichts und jenseits von schulischer Bewertung. Je mehr Anlässe geschaffen werden, desto leichter fällt es Schülerinnen und Schülern, das Lesen aktiv zu erlernen. Um die Lesemotivation zu steigern, ist es wichtig, spannende, altersgerechte Lesestoffe bereitzustellen, das Lesen aktiv zu üben – auch mit digitalen Lesemedien. Im Ganztag können über attraktive Schulbibliotheken und die systematische Kooperation mit der Stadtbibliothek hier mehr Impulse und eine bessere Unterstützung gegeben werden als bisher.
Online-Redaktion: Jetzt werden wieder die Sommerleseclubs in den Ländern aktiv. Was bewirken sie?
Hartmann: Leseaktionen in den Sommerferien gehören bei vielen Bibliotheken fest ins Programm. Sie sprechen in der Regel Kinder und Jugendliche an, die ohnehin schon zu den „Vielleserinnen und ‑lesern“ gehören. Auch die müssen gefördert werden. Der Aktions- und Wettbewerbscharakter und die Preise sind eine zusätzliche Motivation, in der schulfreien Zeit intensiv und selbstbestimmt zu lesen – jenseits von Schullektüren und Benotung. Die Erfahrung, dass Lesen eine individuell bereichernde Freizeitaktivität ist, die Freude bereitet, inspiriert und gut unterhält, über die ich mich aber auch mit anderen austauschen kann und die mich mit anderen Menschen verbindet, ist entscheidend, damit Kinder zu Leserinnen und Lesern werden.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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