Thüringer Schulsozialarbeit: „Ob Ganztag oder nicht“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Thüringen hat ein strenges Fachkräftegebot für die Kinder- und Jugendhilfe, das auch im Landesprogramm Schulsozialarbeit gilt. ORBIT-Geschäftsführerin Ines Morgenstern hat das Programm von Anfang an mitgestaltet.
Online-Redaktion: Das Thüringer Landesprogramm Schulsozialarbeit feierte 2023 sein 10-jähriges Jubiläum. Wie ist es entstanden?
Ines Morgenstern: Eigentlich gibt es Schulsozialarbeit schon viel länger in Thüringen. In den 1990er Jahren hieß das erste Programm „Jugendarbeit an Thüringer Schulen“, welches über Förderprogramme der Agentur für Arbeit finanziert wurde. Daran schloss sich ein Programm für Berufsbildende Schulen an, in dem an 50 Thüringer Schulen Schulsozialarbeit finanziert wurde und das ich mit Kolleginnen und Kollegen in einer Broschüre 2005 vorgestellt habe. Ein flächendeckendes Landesprogramm wurde allerdings erst 2013 eingeführt.
Dem vorausgegangen war eine lange Diskussion über Zuständigkeiten und gesetzliche Verankerung. Einige Kommunen sahen die Zuständigkeit für Schulsozialarbeit eher auf Landesebene beim Bildungsministerium. Andere hatten Schulsozialarbeit schon längst in der Kommune etabliert. Da Schulsozialarbeit als Begriff im Sozialgesetzbuch VIII nicht auftauchte, sahen einige Thüringer Kommunen auch keine rechtliche Verpflichtung zur Schulsozialarbeit. Im Gesetz festgeschrieben steht im Paragrafen 13 die Jugendsozialarbeit, die die rechtliche Grundlage des Landesprogramms bildete. Daher leitete sich dann auch der Name „schulbezogene Jugendsozialarbeit“ ab, der nichts anderes als Schulsozialarbeit meinte. Und heute hat sich der Begriff auch in Thüringen durchgesetzt.
Online-Redaktion: Welchen Anteil hatte Ihr Institut ORBIT e.V., das heute die Schulsozialarbeit begleitet, an diesem Prozess?
Morgenstern: ORBIT evaluierte in dieser Zeit zunächst das Landesprogramm an berufsbildenden Schulen, später die Programme in Jena und auch Programme in Sachsen, in Chemnitz und im Zwickauer Land. Die Erfahrungen aus der Evaluation in Sachsen standen dann auch ein Stück Pate bei der Entwicklung des Thüringer Landesprogramms, indem die Erkenntnisse aus der Evaluation in die Entwicklung der fachlichen Empfehlungen in Thüringen eingeflossen sind.
Unser Thüringer Landesprogramm startete am 1. Juli 2013. Eine Besonderheit dabei ist, dass es vom ersten Tag an eine fachliche Begleitung gibt, die die Schnittstelle zwischen dem Ministerium und den umsetzenden Stellen vor Ort bildet. Wir sind sehr stolz darauf, dass wir bereits seit mehr als 10 Jahren diese fachliche Begleitung durchführen dürfen. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass das Landesprogramm ohne eine monetäre Gegenfinanzierung der Kommunen auskommt, was auch finanziell schwachen Gebietskörperschaften ermöglicht, von diesem Programm zu profitieren.
Online-Redaktion: Wie viele und welche Fachkräfte sind in der Thüringer Schulsozialarbeit an Schulen tätig?
Morgenstern: Gestartet ist das Programm mit 10 Millionen Euro Landesmitteln. Dafür sollten 200 Stellen in der Schulsozialarbeit geschaffen werden. Das ist auch nach einer ersten Anlaufphase gelungen. Wir haben dann die ersten Jahre etwas ausführlicher evaluiert und uns die Bedingungen vor Ort angesehen. Die Ergebnisse sind immer noch interessant, zumal wir sie in diesem Jahr um die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler erweitert haben.
In Thüringen darf es an jeder Schule Schulsozialarbeit geben, unabhängig von der Schulart. In den fachlichen Empfehlungen ist allerdings festgeschrieben, wie dies erfolgen soll. Für die Auswahl der Schulen sind die Jugendhilfeausschüsse vor Ort zuständig, die den Bedarf im Rahmen der Jugendhilfeplanung ermitteln. Die fachlichen Empfehlungen legen fest, dass ein Schulsozialarbeitender nur an einer Schule tätig sein soll und das in einem Stundenumfang von mindestens 30 Stunden pro Woche.
Thüringen hat ein sehr strenges Fachkräftegebot für die Kinder- und Jugendhilfe, welches auch für die Schulsozialarbeit gilt. Das sorgt dafür, dass wir in diesem Feld auch einen hohen Standard realisieren können. Es sind vorrangig Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen oder Personen mit vergleichbaren Abschlüssen tätig. Die anfängliche Förderung von 10 Millionen Euro ist inzwischen auf über 26 Millionen Euro gestiegen. Auch geben inzwischen viele Gebietskörperschaften eigene Mittel dazu. Dadurch sind inzwischen rund 500 Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter in Thüringen tätig, was einer circa 50-prozentigen Versorgung der Schulen in Thüringen entspricht. Wir haben insgesamt knapp 1.000 Schulen in Thüringen.
Online-Redaktion: Gibt es Schwerpunkte bei den Schularten?
Morgenstern: Das Landesprogramm ermöglicht an allen Schulformen Schulsozialarbeit. Die Gebietskörperschaften legen fest, an welchen Schulen und Schularten Schulsozialarbeit stattfinden soll. Es gibt Kommunen, in denen es keine Schulsozialarbeit an Grundschulen gibt, aber auch welche, an denen es keine an Gymnasien gibt. Wir halten Schulsozialarbeit an jeder Schulform für extrem hilfreich und notwendig, auch wenn aktuell an den Regelschulen und Gemeinschaftsschulen prozentual die meisten Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter tätig sind.
Online-Redaktion: Thüringen hat flächendeckend Ganztagsgrundschulen – mit Schulhorten und beim Land angestellten Erzieherinnen und Erziehern. Ist das auch ein Feld für die Schulsozialarbeit?
Morgenstern: Die Grundschulen haben in den letzten Jahren deutlich aufgeholt. Der Anteil an Grundschulen mit Schulsozialarbeit hat deutlich zugenommen. Da haben sich die zusätzlichen Landesmittel bemerkbar gemacht. Natürlich brauchen Ganztagsgrundschulen auch Schulsozialarbeit. Horterzieherinnen und ‑erzieher haben eine andere Aufgabe als Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter. Gerade die multiprofessionellen Teams sorgen dafür, dass Schule gelingen kann.
Meine klare Antwort auf diese Frage lautet: Wir brauchen an allen Schulen Schulsozialarbeit und insbesondere auch an Grundschulen, egal ob Ganztag oder nicht. An Ganztagsschulen muss sich die Schulsozialarbeit aber eben anders aufstellen. Deshalb legen wir in Thüringen auch einen besonderen Schwerpunkt auf die standortspezifische Konzeption, die jeder und jede Schulsozialarbeitende entwickeln soll.
Online-Redaktion: Was gehört zu dieser Konzeption?
Morgenstern: Darin müssen die Merkmale der Schule, wie zum Beispiel der Ganztag, aufgegriffen und untersetzt werden. Es muss an der Schule eine Bedarfsermittlung geben, aus der hervorgeht, was Priorität für das kommende Schuljahr hat, und das muss umgesetzt werden. Wenn wir so herangehen, ist es auch egal, welche Schulform es ist. Ganztagsangebote sollte es neben Schulsozialarbeit ebenfalls an allen Schulen geben, damit eben alle daran partizipieren können und das Elternengagement nicht zum einzigen Gelingensfaktor wird.
Online-Redaktion: Beim Ganztagskongress von BMBF und BMFSFJ machte der Soziologe Prof. Dr. El-Mafaalani deutlich, dass Ganztagsschulen in Kooperation mit der Schulsozialarbeit mehr Aufgaben der Familien übernehmen müssten. Wie kann das gelingen?
Morgenstern: Wir brauchen multiprofessionelle Teams. Die Anforderung sind so gestiegen, dass einzelne Berufsgruppen die Herausforderungen nicht bewältigen können. Durch eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule kann es gelingen, auch die Familien wieder zu stärken. Damit verbunden ist allerdings eine Öffnung der Schulen in das Gemeinwesen. Unsere Forschungen belegen, dass dies immer dann gut gelingt, wenn die Fachkräfte langfristige Perspektiven in den Schulen und unbefristete Verträge haben.
Online-Redaktion: Kürzlich haben wir das Carl-Zeiss-Gymnasium in Jena porträtiert. Dort sagt ein Lehrer, auch ein Gymnasium wie seines brauche die Unterstützung durch die Schulsozialarbeit. Kann man das verallgemeinern?
Morgenstern: Selbstverständlich. Es ist sinnvoll, an allen Schulen Schulsozialarbeit zu etablieren, eben auch an Gymnasien. Da haben Ihnen die Kolleginnen und Kollegen auf jeden Fall keinen Quatsch erzählt. Wir haben bereits 2009 dort die Schulsozialarbeit in der Anfangsphase begleitet und festgestellt, dass dort sowohl im Bereich der sozialen Kompetenzen als auch der Selbstkompetenzen so einige Entwicklungsaufgaben für Schülerinnen und Schüler schlummern, die Schulsozialarbeit gut lösen könnte. Deshalb noch einmal klar an dieser Stelle: Wir brauchen Schulsozialarbeit an jeder Schule mit einem Mindestmaß von circa 30 Stunden. Bei Schulen mit größeren sozialen Herausforderungen sollten es unbedingt mehr Stunden sein. Wie viele? An so einem Schlüssel arbeiten wir gerade.
Online-Redaktion: Sie haben 2019 auf dem Bundeskongress Schulsozialarbeit in Jena die Erklärung „Schulsozialarbeit an allen Schulen für junge Menschen“ verabschiedet. Was ist, kurz gesagt, das Anliegen?
Morgenstern: Das war für uns schon eine besondere Ehre, den Bundeskongress auszurichten. Wir sind dem Thüringer Bildungsministerium sehr dankbar für die finanzielle Unterstützung. Aber auch die Stadt Jena hat sehr entscheidend dazu beigetragen, dass der Kongress mit 700 Personen stattfinden konnte. Dafür möchte ich bei dieser Gelegenheit noch einmal Danke sagen.
Die Jenaer Erklärung, die im Original vor meinem Büro hängt, zielt auf Kontinuität und Verlässlichkeit in der Schulsozialarbeit ab. Aber auch Mindeststandards und eine multiprofessionelle Zusammenarbeit werden dort gefordert. Manche Punkte sind inzwischen sogar erfüllt, wie beispielsweise die gesetzliche Verankerung im Sozialgesetzbuch VIII. Wir sind da in Thüringen dank der sehr engagierten Referatsleiterin Angela Lorenz, die nun in den Ruhestand getreten ist, schon sehr weit. Ich hoffe sehr, das andere Bundesländer das Potenzial auch erkennen und in den kommenden Jahren nachziehen. Alle demokratischen Kräfte in Thüringen sollten sich dafür einsetzen, dass der Ausbau der Schulsozialarbeit weitergeht.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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