Kompetenzen für den Ganztag unter einem Dach : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Der Bildungscampus Saarland verknüpft Teile der Ausbildung mit der Fort- und Weiterbildung für den Ganztag. Anette Becker begleitet die Ganztagsschulen von Beginn an und kennt die anstehenden Herausforderungen.
Online-Redaktion: Sie begleiten seit 16 Jahren die Ganztagsschulen im Saarland und haben zuvor schon als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (HTW) die Einführung der Freiwilligen Ganztagsschule erlebt. Wie blicken Sie auf die Entwicklung?
Anette Becker: Man könnte von einem „Wechselbad“ der konzeptionellen und qualitativen Entwicklung sprechen. Die Freiwillige Ganztagsschule, kurz: FGTS, wurde im Saarland erstmalig 2006 mit einem ersten Förderprogramm eingeführt, das jedoch sehr niedrigschwellige Umsetzungsvorgaben hatte, was in der Ausgestaltung vor Ort schnell zu Problemen geführt hat. 2008 folgte dann das überarbeitete Förderprogramm FGTS Plus, in dem sowohl die strukturellen als auch personellen Ressourcen genau beschrieben wurden. Dies führte zu einem direkten Anstieg der Qualität der Angebote.
Damals herrschte auch noch kein Fachkräftemangel, so dass auch viele Erzieher in den FGTSen neue Handlungsfelder fanden. Zu Beginn war zudem spürbar, dass die Eltern die FGTS als eine sehr gute Alternative zum Hortangebot sahen, da sie mit 60 Euro pro Monat sehr viel günstiger war und sich qualitativ nicht spürbar unterschied. Dementsprechend erfreuten sich die Angebote der Schulen schnell einer großen Beliebtheit und Nachfrage, und die konzeptionelle Ausgestaltung der Angebote wurden von den Eltern weitgehend akzeptiert.
2013 kam dann der Ganztagsschulerlass für Gebundene Ganztagsschulen dazu, der die Errichtung und Ausstattung der voll- und teilgebundenen Form der Ganztagsschulen regelt. Bis circa 2014/2015 entwickelten sich die Modelle recht gut. Dann kam langsam der zunehmende Fachkräftemangel zum Tragen, was zum „Ausbluten“ der Fachexpertise insbesondere an den FGTS-Standorten führte. Waren damals die Teams noch zur Hälfte mit Erzieherinnen und Erziehern besetzt, ist heutzutage oftmals nur noch eine „echte“ Fachkraft am Standort, neben querqualifizierten Fachkräften, etwa aus dem Zertifikatskurs „Fachkraft für Bildung und Betreuung in der Ganztagsschule“ des CEB Merzig oder des SOS Kinderdorf Saarbrücken.
Online-Redaktion: Wirkt sich das auf die Qualität der Angebote aus?
Becker: Hier zeigen sich aktuell die größten Unterschiede. Obwohl sich das Förderprogramm im Kern kaum verändert hat, mussten doch Abstriche an die Anforderungen an Personalisierung und Raumausstattung gemacht werden, um den steigenden Kinderzahlen und dem „Ausbluten“ der Fachkräfte Rechnung zu zollen. Dies nagt natürlich auch an der konzeptionellen Qualität. Einen großen Unterschied sehe ich aktuell aber vor allem in der Akzeptanz der Eltern. Mehr denn je bilden die steigenden Betreuungszahlen die steigenden Bedarfe der Eltern ab.
Im Unterschied zu 2008 erinnern sich die Eltern heutzutage aber gar nicht mehr an die vergleichsweise teureren Hortangebote, was mit einem Rückgang der Akzeptanz der konzeptionellen Regelungen einhergeht. Eltern lesen nur das Label „Freiwillig“ und verbinden damit meist eine maximale Flexibilität in der Nutzung des Angebots. Das führt vielerorts dazu, dass feste Abholzeiten, verbindliche AG-Angebote und generelle konzeptionelle Regelungen von den Eltern systematisch unterlaufen werden. Dann geraten die Teams häufig an ihre Grenzen, es macht ihre Arbeit eher zu einer „Elternbetreuung“ als zu einem Angebot für die Kinder.
Online-Redaktion: Wie profitieren Ganztagsschulen vom Bildungscampus und welche Idee steht hinter diesem?
Becker: Der Bildungscampus Saarland führt bisher voneinander unabhängige Einrichtungen, wie die fünf Studienseminare, das Landesinstitut für Pädagogik und Medien, die Koordinierungsstelle Gemeinsames Lernen und die Landeszentrale für politische Bildung zusammen und bündelt somit alle Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer, aber auch andere an Schulen arbeitende Professionen unter einem Dach. Zukünftig sollen somit die Zusammenarbeit der Abteilungen und Bereiche intensiviert und die Angebote für die Schulen verbessert werden.
Online-Redaktion: Wie ist Ihr Unterstützungssystem im Bildungscampus personell aufgestellt?
Becker: Aktuell besteht das Team, das auf das Thema Ganztag spezialisiert ist, aus Su Cremer und mir. Su Cremer mit dem Schwerpunkt Gebundener Ganztag und ich mit dem Schwerpunkt Freiwilliger Ganztag. Aber Ganztagsschulentwicklung ist ja nicht losgelöst von Schulentwicklung insgesamt zu sehen. Auch wenn Su Cremer und ich die Schulen oftmals über einen längeren Zeitraum begleiten und beraten, ziehen wir je nach Entwicklungsthema die Kompetenz der anderen Kolleginnen und Kollegen des Bildungscampus hinzu. So zum Beispiel die Kollegen des Fachbereichs Personal- und Organisationsentwicklung, wenn es um Leitungs-, Teamentwicklungs- und zum Beispiel Haltungsfragen geht.
In unserem Fachbereich „Grundsatzthemen in Schulen“ sind die Themenschwerpunkte Inklusion, Prävention, Gesundheit, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Demokratiepädagogik, Kulturelle Bildung und Bildungs- und Chancengleichheit beheimatet. Sobald also im Rahmen unserer Prozessbegleitung einer dieser Themenbereiche als Schulentwicklungsaufgabe auftritt, binden wir die entsprechenden Kolleginnen und Kollegen ein. Genauso ist es bei Fragen der Unterrichtsentwicklung, wo wir gegebenenfalls auf die Kompetenzen der Kolleginnen und Kollegen des entsprechenden Fachbereichs verweisen. So bringen wir unser Fachwissen und unsere Kompetenz fortlaufend in den Schulentwicklungsprozess ein und sind gleichermaßen Schnittstelle zu den Expertisen der anderen Kolleginnen und Kollegen des Bildungscampus.
Online-Redaktion: Wie umfangreich ist Ihre Zielgruppe?
Becker: Im Saarland haben wir eigentlich an jeden Schulstandort, ob Grundschulen, Gemeinschaftsschulen, Gymnasien oder Förderschulen, ein Ganztagsangebot. Diese Angebote sind entweder durch den Ganztagsschulerlass für gebundene Ganztagsschulen oder aber das Förderprogramm für Freiwillige Ganztagsschulen geregelt. Das heißt, Ressourcen und konzeptionelle Rahmenbedingungen sind bereits festgelegt. In den meisten Fällen haben wir Freiwillige Ganztagsschulen. Da das Saarland mit rund 300 allgemeinbildenden Schulen recht überschaubar ist, „kennt man sich“ und hat zu vielen Akteuren persönlichen Kontakt. Gebundene oder teilgebundene Ganztagsschulen haben wir aktuell an 12 Grundschulen und 18 Gemeinschaftsschulen sowie an drei Gymnasien mit Ganztagsklassen.
Online-Redaktion: Welche Themen beschäftigen Ganztagsschulen und solche, die es werden wollen, aktuell am stärksten?
Becker: Im Bereich der Grundschulen merken wir in der Beratung den nahenden Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. Nachdem sich lange keine Schule mehr auf den Weg in den gebundenen Ganztag gemacht hat, kommt seit zwei Jahren wieder Bewegung in die Entwicklung. Oftmals ist das durch die Kommune initiiert, aber auch Schulteams öffnen sich wieder der Idee, in ein anderes schulisches Organisationskonzept zu wechseln. Für die etablierten Ganztagsschulen sind auch der Fachkräftemangel und die Folgen von Corona ein Entwicklungsthema. Aus Sicht des Schulentwicklungsberaters bilden sich regelrechte Entwicklungswellen heraus.
In der ersten Stufe der Entwicklung einer gebundenen Ganztagsschule ist die Veränderung der Organisationsstrukturen das Hauptthema – dazu gehören zum Beispiel die Rhythmisierung, der Umbau der Hausaufgabenzeit zur Lernzeit, der Einsatz des zusätzlichen Personals, die Gestaltung der gebundenen Freizeit. Im zweiten Entwicklungsschritt geht es oft nochmal um das Rollenverständnis, beispielsweise von Lehrerinnen und Lehrern, die zu Lernbegleitern werden. Damit einher geht eine Weiterentwicklung des Unterrichts. Auch die Gestaltung der Gemeinschaft, weg von Regelkatalogen hin zu gelebten pädagogischen Leitsätzen ist ein Thema. Corona war insofern eine Zäsur, als vielen Kindern die Zeit im Kindergarten fehlt, was dazu führt, dass sie bei der Einschulung von der Schule oft überfordert sind und dann den „Ganztag“ kaum schaffen.
Online-Redaktion: Der jüngste Fachtag „UmsetzBAR“ zeigte das Interesse, über den Tellerrand zu schauen. Welche Möglichkeiten der Vernetzung und Zusammenarbeit von Ganztagsschulen bietet der Bildungscampus darüber hinaus?
Becker: Ja, die „Umsetzbar“, die bereits vor Corona in Planung war, spiegelt genau die Bedarfe der Schulen wieder. Es braucht oftmals den handlungsgeleiteten Austausch, der Lösungen innerhalb der im System hinterlegten Ressourcen und Regelungen aufzeigt. Hier war die Rückmeldung der Teilnehmer durchweg positiv. Darüber hinaus haben wir insbesondere für die gebundenen Ganztagsschulen aber auch zwei Netzwerke, das „Forum Ganztag“ für die gebundenen Ganztagsgrundschulen und den ASGG, den Arbeitskreis der Schulleitungen an den Gemeinschaftsschulen im gebundenen Ganztag. Beide treffen sich in regelmäßigen Abständen, um sich über Entwicklungsthemen auszutauschen. Aus der Arbeit dieser beiden Netzwerke entstand auch die Idee zur „Umsetzbar“.
Online-Redaktion: Haben sich Ihre Aufgaben in den vergangenen 16 Jahren verändert?
Becker: Das ist eine schwierige Frage. Bereits in meiner Funktion als wissenschaftliche Begleitung bei der Einführung der FGTSen kamen wir zu dem Ergebnis, dass eine sogenannte Systemzeit, also Zeit für den Austausch zwischen Lehrkräften und pädagogischem Fachpersonal, für eine qualitative Weiterentwicklung der Schulen unabdingbar ist. Bereits vor 16 Jahren wurde versucht, das Thema in den Ausbildungen fester zu verankern, was aber strukturell leider noch immer nicht passiert ist. Weder in den Ausbildungsgängen noch in den gesetzlichen Rahmenbedingungen wird der Rahmen der multiprofessionellen Zusammenarbeit festgelegt, zum Beispiel in Form einer Systemzeit vorgegeben.
In der Praxis bedeutet dies, dass die Art der Zusammenarbeit an den Schulstandorten sehr stark von den handelnden Personen abhängt. Das ist für uns als Ganztagsschulberater immer ein erster Ansetzpunkt für die Prozessbegleitung. Das war auch ein maßgeblicher Grund, warum wir weggekommen sind von thematischen Fortbildungen einzelner Fachgruppen und unsere Beratungsressource eher in Richtung Team- und Konzeptentwicklung verschoben haben. Ohne funktionierende Standortteams, die sich erstmal intern auf gemeinsame Regelungen im Rahmen eines Konzeptes geeinigt haben, laufen thematische Fortbildungen ins Leere, da sie dann an einzelnen Personen hängen und meist nicht in die Teams transportiert werden. Durch die Umstellung auf vermehrt schulinterne Fortbildungen bei Ganztagsthemen erreichen wir immer die ganzen Teams und schaffen so eine breitere Basis über alle Fachexpertisen hinweg.
Online-Redaktion: Sie wirken auch selbst in der Ausbildung mit?
Becker: Durch meine Verbindung in den Studiengang Soziale Arbeit und Pädagogik der Kindheit der HTW Saar bekomme ich regelmäßig die Chance, das Handlungsfeld „Schule“ und im Speziellen der Ganztagsschule vorzustellen. Vielen Studierenden sind die Strukturen einer Ganztagsschule gar nicht klar und somit auch nicht die Möglichkeiten, die sich zur Gestaltung ihrer Arbeit in diesem Handlungsfeld ergeben. Gerade in den gebundenen Ganztagsschulen bestehen so vielfältige Möglichkeiten, sich in den Schulentwicklungsthemen einzubringen.
Online-Redaktion: Guter Ganztag setzt die Kooperation der Professionen voraus. Wie begleiten Sie Schulen auf dem Weg dorthin und welche Möglichkeiten sehen Sie, dass der Ganztag in allen dafür relevanten Studien- und Ausbildungsgängen seinen Raum findet?
Becker: Durch unsere Prozessbegleitung vieler Ganztagsteams helfen wir den Schulen häufig dabei, zunächst einmal feste Kommunikationsstrukturen zu schaffen. Regelmäßige Teamsitzungen, Jour Fixes und auch die Etablierung einer Schulentwicklungssteuerungsgruppe, in der pädagogische Fachkräfte und die Schulsozialarbeit eingebunden werden, sind erste Schritte zu einer gemeinsamen Arbeit auf Augenhöhe. Es darf nicht der Eindruck entstehen, „Schule entwickelt und Fachkräfte arbeiten zu“. Nur gemeinsam wird ein Schuh draus.
Der Bildungscampus Saarland bündelt seit dem 1. September 2023 zumindest schon mal die beiden Säulen Ausbildung der Referendare und Fort- und Weiterbildung unter einem Dach. Das wird mit Sicherheit dazu führen, dass die Themen künftig stärker und früher verzahnt werden. Der Zugang zur ersten Phase der Lehrerausbildung an der Universität oder der sozialpädagogischen Ausbildung an Hochschulen ist schwieriger. Hier liegt die fachliche Aufsicht nicht beim Ministerium für Bildung und Kultur, sondern bei den Universitäten und Hochschulen. Veränderungen der Lehr- und Ausbildungsinhalte gestalten sich eher schwierig. Traumhaft wäre ein gemeinsamer Bachelorstudiengang für Lehrer, Erzieher und Schulsozialarbeiter mit einer gemeinsamen pädagogischen Basis, bevor es dann in die spezifischen Ausbildungen geht. Das würde maßgeblich zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und einer Arbeit auf Augenhöhe beitragen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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