JUH: Ganztags Basis für gelingende Bildungsprozesse : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Als Träger von Ganztagsangeboten haben sich die Johanniter längst einen Namen gemacht. Fachbereichsleiter André Lukas über die Arbeit des Regionalverbands Östliches Ruhrgebiet der Johanniter-Unfall-Hilfe im Interview.
Online-Redaktion: Was motiviert die Johanniter, sich in Ganztagsschulen zu engagieren?
André Lukas: Die Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. ist seit 1952 in den unterschiedlichsten sozialen und karitativen Bereichen aktiv. Seit 1980 ist die Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. als Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe aktiv und ist heute der bundesweit größte freigemeinnützige Träger von Kindertagesstätten. Deswegen können wir auch mit unserer langjährigen Erfahrung im Bereich Kinder- und Jugendhilfe als bundesweit agierender Verband aus überregionalen und regionalen Angeboten Synergien nutzen. Unsere Erfahrungswerte passen unsere Fachkräfte vor Ort den kommunalen Vorgaben und Gegebenheiten an und entwickeln sie stets weiter.
Online-Redaktion: Wie gelingt das?
Lukas: Wir Johanniter halten dafür einen breiten Fächer an Fachkompetenz, Methodik und praktischer Erfahrung bereit. Bei all unseren Diensten und Angeboten steht die Ganzheitlichkeit im Vordergrund – von der Planung eines Angebots über das pädagogische Konzept bis hin zum reibungslosen Betrieb. In der Realisierung eines ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangebots von hoher Qualität legen wir insbesondere Wert auf den regelmäßigen Austausch und eine Kommunikation auf Augenhöhe – sowohl der Mitarbeitenden untereinander, als auch zwischen Schulleitung und den Verantwortlichen des Hort- oder Ganztagsangebots der Johanniter.
So schaffen wir gemeinsam eine ganzheitliche Umgebung für junge Menschen, in der individuelle Betreuung und Förderung gelingt. Wir sorgen damit für Chancengleichheit und das ist uns wichtig. Wir möchten Kindern und jungen Menschen Hoffnung und Perspektive geben. Egal ob Hort, offener Ganztag oder Mittagsbetreuung – die jungen Menschen werden bei Hausaufgaben sowie Freizeit- und Kreativangeboten von qualifizierten Mitarbeitenden begleitet und individuell gefördert.
Online-Redaktion: Welche Aufgaben übernehmen Sie in Ganztagsschulen konkret?
Lukas: Grundsätzlich und rein formal definieren sich unsere Aufgaben einmal an den jeweiligen Rahmenbedingungen des Bundeslandes, in dem Ganztag stattfindet, und an den mit den Kommunen geschlossenen Kooperations- oder Leistungsverträgen. Im Detail ist es aber noch mehr. So haben wir vielerorts zusätzlich Kooperationsvereinbarungen mit den Schulen. In diesen Vereinbarungen gehen wir auf die individuellen Schulstandorte ein und definieren gemeinsam mit der Schulleitung und der Kommune die pädagogische Zielsetzung.
Aber auch Rechte, Pflichten, gemeinsame Raumnutzungen, gegenseitige Teilnahme an Konferenzen und Sitzungen werden verabredet, um nur einige Beispiele zu nennen. Konkret vor Ort begleiten wir dann die Hausaufgabenzeit oder Lernzeit, versorgen mittags die Schülerinnen und Schüler mit einer warmen Mahlzeit. In Schwerte übrigens an mehreren Standorten aus unserer eigenen DGE-zertifizierten Frischküche, auf die wir wirklich stolz sind. Im Nachmittagsbereich sorgen unsere pädagogischen Angebote für ein attraktives und förderndes Programm.
Online-Redaktion: Würden Sie Beispiele nennen?
Lukas: Beispiele sind der nachhaltige Umgang mit Ressourcen in der Upcycling- und der Garten-AG, sportliche Aktivitäten in der Bewegungs-, Tanz und Ballspiel-AG, Leseförderung in der Märchen-AG, motorische Förderung in der Schmuck-AG oder, gerade ganz hoch im Kurs, der Häkel-AG, Prävention mit der Selbstbehauptungs-AG und und und… Die Schülerinnen und Schüler dürfen natürlich wählen und eigene Vorschläge einbringen und entscheiden, welches Angebot sie besuchen möchten.
Die Teams vor Ort unterstützen die Kinder und geben Tipps. Es ist aber genauso wichtig, das richtige Verhältnis zwischen der Förderungs- und Forderungsphase und auch Ruhephasen zu finden. Diese übernommenen Aufgaben spiegeln unsere Rolle und auch unser Selbstverständnis wider: Die Interaktion zwischen den jungen Menschen und unseren Mitarbeitenden folgt in allen Bereichen einem partnerschaftlich-demokratischen Ansatz. Die Basis für gelingende Bildungsprozesse, die gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung beinhalten, sind stabile, professionelle Beziehungen der Mitarbeitenden untereinander und im Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern.
Online-Redaktion: Wie gewinnen Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Arbeit in Ganztagsschulen? Welche Qualifikation haben diese?
Lukas: Auf klassische Stellenanzeigen in Printmedien verzichten wir mittlerweile weitgehend. Wir erreichen unsere zukünftigen Mitarbeitenden über unser eigenes Karriereportal, aber auch über Social Media. Nach wie vor ist die Mund-zu-Mund-Propaganda unser stärkstes Mittel. Das setzt natürlich einen guten Leumund voraus. Mir ist deswegen besonders wichtig, dass wir unser Leitbild leben: Im Mittelpunkt unseres täglichen Handelns stehen Menschen, die unserer Unterstützung bedürfen.
Unsere Hilfe richtet sich an alle Menschen gleich welcher Religion, Nationalität oder Kultur. Sie gilt den Hilfebedürftigen auch in geistiger und seelischer Not. Unser Umgang miteinander ist geprägt von Achtung und Respekt.
Online-Redaktion: Wie sieht das konkret im Land NRW aus?
Lukas: In NRW gibt es Voraussetzungen für den Ganztag, Richtbeispiele, im Kern die Aussage, dass die Personalbesetzung mit unterschiedlichen Professionen an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler auszurichten ist. Unsere Teams bestehen aus pädagogischen Fach- und Ergänzungskräften auf der Grundlage des Fachkräftegebots.
Wir beschäftigen auch Werkstudenten, die sich im Pädagogik- oder Lehramtsstudium befinden und so während ihrer Ausbildung nicht nur Geld verdienen, sondern auch praktische Erfahrungen sammeln können. Eine absolute Win-win-Situation für uns. Obwohl Werkstudenten oft nur zwei bis drei Jahre bei uns beschäftigt sind, sind sie ein großer Zugewinn. Genau wie unsere Freiwilligen bringen sie neue Blickpunkte ins Spiel, hinterfragen Alltagsroutinen und regen uns so an, Dinge auch immer wieder neu zu evaluieren, anzupassen oder zu verstetigen.
Online-Redaktion: Auf einer Fachtagung sagten Sie bezüglich der Kooperation mit Schulen pointiert: „Wir sind im gleichen Team.“ Was ist Ihnen besonders wichtig?
Lukas: Die Kommunikation und das Handeln auf Augenhöhe. Auch wir haben zu Beginn Fehler gemacht, haben viel zu strikt getrennt zwischen Träger und Schule, haben in Schubladen und Registern gedacht, in „Mein“ und “Dein“. Diesen Ansatz haben wir verworfen. Ich war selber dann oft vor Ort in den Schulen. Habe mit Schulleitungen, Lehrkräften, dem Sekretariat, den handelnden Personen in der Stadtverwaltung und natürlich mit unseren Teams gesprochen. Nicht nur über rein Dienstliches. Ich wollte wissen: Wer sind die Personen, die mitwirken? Was ist ihnen wichtig und wie ist ihre Haltung? Wo sind Herausforderungen und wo ist Potenzial?
Es geht immer um die jungen Menschen. Mit aller Kraft. Bei jedem der mitwirkt. Ich habe Respekt vor der Arbeit der Schulleitungen und der Lehrkräfte, erkenne ihren Arbeitsbereich, ihre Kompetenzen und auch ihre Verantwortung an. Und erwarte das uns gegenüber als Träger natürlich auch. Respekt und Wertschätzung sind keine Einbahnstraßen. Das klappt wirklich gut.
Online-Redaktion: Guter Ganztag bedeute für Sie „Transparenz, Transparenz und noch einmal Transparenz“, betonten Sie während der genannten Fachtagung. Wie kann diese aussehen?
Lukas: Ich sagte auch, dass meiner befürworteten Transparenz Grenzen gesetzt sind, beispielsweise wenn es um die Ausgestaltung von Dienstverträgen mit unserem Personal geht. Generell möchte ich aber für Offenheit werben und alle Beteiligten ermutigen, Fragen zu stellen, Anmerkungen zu machen und konstruktive Kritik zu üben.
Unsere gemeinsamen Bewerberinterviews für Schlüsselpositionen wie Leitung und Stellvertretung des Ganztags sind ein gutes Beispiel. Wir führen diese gemeinsam mit der Schulleitung. Wir prüfen die sich Bewerbenden, schauen wie gut sie zum Träger, zur Schule und natürlich zu den Anforderungen passen. Wir entscheiden dann gemeinsam über die Besetzung der Stelle. Zwischen den Interviews ist Zeit und Raum für einen Austausch, der manchmal auch über das Dienstliche hinausgeht. Das tut gut und fördert das Teamgefühl. Auch die Entwicklung des institutionellen Schutzkonzeptes zähle ich als Transparenz-Beispiel dazu.
Online-Redaktion: Wie wurde es entwickelt?
Lukas: Von jedem Schulstandort kam zum Auftakttreffen unter Koordination des örtlichen Jugendamtes ein Tandem aus Lehrenden und Erziehenden. Schnell war klar: Es gibt ein Informationsgefälle und alle möchten noch einmal in der Thematik des Kindeswohls fachlich mitgenommen werden und sich austauschen. Damit wurde ganz offen umgegangen, und das war auch gut so. Wir Johanniter haben dann den Tandems einen Schulungstag unter Federführung unserer hausinternen Fachstelle Kinderschutz und dem Bereich Prävention&Fürsorgekonzept angeboten. Das wurde von allen gut angenommen. Die Tandems sind noch näher zusammengerückt und können so das Schutzkonzept in den Einrichtungen gut umsetzen, Multiplikatoren für die KollegInnen sein.
Ein vertrauensvolles Verhältnis zur Stadtverwaltung ist ein ebenso wichtiger Baustein des Gelingens. Ich begrüße dort die pragmatischen Ansätze und dass auch bei der Kommune das Wohl des Kindes an erster Stelle steht.
Online-Redaktion: Was wünschen Sie sich an Verbesserungen?
Lukas: Es gibt viele Dinge, die wir gemeinsam besser machen können. Wir sind auf einem guten Weg. Wenn wir drei große Wünsche äußern dürften, nenne ich zuerst: Haltung und Zeit. In einer Zeit von Smartphone- und Smartwatch-Tracking, Elterntaxis und straffer Zeitplanungen, allgemein des „Funktionierens“ braucht es eine Haltung, die Kindern wieder etwas zutraut und ihnen nicht Entscheidungen aufgrund des engen Zeitrahmens abnimmt. Deshalb wünschen wir uns mehr Zeit für die Arbeit mit dem einzelnen Kind. Es braucht aber auch mehr Zeit, in der Kinder selbst bestimmen, was sie beispielsweise nach dem Unterricht zuerst tun möchten. Das ist oft aufgrund der regelrechten Taktung gar nicht möglich. Noch nicht.
Der zweite Wunsch betrifft das Personal. Wir benötigen weiterhin motiviertes und gut ausgebildetes Personal. Viele Stellen können wir aktuell aufgrund des Fachkräftemangels nur schwer besetzen. Vielleicht, weil oft noch das Negativbild einer Ganztagsschule vorherrscht, das nicht dem aktuellen Ganztag entspricht. Wir sind keine Verwahrorte, wie manche befürchten, sondern attraktive Lern- und Erlebnisorte, ja Lebensorte und Orte der Begegnungen. Wir sorgen für Chancengleichheit und gestalten so die Gesellschaft mit. Eine anspruchsvolle und erfüllende Aufgabe. Dafür braucht es Menschen, die diesen Weg mit uns gehen.
Der dritte Wunsch ist eine auskömmliche Finanzierung, die den Anforderungen an einen qualitativ guten Ganztag gerecht wird.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Ganztag vor Ort - Berufsorientierung
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