Ganztagsschulverband Hessen: „... auch neue Wege gehen“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Stefanie Lange wurde 2021 zur Vorsitzenden des Ganztagsschulverbandes Hessen gewählt. Die Devise der Schulleiterin der Gersprenzschule Reinheim: Gutes bewahren und Neues wagen – zum Beispiel mit dem „Tiny Talk“ zum Ganztag.
Online-Redaktion: Sie sind seit einem Jahr neue Vorsitzende des Hessischen Ganztagsschulverbandes. Ihr Vorgänger war das 18 Jahre lang. Treten Sie in seine Fußstapfen?
Stefanie Lange: Es ist ja hinreichend bekannt, dass es nicht leicht ist, jemandem zu beerben, der einem Amt seinen Stempel aufgedrückt hat, wie es auch Guido Seelmann-Eggebert getan hat. Unser Vorstandsteam und ich versuchen, das Bewährte zu bewahren, aber auch neue Wege zu gehen und den Verband im Interesse der Mitglieder gut für die Herausforderungen dieser Zeit aufzustellen.
Online-Redaktion: Was gibt es schon Neues?
Lange: Wir möchten einen möglichst kurzen und schnellen Draht zu unseren 480 Mitgliedern „glühen“ lassen. Vielleicht geht es ein wenig weg von Kongressen, hin zu mehr kleineren Formaten. Wir haben daher den „Tiny Talk“ eingeführt, der im September bereits zum vierten Mal stattgefunden hat. Über das Online-Format haben wir ein Kennenlernen der Mitglieder organisiert. Weitere Themen waren beispielsweise die Diskussion über die Qualifikation von im Ganztag tätigen pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch die Willkommenskultur für Schülerinnen und Schüler, die aus der Ukraine fliehen mussten. Mit der Freiwilligenorganisation Volunta haben wir bereits 100 Personen, die im Ganztag der Grundschulen und der Sekundarstufe I arbeiten, geschult.
Online-Redaktion: Was werden neben Beratung, Unterstützung und Fortbildung weitere Leistungen des Landesverbandes sein?
Lange: Zunächst einmal haben wir natürlich unsere Schulen im Blick. Wir möchten dort qualitativ hochwertige Beratung anbieten, wo sie gewünscht wird, und zu den Themen, die den Schulen unter den Nägeln brennen. Der Tiny Talk bietet auf jeden Fall die Möglichkeit, schnell auf Bedürfnisse und Wünsche zu reagieren. Wir werden die gute Zusammenarbeit mit dem Hessischen Kultusministerium fortführen. Und das alles mit dem Ziel, den Ganztag in Hessen qualitativ voranzubringen. Er ist einfach eine optimale Möglichkeit der individuellen Förderung. Und der kommt angesichts der immer heterogener werdenden Gesellschaft und damit auch Schülerschaft eine zentrale Bedeutung zu.
Wenn ich von Qualität spreche, denke ich auch an den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz ab 2026. Wir benötigen meines Erachtens dringend Standards für die Ganztagsgrundschule, denen, angelehnt an die Kita-Standards, die Überlegungen zugrunde liegen: Was benötigen Kinder? Was ist guter Ganztag? Und was bietet die beste Chance für die eigene Entwicklung und das Lernen unserer Kinder? Und wir warten auf grünes Licht für den gebundenen Ganztag im Pakt für den Nachmittag.
Online-Redaktion: Sie sind Schulleiterin der Gersprenzschule in Reinheim. Waren Sie schon immer eine Verfechterin des Ganztags?
Lange: Schon unter meinem Vorgänger Manfred Schiwy hat sich die Gersprenzschule in diese Richtung bewegt. Ich erwähnte eben die Heterogenität. Die erlebt man an unserer Schule hautnah. Fast die Hälfte unserer Schülerinnen und Schüler hat einen Migrationshintergrund. Möchte ich einen Beitrag zu mehr Bildgerechtigkeit – oder vielleicht sollte ich von größeren Bildungschancen für jede Einzelne und jeden Einzelnen sprechen – leisten, brauche ich entsprechende Strukturen des Lernens.
Der Ganztag bietet diese alleine schon durch das erhebliche Maß an mehr Zeit, um die Voraussetzung für einen erfolgreichen Schulbesuch zu legen: die deutsche Sprache gut zu lernen. Im aktuellen Schuljahr bereiten wir als drei- bis vierzügige Grundschule bereits 42 Kinder im sogenannten Vorlaufkurs vor. Das heißt, Kinder, die noch ihr letztes Jahr in der Kita verbringen, lernen täglich anderthalb Stunden Deutsch. Ihre Förderung geht dann nahtlos im Ganztag der Schule weiter. Aber ich möchte auch betonen: Der Ganztag fördert Kinder auch, erfolgreich am Fachunterricht teilnehmen zu können und auch jene, die besonders gefordert werden wollen.
Online-Redaktion: Was stellt für Sie ein Qualitätsmerkmal von Ganztagsschulen dar?
Lange: Es gibt einiges, das mir wichtig erscheint. Fangen wir mit der Rhythmisierung an. Dazu zwei Punkte: Aus meiner Erfahrung lernen Mädchen häufig anders als Jungen. Mädchen fällt es morgens häufig leichter, den Jungen dafür nachmittags. Es ist natürlich eine anspruchsvolle Planung, aber wenn wir als Ganztagsschule dem gerecht werden können, wäre das optimal. Denn das stellt auch eine Form der zu Recht immer wieder gepriesenen Rhythmisierung dar. Zu ihr gehört aber auch der Wechsel zwischen kognitivem Lernen und der Bewegung.
Online-Redaktion: Sie meinen den bewegungsfördernden Unterricht …
Lange: Ja, es gibt ja bereits viele erfolgreich umgesetzte Konzepte dazu, wie man auch in den Fachunterricht Bewegung integrieren kann, natürlich immer orientiert an den Jahrgangsstufen. Bewegung ist in den Pausen, aber auch in einem anders gestalteten Unterricht möglich. Nebenbei: Wenn in den Schulen im Zuge von Corona mehr gelüftet oder in der Energiekrise auch mal die Temperatur auf 20 Grad heruntergeregelt wird, sollten sich die Schülerinnen und Schüler allein schon deshalb mehr bewegen.
Insgesamt wünsche ich mir von den Lehrkräften noch mehr Mut, andere Wege des Unterrichts zu gehen. Wir sollten nicht nur an dem festhalten, „wie wir es schon immer gemacht haben“. Es gibt ja zahlreiche Beispiele von Schulen und Kollegien, die neue Ideen umsetzen, Ängste über Bord werfen, Dinge ausprobieren und gegebenenfalls auch korrigieren. Das alles bedarf Zeit und Mut.
Online-Redaktion: Stichwort Mut. Die Vorzüge multiprofessioneller Teams sind bekannt. Sie erfordern aber auch Mut, nämlich sich zu öffnen, eine andere Perspektive zu akzeptieren. Sind Lehrkräfte dafür immer offen?
Lange: Zu behaupten, alle seien es und immer, wäre wohl vermessen. Aber die Offenheit steigt, ich würde sagen, täglich. Wir haben uns beispielsweise angeschaut, was wir von der Kita lernen und übernehmen können. Entscheidend scheint uns diese klare Beziehung zwischen Erzieherinnen und Erziehern auf der einen und Kindern auf der anderen Seite. Und so haben wir jeweils eine pädagogische Mitarbeiterin oder einen pädagogischen Mitarbeiter aus unserem Ganztagsteam an eine jeweilige Klasse im Unterricht gekoppelt, quasi als „Bezugserzieherin“ oder „Bezugserzieher“.
Das fördert die Vertrautheit und führt dazu, dass wir geplante Stunden mit zwei Erwachsenen im Unterricht haben. Das können dementsprechend Stunden zur Förderung und zur Themeneinführung oder zur Vertiefung sein. Die Stunden können auch zur intensiven Kommunikation in halben Klassen genutzt werden. Oder Lernzeiten mit den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern können im Vormittag liegen und Unterricht mit den Lehrkräften im Nachmittag. Solche Schritte in der Schulentwicklung brauchen allerdings Zeit und ebenfalls die große Bereitschaft, sich ständig zu evaluieren.
Online-Redaktion: Wovon träumen Sie, wenn Sie an den Ganztag in einigen Jahren denken?
Lange: Vor meinen Augen sehe ich Räume, die von Schule und Ganztag genutzt werden, Räume, in denen Kinder sitzen, liegen oder stehen, wenn sie arbeiten. Ich sehe Ganztagsschulen mit guten, animierenden Außengeländen und Möglichkeiten. Aber ich träume auch von einer guten Verknüpfung von Ganztag und Inklusion, von einer Schule, die niemanden ausschließt, egal wie speziell sie oder er auch sein mag. Ich träume von Schulgemeinschaften, die die Unterschiede annehmen, sie schätzen und Verständnis für andere entwickeln. Ich träume von Ganztagsschulen als eine große Gemeinschaft in der alle freudig sagen: Und ich gehöre dazu.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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