Leipzig 2022: „Zukunft Ganztag“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Mehr als 430 Teilnehmende konnte der Ganztagsschulverband bei seinem Bundeskongress in Leipzig begrüßen. Zahlreiche Ideenschmieden und Schulbesuche vor Ort ermöglichten den regen persönlichen Gedankenaustausch.
Wenn Beate Peters mit der Klangschale durchs Kongresszentrum läuft und das Ende der Pause einläutet, „hören“ alle auf sie und strömen in die Tagungsräume. So geschehen auch beim diesjährigen Bundeskongress des Ganztagsschulverbandes „Zukunft Ganztag“, der vom 9. bis 11. November in Leipzig stattfand. Die Geschäftsführerin des Verbandes stellt ebenso wie die Vorsitzende Eva Reiter und Vorstandsmitglied Rolf Richter eine Instanz im Verband dar. Beate Peters ist seit 40 Jahren, Rolf Richter seit 30 Jahren dabei. Sie sind, wie es eine Teilnehmerin nun in Leipzig formulierte, „die guten Seelen“ des Kongresses. Immer offen für ein Wort, für Wünsche, Bitten und Neuerungen.
Das erfuhr auch Christoph Bülau, Co-Vorsitzender des Ganztagsschulverbandes Sachsen, der in diesem Jahr den Kongress auf die Beine stellte und gemeinsam mit Dr. Anna-Maria Seemann den stellvertretenden Vorsitz des Bundesverbandes innehat. Bülau und sein Orgateam hatten die Idee entwickelt, per App durch den Kongress zu führen. Und auch dieser hilfreichen Modernisierung verschlossen sich Vorstand und Geschäftsführerin nicht.
Eine Lobby für die Ganztagsschule
Die drei an der Spitze des Verbandes Stehenden sind sich in vielen Punkten einig. Dr. Anna-Maria Seemann formulierte es so: „Im Ganztag ist so viel Dynamik, da bereitet es Freude, eine gute Lobby für die Ganztagsschule darzustellen“. Die Vorsitzende Eva Reiter ergänzte mit Blick auf einen Kongress mit mehr als 430 Teilnehmenden, der annähernd 40 Ideenschmieden mit Workshops und Vorträgen, zahlreiche Schulbesuche und vor allem viel persönlichen Austausch bot: „Jeden treibt etwas anderes um. Und immer geht es um Qualität. Dafür ist ein langer Atem nötig. Wir freuen uns, wenn unsere Gäste eine Idee, einen Gedanken oder einen Impuls mit nach Hause nehmen.“
Für Christoph Bülau steht zudem fest: „Bildung benötigt viele Stimmen. Der Ganztagsschulverband ist eine davon.“ Der Tatsache, dass die Qualitätsentwicklung die an Ganztagsschulen Tätigen in besonderem Maße umtreibt, trug der Titel des Kongresses Rechnung: „Zukunft Ganztag: Weiterdenken – Weiterentwickeln – Weitergehen“. Vor welchen Aufgaben sie dabei stehen, formulierte der Bildungsexperte Prof. Dr. Michael Schratz, Universitätsprofessor im Ruhestand des Instituts für LehrerInnenbildung und Schulforschung an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, in seinem Vortrag so:
„Die Sicherheit des Richtig/Falsch-Modus im Unterricht ist verloren gegangen, das Curriculum des Alltags hat die Lehrplanvorgaben von gestern bereits überholt. Welches Wissen ist für ein unbekanntes Morgen relevant?“ Die Lehrkräfte hätten kein Vermittlungsmonopol mehr, und Bildung bedürfe – auch vor dem Hintergrund gegenwärtiger Krisen – einer Neuinterpretation: „Verantwortung, gesellschaftliches Wohlbefinden und Fürsorge für eine gemeinsame Zukunft sind Parameter dazu.“ Er betonte: „Im Halbtag geht es nur um Lernfragen, der Ganztag dient den Lebensfragen.“ Ein Blick in einige der spannenden Ideenschmieden bestätigte das.
Digitaler Wandel in der Kinder- und Jugendarbeit
So auch beim Thema „Digitaler Wandel und Ganztagspädagogik“. Judith Kunze und Verena Hilbert von der Stiftung Katholische Freie Schule der Diözese Rottenburg-Stuttgart begrüßten 25 Interessierte. Die Stiftung ist unter anderem Träger von 16 allgemeinbildenden Ganztagsschulen. Die Referentinnen ernteten Zustimmung zu ihrem Hinweis, dass sich das Thema „Digitaler Wandel“ stark auf Unterricht und Schulverwaltung konzentriere. Sie sind überzeugt: „Wir müssen auch Aspekte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie der Sozialpädagogik in den Blick nehmen.“
Wichtig erscheint ihnen, „Sprach- und Erfahrungsräume“ zu schaffen, die die Mitarbeitenden im Ganztag dazu befähigen, die Lebensweltorientierung der Angebote für die Schülerinnen und Schüler zu stärken. Judith Kunze: „Viele dort Tätige, insbesondere auch Quereinsteigerinnen und ‑einsteiger sind beispielsweise noch nicht vorbereitet, medienpädagogisch zu arbeiten.“ Darum bedürfe es entsprechender Fortbildungsangebote und der Bereitschaft der Ganztagsträger, den Mitarbeitenden die Teilnahme daran zu ermöglichen. Denn, so waren sich die Zuhörenden einig, es ist auch ein Zeichen von Qualität, den „digitalen Wandel im Ganztag jenseits des Unterrichts zu stärken“. Vorausgesetzt, die digitale Infrastruktur sei gesichert.
Wer sich vernetzt, profitiert
Auf einen anderen, nicht minder wichtigen Aspekt wies Sandra Halmer von QUA-LIS NRW (Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule) in Soest hin. „Wer sich vernetzt, profitiert“, könnte man ihre Erkenntnisse der vergangenen Jahre zusammenfassen. Halmer ist im Landesinstitut für den Ganztag zuständig und versicherte: „Trotz der hohen zeitlichen Investition, trotz der möglicherweise zu überwindenden Hürden profitieren Ganztagsschulen von Kooperationen, vom Austausch, von der Vernetzung in der Region. Auch dadurch können sie Alleinstellungsmerkmale entwickeln.“
Mehr als 100 Projektschulen sind im Land Nordrhein-Westfalen seit 2016 im Projekt „Leben und Lernen im Ganztag“, kurz: LiGa NRW, erfolgreich vernetzt. Als größten Fortschritt der vergangenen Jahre bezeichnete die Referentin es, „dass Schulleitungsteams und Obere Schulaufsicht inzwischen intensiv zusammenarbeiten und neue Strukturen schaffen.“
Grenzen aufbrechen: Ganztag in Limbach-Oberfrohna
„Durch Vielfalt ans Ziel“ lautete der Titel des Workshops, den Sabine Dankworth, die Ganztagsbeauftragte der Schule am Stadtpark in Limbach-Oberfrohna anbot. Sie machte deutlich, wie sich die von 59 Schülerinnen und Schülern besuchte Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung bei der Zusammensetzung ihrer Ganztagsangebote an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler orientiert. Das Programm untergliedert sich in „Leistungsdifferenzierte unterrichtsergänzende Lernangebote“ und „Freizeitpädagogische Angebote“. Die Überschrift über dem Ganztagsangebot lautet: „Jeder kann was“.
Als Beispiel nannte Sabine Dankworth die Sport-AGs. Aus der breiten Palette, reichend vom Besuch eines Fitnessstudios, über Rollisport, Floor- und Fußball wählen die 7- bis 18-jährigen Schülerinnen und Schüler, was ihnen zusagt, probieren es zwei Wochen lang aus und legen sich dann verbindlich für eine AG fest. Durchaus speziell ist das Angebot mit dem schönen Namen „AGs Jungs- und Mädchenkram“.
Welche Inhalte dort aufgegriffen werden, entscheiden die Kinder und Jugendlichen – je nach Bedürfnis.
Dankworth betonte: „Inklusion beginnt bei uns im Kleinen, wir öffnen uns nach innen und außen.“ Was im Alltag bedeutet: Präsentation eigener Zeichnungen in Glauchau, der Besuch der Rock-AG im Seniorenheim an Weihnachten. Die Referentin bedauert, „immer noch darauf hinweisen zu müssen, dass Menschen mit Beeinträchtigung vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft sind.“ Nach wie vor würde für manche Eltern eine Welt zusammenbrechen, wenn ihrem Kind der Besuch einer Förderschule empfohlen werde. Die Schule am Stadtpark ist überzeugt, dass sie mit ihrer Wertschätzung und der Kooperation mit anderen Schulen ihre Schülerinnen und Schüler bestmöglich fördern kann.
Einig war sich die Referentin mit den Teilnehmenden, dass ein intensiver Austausch und eine noch stärkere schulformübergreifende Vernetzung wünschenswert seien. Dankworth: „Das gilt auch für die Lehrerausbildung. Es sollten Grenzen aufgebrochen werden, damit sich auch mehr Menschen für die Arbeit an einer Ganztagsförderschule begeistern können.“
Zustimmung zur Inklusion, aber…
Spannendes wusste auch Dr. Fabienne Bartsch von der Deutschen Sporthochschule Köln zu berichten. Sie präsentierte erste Ergebnisse einer neuen Studie zur Umsetzung von Inklusion und Integration in den Sport- und Bewegungsangeboten des Offenen Ganztags an Grundschulen in Nordrhein-Westfalen. Dazu wurden in Kooperation mit der Bergischen Universität Wuppertal 89 Leitungen Offener Ganztagsschulen in Köln, Wuppertal, Remscheid und Solingen befragt. Bartsch nannte das zentrale Ergebnis: „Der Inklusionsgedanke findet Zustimmung, seine Umsetzung wird noch nicht konsequent verfolgt.“
Durch die Auswertung der Antworten wurde festgestellt, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sportangeboten des Ganztags unterrepräsentiert sind. Dabei wurde der Inklusionsbegriff weit gefasst: Er schloss Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung ebenso ein wie Kinder unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher sozialer Herkunft. Ein Fazit der Ideenschmiede lautete: Es bedarf entsprechender Fortbildung für die Fachkräfte, um alle Kinder und Jugendlichen optimal zu fördern. 87 Prozent der Befragten in der Studie plädierten auch dafür.
Die Qual der Wahl: Schulbesuche
Die Qual der Wahl hatten die Kongress-Teilnehmenden am zweiten Kongresstag bei der Frage, welche der über 20 Leipziger Schulen, die anlässlich des Kongresses ihre Türen öffneten, sie besuchen sollten. Rund zwei Dutzend entschieden sich für das Anton-Philipp-Reclam-Gymnasium Leipzig. Sie konnten jenen, die andere Ganztagsschulen gewählt hatten, in der „Pädagogischen Nacht“ viel berichten. Etwa, dass dieses Gymnasium den Titel „Schule der Vielfalt“ nicht nur trägt, sondern lebt, was sich unter anderem in einer Transgender-AG widerspiegelt.
Auch hier reden die mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler ein gewichtiges Wort bei der Festlegung der Arbeitsgemeinschaften mit. Die dienen, so verriet Schulleiterin Petra Seipel, in besonderem Maße der individuellen Förderung. Sie machte deutlich, dass die Entwicklung des 2005 eingeführten Ganztags noch lange nicht am Ende angekommen sei. „Die individuelle Förderung soll noch weiter ausgedehnt werden. Und wir wollen zeitlichen Raum für die Kooperation innerhalb des Kollegiums schaffen und das nicht erst nach 16 Uhr“, kündigte sie an.
Womit sich der Kreis zum Thema des diesjährigen Kongresses wieder schließt: Weiterdenken – Weiterentwickeln – Weitergehen. Was den Veranstaltern dieser drei Tage in Leipzig rundherum gelang. Ute Harrje von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Mecklenburg-Vorpommern hatte die Ideenschmiede „Spielen“ besucht und wertvolle Anregungen („ein guter Weg, miteinander in Aktion zu treten – auch für Kollegien und höhere Jahrgänge“) mitgenommen. Angetan vom Workshop, aber eben auch vom Programm und der Stimmung des Kongresses strahlte sie: „Man spürt das Herzblut der Teilnehmenden.“
Kategorien: Kooperationen - Kulturelle Bildung
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