Ganztagsbildung in der Schweiz: "Alles noch Pioniere" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Auch in der Schweiz steigt die Nachfrage nach ganztägiger Bildung. Dr. Christine Flitner, Präsidentin des Verbandes Bildung + Betreuung, im Interview.
Online-Redaktion: Frau Dr. Flitner, sind Tagesschulen in der Schweiz das, was wir in Deutschland unter Ganztagsschulen verstehen?
Christine Flitner: In der Schweiz sind sehr viele verschiedene Begriffe im Umlauf, die in jedem Kanton auch wieder etwas Anderes bedeuten können. Unser Verband Bildung + Betreuung benutzt den Begriff Tagesschule im Prinzip synonym für Einrichtungen, die in Deutschland als Ganztagsschulen bezeichnet werden. Dabei gibt es hierzulande kaum gebundene Ganztagsschulen, sondern meistens sogenannte modulare Systeme: Ergänzend zum Schulunterricht kommen vorunterrichtliche Betreuung, Mittagsbetreuung oder nachmittägliche Angebote hinzu. Unser Verband hält das für Flickwerk und befürwortet grundsätzlich die Einführung der gebundenen Form. Aber man kann auch Mentalitäten nicht ignorieren. Der Schritt zur gebundenen Form ist sehr schwierig und braucht Zeit. Lehrpersonen müssten mit dem Betreuungspersonal zusammenarbeiten, und auch die Eltern müssen bereit sein. Manche Schulen sind da aber schon dran und überlegen, wie das funktionieren könnte.
Online-Redaktion: Wie ist die Entwicklung in der Schweiz in den letzten Jahren im Tagesschulbereich insgesamt? Gibt es Impulse aus der Bundespolitik, oder ist die Entwicklung von Kanton zu Kanton unterschiedlich?
Flitner: In den vergangenen Jahren hat eine starke Entwicklung stattgefunden. Es ist im öffentlichen Bewusstsein angekommen, dass die Familien ganztägige Bildung und Betreuung benötigen und diese einfordern, insbesondere in den Städten. In Bern, Basel, Zürich und in der Romandie baut man das Angebot stark aus. In den ländlichen Kantonen geschieht dagegen noch viel zu wenig, da gibt es an manchen Orten gerade mal privat organisierte Mittagstische.
Auf Bundesebene hat sich lange nichts getan. Dazu muss man wissen, dass es in der Schweiz kein Bildungsministerium gibt, das für die obligatorische Schule zuständig wäre. Die Verantwortung liegt komplett auf Ebene der Kantone, und die Betreuung ist oft sogar Sache der Gemeinden. Die Frage der familienexternen Kinderbetreuung ist auf Bundesebene im Sozialdepartement angesiedelt, beim Bundesamt für Sozialversicherungen. Man versteht sie also immer noch für „Familien, die das nicht anders organisiert bekommen“ oder die „armen alleinstehenden Mütter, die das nicht hinkriegen“. Wobei man auf Bundesebene inzwischen wenigstens über finanzielle Aspekte diskutiert, denn es hat sich gezeigt, dass es sich wegen der hohen Betreuungsbeiträge für Mütter kaum lohnt, arbeiten zu gehen. Aber die Förderung auf Bundesebene ist immer noch lächerlich gering; von einem Ganztags-Bundesprogramm wie in Deutschland sind wir weit entfernt.
Online-Redaktion: Befürwortet die Bevölkerung hier ein Umdenken?
Flitner: Da gibt es den starken Stadt-Land-Unterschied und auch ein bisschen den Unterschied zwischen der Romandie und der Deutschschweiz. In der lateinischen Schweiz hat die Kinderbetreuung eine längere Tradition und wird von den Kantonen auch stärker angeboten. In Genf gibt es für alle Kinder Mittagstische, in Lausanne ist das Angebot ebenfalls sehr ausgebaut. Aber auch in den großen Städten der Deutschschweiz zeigt sich, dass die Nachfrage sehr hoch ist – die Kommunen werden überrannt und können gar nicht so schnell ausbauen, wie die Angebote kommen.
Online-Redaktion: Ihr Verband will den „Ausbau und die qualitative Weiterentwicklung der Ganztagsbildung und -betreuung fördern“. Welche Mittel stehen Ihnen da zur Verfügung?
Flitner: Ein wichtiges Mittel ist die Vernetzung. In unserem Vorstand sind verschiedene Bereiche vertreten - Fachleute, die Wissenschaft, die Verwaltung, Pädagogische Hochschulen, Leute aus der Praxis. So versuchen wir, die fachliche Diskussion voranzubringen, und bringen uns natürlich auch in die Diskussion über Gesetzesvorhaben ein. Wir haben einen Qualitätsrahmen ausgearbeitet, der Mindestbedingungen für die schulergänzende Betreuung formuliert. In verschiedenen Regionen bieten unsere Unterverbände regelmäßig Vernetzungstreffen für diejenigen an, die in dem Bereich arbeiten. Es sind ja noch alles irgendwie Pioniere, die einen großen Bedarf an Austausch haben und gerne in anderen Schulen und Einrichtungen schauen wollen, wie es dort aussieht. Dort diskutiert man über ganz praktische Fragen zum Beispiel über das Mittagessen, über schwierige Kinder oder über Hausaufgaben.
Dann organisieren wir deutsch-schweizerische Tagungen. Am 4. März 2016 findet die nächste statt, zu der wir Prof. Bernd Rudow eingeladen haben, der in Berlin die Studie zur Arbeitszufriedenheit von Erzieherinnen durchgeführt hat. Unsere Tagungen sind sehr nachgefragt und schnell ausgebucht, was ebenfalls anzeigt, dass die Leute ein hohes Bedürfnis nach Austausch und Fortbildung haben, was noch zu wenig bedient wird.
Online-Redaktion: Welche wesentlichen Mindeststandards enthält Ihr Qualitätsrahmen?
Flitner: Wir sind relativ pragmatisch und formulieren: Qualität misst sich erstens daran, dass es ein Konzept gibt, zweitens am Betreuungsschlüssel und drittens am Ausbildungsstand des Personals. Es gibt Evaluationen, die zeigen, dass die Hälfte der Beschäftigten in der schulergänzenden Betreuung über keine Ausbildung verfügen. Das ist sehr problematisch.
Die Mittagszeit ist zum Beispiel eine hoch diffizile Zeit, die man nicht einfach einer Mutter überlassen kann. Hier braucht es gut ausgebildetes Personal, das auf Augenhöhe mit den Lehrerinnen und Lehrern arbeiten sollte. Der Trend in der Schweiz, das zeigt der Kita-Bereich, geht derzeit aber leider in die entgegengesetzte Richtung: Es gibt großen Druck aus der Politik, die Ausbildungsstandards zu senken. Ein weiteres großes Problem, das wir im Qualitätsrahmen ansprechen, sind die fehlenden Räumlichkeiten. Es gibt immer noch Gemeinden, die neue Schulen bauen, ohne einen Gedanken an die Tagesbetreuung zu verschwenden. Da stehen mir die Haare zu Berge.
Online-Redaktion: Nimmt man in der Schweiz die Entwicklung der Ganztagsschulen in Deutschland wahr?
Flitner: Die Schweiz ist grundsätzlich sehr mit sich selbst beschäftigt. Unser Verein versucht, den Blick zu weiten. Dazu nutzen wir zum Beispiel auch unseren viermal jährlich erscheinenden Newsletter und schauen für Informationen und Termine hierbei auch auf Ihre Website und in Ihren Newsletter. Bei Forschung im Bereich Ganztagsschule und der Kooperation mit außerschulischen Partnern ist uns Deutschland voraus. Wie breit das hierzulande zur Kenntnis genommen wird, kann ich nicht sagen.
Online-Redaktion: An der Universität Bern gibt es immerhin die EduCare-Studie zur Qualität und Wirksamkeit ganztägiger Bildung. Welche Resonanz findet die Studie?
Flitner: Man sollte nicht erwarten, dass sich eine solche Studie unmittelbar auf die Politik auswirkt. Ich finde es dennoch wichtig, dass Forschung betrieben wird, weil sie auch das Gewicht eines Bereiches dokumentiert und die Erkenntnisse hoffentlich mittelfristig auch Wirkung zeigen Vor einigen Wochen fand eine sehr interessante Tagung in der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften statt. Dort diskutierten Wissenschaft, Verwaltung und Praxis, und man hat gemerkt, wie sehr das Thema den Beteiligten unter den Nägeln brennt und wieviel Fachwissen es auch schon gibt.
Nur die Vertreter des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes und des Schulleiterverbandes zeigten mit ihren Beiträgen bedauerlicherweise, dass die aktuellen Entwicklungen noch gar nicht bei ihnen angekommen sind. Da herrscht noch ein Schulbegriff aus dem 19. Jahrhundert vor, und der dringend nötige Schulentwicklungsprozess wird von diesen Verbänden leider noch gar nicht angedacht.
Online-Redaktion: Welchen Schritt würden Sie von Bundesseite begrüßen?
Flitner: Es braucht eine Art nationales Kompetenzzentrum, das die Vernetzung und die Diskussion vorantreibt und auch die nationale und internationale Forschung aufarbeitet und zur Kenntnis nimmt. Einige Kantone wie zum Beispiel Basel-Stadt leisten Pionierarbeit und erarbeiten nützliche Unterlagen. Aber das wird überregional zu wenig bekannt, und dann fangen sie beispielsweise in Bern wieder ganz von vorne an. Da braucht es mehr Koordination und Austausch. Unser Verband würde dies jetzt schon gerne leisten, aber dazu fehlen uns leider die Mittel.
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