Ganztagsbildung für die Demokratie: „Gebot der Stunde“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Hans Berkessel, Vorsitzender des Landesverbandes Rheinland-Pfalz der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik, war Lehrer für Geschichte, Sozialkunde und Gesellschaftslehre an einer Ganztagsschule. Im Interview spricht er über aktuelle Herausforderungen.
Online-Redaktion: Herr Berkessel, der Ganztagsschulverband hat gerade seinen Bundeskongress unter die Überschrift „Demokratie in der Ganztagsschule“ gestellt. Wie wichtig ist das Thema?
Hans Berkessel: Ich würde das gerne aus persönlicher Sicht beantworten. Ich bin seit 30 Jahren als historisch-politischer Bildner auf allen möglichen Ebenen in der Fach- und Schulberatung unterwegs. Wenn ich die Summe dieser Erfahrungen zusammennehme, dann hat sich das gesellschaftliche Klima verändert. Als Historiker würde ich sagen: Was die Stimmungslage – nicht die sozio-ökonomische Situation – betrifft, denkt man schon ein bisschen an die Zeit der Weimarer Republik. Was früher in der Kommunikation an einigen um sich selbst kreisenden Stammtischen geäußert wurde, ist durch die neuen Medien in eine Dimension gekommen, die unfassbar ist. Und wenn dort verlautet, dass „die Grenzen des Sagbaren erweitert“ werden sollen, dann muss ich sagen, dass dieses Ziel inzwischen erreicht worden ist. Die Grenzen des eigentlich Unsagbaren sind erweitert worden, und das greift teilweise bis in die Familien.
Online-Redaktion: Was kann Ihr Landesverband der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik tun?
Berkessel: Unsere Zielgruppe sind die jungen Leute, und man kann gar nicht früh genug anfangen, da etwas entgegenzusetzen, und zwar aus zwei Gründen: Einmal, weil die Schülerinnen und Schüler oft noch nicht die Erfahrungen, das Wissen oder auch die Kompetenzen besitzen, mit Populismus, Hassparolen, politischen Legenden und Lügen umzugehen. Zum anderen, weil nach einer so langen Zeit einer friedlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg die Demokratie so selbstverständlich geworden ist, dass es dafür nicht immer genügend Wertschätzung gibt. Es wird Ihnen niemand sagen, dass er gegen Demokratie ist. Aber dass Demokratie etwas ist, das man nicht nur aus der Zuschauerperspektive betrachten kann, sondern dass man da gefordert ist, sich selbst einzubringen, ist zu vielen nicht bewusst. Man darf sich nicht wegdrehen, wenn Hassparolen gebrüllt werden, sondern muss sich überlegen, wie man sich mit seinen Möglichkeiten im Alltag, in der Ausbildung, im Beruf, in der Freizeit und in der Schule aktiv einbringen kann. Das ist das Gebot der Stunde, und da sind die Pädagoginnen und Pädagogen gefordert, in der Schule und außerhalb der Schule daran mitzuwirken.
Online-Redaktion: 2019 feiern wir 100 Jahre Weimarer Verfassung, 70 Jahre Grundgesetz und 30 Jahre friedliche Revolution, was zusätzlich daran erinnert, dass Demokratie von Demokraten erkämpft und bewahrt werden muss.
Berkessel: Wenn man als Historiker zurückblickt, wie kurz die Zeit her ist, seitdem wir zwei Weltkriege erlebt haben, dann wird die Werteorientierung sichtbar, die heute Grundlage sein sollte. Das ist einer der Gründe, warum die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik den Demokratietag geschaffen hat. Das ist ein Zusammentreffen all derer, die engagiert in Sachen Demokratielernen und -erleben unterwegs sind. Das hat mich persönlich immer wieder neu motiviert, wenn ich sah, wie viele junge Menschen beispielsweise von Pulse of Europe, die sich für ein demokratisches Europa einsetzen, sich engagieren oder wie Schulen wie die UNESCO-Schulen globale Entwicklungspartnerschaften knüpfen und unterhalten. Ich könnte noch viele weitere Beispiele nennen. Es gibt viel mehr engagierte Leute, als man denkt, und es sind so viele, dass das Gerede von einer völkisch-nationalistischen Mehrheit oder die groteske Vereinnahmung des Freiheitsmottos der DDR-Bürgerbewegung „Wir sind das Volk!“ sich als absurd erweisen.
Online-Redaktion: Wie können Schulen zur Demokratie erziehen?
Berkessel: Die Schulen haben die Verantwortung, Bedingungen herzustellen, dass solch ein Engagement erleichtert, anerkannt und gefördert wird. Das ist noch nicht bei allen Schulleitungen angekommen. Zwei Hauptziele des bundesweiten Programms „Demokratie lernen und leben“ seit 2002 sind nach wie vor wichtig und zentral: Erstens eine demokratische Schulkultur in den schulischen Gremien und in der schulischen Atmosphäre zu schaffen, was viel mit der Partizipation der Schülerinnen und Schüler und dem Umgang miteinander zu tun hat.
Gleichzeitig reicht es nicht, Demokratiebildung auf eine Wochenstunde Sozialkundeunterricht zu beschränken. Diese verkürzte Sichtweise nervt mich fürchterlich. Was soll denn eine Stunde ab der 9. Klasse letztlich bewirken? Den Schülerinnen und Schülern allein die Funktionsweise unseres parlamentarischen Systems zu erklären, wird sie nicht motivieren, sich zu engagieren. Das wäre die zweite zentrale Kategorie: Es braucht viel mehr, es braucht demokratische Handlungskompetenz.
In jedem Unterricht muss das eine Rolle spielen. Das Projektlernen muss erweitert werden. Freiräume, wie sie die Ganztagsschule bietet, müssen für die Demokratiebildung genutzt werden. Wenn die Schülerinnen und Schüler in einer Ganztagsschule den größten Teil ihrer Zeit in der Schule verbringen, kann Schule das nicht in die Freizeit abschieben, sondern das gehört in die Schulen hinein, ins Zentrum. Das steht auch in jeder Schulordnung und jedem Schulgesetz so drin, ist aber, wie gesagt, nicht in allen Schulen angekommen.
Jeder Beamte, der seinen Diensteid geschworen hat, ist verpflichtet, sich für diese Demokratie einzusetzen. Trotzdem gibt es leider Lehrkräfte und Schulleitungen, für die alles, was über Fachunterricht hinausgeht – vom Projektlernen angefangen bis dahin, andere Lernorte aufzusuchen –, noch immer als Verlust für den Fachunterricht und im schlimmsten Fall nur als Unterrichtausfall wahrgenommen wird. Wenn sich dieses Bewusstsein nicht grundlegend ändert, dass Unterricht stärker als Lernprozess verstanden wird, werden wir Schule auch nicht ändern. Und dann könnte es irgendwann zu spät sein, Schülerinnen und Schüler für die bestmögliche Form des Zusammenlebens, die wir in Deutschland jemals hatten, zu gewinnen.
Online-Redaktion: Die Kultusministerkonferenz hat kürzlich Empfehlungen zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung in der Schule herausgegeben. Wie schätzen Sie dies ein?
Berkessel: Das Bewusstsein, dass es wichtig ist, sich proaktiv für Demokratie und für die Verwirklichung der Kinder- und Menschenrechte einzusetzen, ist gewachsen, auch in der Politik. Die KMK-Empfehlung ist ein Beleg für diese Fortschritte. Sie gehört zu einer Reihe weiterer Initiativen, wie etwa die zur Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz, von der ich hoffe, dass es nach vielen Jahren damit jetzt endlich was wird. Gerade für Ganztagsschulen, die sich ja nach außen öffnen sollen, können Netzwerke, die über den engeren Bereich von schulischer Bildung hinausgehen, Signalwirkung haben.
Gut ein Drittel der Aussteller und Angebote auf unserem letzten Demokratietag Rheinland-Pfalz kamen aus dem außerschulischen Bereich. Es muss einen viel größeren Austausch zwischen den Schulen und den Kommunen geben. Es gibt tausend Möglichkeiten, die Türen der Kommunalpolitik stehen offen. Es wird aber noch viel zu wenig genutzt, um mal zu sehen, wie eine Gemeinde organisiert wird, warum Schulen saniert werden oder eben nicht. Was sind die Gründe dafür? Wo kann man sich engagieren? Wie kann man sich für die eigene Schule oder Jugendfreizeitstätte engagieren? Das sind die Fragen, um die es im positiven Sinne geht. Da ist noch ein Feld, wo ganz viel Luft nach oben ist.
Online-Redaktion: Sie waren zuletzt Lehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde/Gesellschaftslehre an der UNESCO-Projektschule IGS „Kurt Schumacher“ Ingelheim. Wie ist Demokratiebildung an dieser Ganztagsschule praktiziert worden?
Berkessel: An der IGS Ingelheim lernen die Schülerinnen und Schüler im Team-Kleingruppen-Modell. Das ermöglicht, dass Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und Lerngeschwindigkeiten sich gegenseitig unterstützen. Es gibt an der Schule schon lange eine Anti-Gewalt-Arbeitsgemeinschaft, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man am besten respektvoll und wertschätzend zusammenlebt. Dort wird ein Training zur Gewaltschlichtung angeboten und Gewaltprävention gelernt. Die Schülerinnen und Schüler haben sich auch gegen extremistische Tendenzen eingesetzt und Erinnerungsarbeit im Sinne historischen Lernens geleistet.
Die IGS Ingelheim gehört zu den bundesweit rund 180 UNESCO-Projektschulen. Die Aufnahme in diesen Kreis erfordert eine aufwendige Vorarbeit und bedeutet, dass man sich mehreren Zielen verpflichtet und diese aktiv umsetzt. Dazu gehört zum Beispiel, Demokratie und Partizipation in der Schule zu fördern und eine Bildung für nachhaltige Entwicklung zu verankern. Schulpartnerschaften gehören dazu, bei uns war das zum Beispiel neben anderen eine Partnerschaft mit Ruanda. Auch ein kompetenter Umgang mit Neuen Medien und ein verstärktes Miteinander in künstlerisch-musischen Projekten sind da gefragt.
Online-Redaktion: Sie befinden sich im Unruhestand. Wie engagieren Sie sich zukünftig?
Berkessel: Wo mein Rat in der Politik gefragt ist, gebe ich ihn weiterhin gerne. Aber ich werde mich hauptsächlich der Zielgruppe der Schulleitungen zuwenden. Die Schulleitung ist das Nadelöhr, durch das alles muss, was Schulen verändern oder reformieren möchte. In diese Richtung muss viel mehr gearbeitet werden. Demnächst habe ich ein Gespräch mit unserer Bildungsministerin. Gern würde ich anregen, dass das Thema „Demokratie in der Schule“ zu einem zentralen Thema der nächsten Schulleiterdienstbesprechungen wird. Das möchte ich mit Materialien und einem Vortrag unterstützen.
In jeder unserer Schulen gibt es höchst engagierte Leute, aber was realisiert wird, steht und fällt mit der Unterstützung durch die Schulleitungen. Die müssen das nicht alles selber machen, sondern sie müssen den Kolleginnen und Kollegen den Rücken stärken, Freiräume für sie schaffen und ihnen signalisieren, dass das Engagement wertgeschätzt wird.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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