Bundesverdienstkreuz für „Mr. Ganztagsschule“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
„Mr. Ganztagsschule“ nannte ihn eine Tageszeitung. Jetzt wurde Dr. Guido Seelmann-Eggebert für sein Engagement für den Ganztag das Bundesverdienstkreuz verliehen. Er zieht eine Bilanz der vergangenen Jahrzehnte.
Online-Redaktion: Der Ehrenname „Mr. Ganztagsschule“ kommt nicht von ungefähr: Sie haben sich um die Ganztagsschule in Deutschland verdient gemacht, als Lehrer, Schulleiter und Landesvorsitzender des Ganztagsschulverbandes in Hessen, zuletzt auch als Bildungsforscher. Was hat Sie motiviert?
Dr. Guido Seelmann-Eggebert: Als Student mit Lehrauftrag an der Friedrich-Ebert-Schule in Frankfurt am Main konnte ich frühzeitig Anfang der 1970er Jahre positive Erfahrungen mit dem Ganztag sammeln. Das war die erste Ganztagsschule nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie war seit 1956 im Modellversuch eine sogenannte Tagesheimschule, ein Begriff, der heute weitgehend verschwunden ist. Es gab damals nur wenige Ganztagsschulen und durchaus auch heftige Widerstände. Das erlebte ich noch, als ich in den 1980er Jahren an die Hermann-Ehlers-Schule in Wiesbaden versetzt wurde. Der Ruf der Schule war, sagen wir einmal, ausbaufähig. Es musste sich etwas verändern. Nachdem es uns gelungen war, die Eltern von unserem Konzept zu überzeugen, konnten wir tatsächlich die erste Wiesbadener Ganztagsschule ins Leben rufen. Sie wurde kurz darauf auch Integrierte Gesamtschule.
Im Ganztagsschulverband engagierte und engagiere ich mich, um für die Idee des Ganztags zu begeistern, vor allem aber auch, weil ich meine Erfahrung und mein Wissen weitergeben möchte. Und aus meinen Forschungsarbeiten zur Entstehung der Halbtagsschule in Deutschland halte ich den Weg in die Halbtagsschule für eine Fehlentwicklung in der deutschen Bildungsgeschichte, die es zu korrigieren gilt.
Online-Redaktion: Wenn Sie jemanden vom Ganztag überzeugen wollen, welche Argumente führen Sie an?
Seelmann-Eggebert: Beginnen würde ich mit Historischem. Dazu habe ich geforscht und nach meiner Pensionierung meine Dissertation geschrieben. Die Halbtagsschule hat keine historische Tradition. Wenn, dann war sie ein Notbehelf, wie es das preußische Kultusministerium bezeichnete. Schulen, vor allem Lateinschulen und Gymnasien, waren in Deutschland traditionell ganztägig organisiert. Erst im Ausgang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine Tendenz zur Halbtagsschule.
Die Halbtagsschule war getragen von berufsständischen Interessen, Sparzwängen und nicht zuletzt von der Forderung zur „körperlichen Ertüchtigung“. Letzteres geschah auch im Hinblick auf die Militarisierung der Gesellschaft seit Ende des 19. Jahrhunderts, als im Deutschen Reich, anders als der „Sport“ in England, der Freizeitsport war, „Leibesübungen“ und „Turnen“ an politisch-erzieherischer Bedeutung gewannen. Die Aufgabe, das zu leisten, wurde damals nicht der Schule zugeschrieben. An Volksschulen auf dem Land sah die Entwicklung anders aus. Oftmals waren die Klassen riesig, mit bis zu 100 oder mehr Schülerinnen und Schülern verschiedener Klassenstufen. Als „übler Notbehelf“ wurde eine Gruppe morgens, die andere nachmittags unterrichtet. Das nannte man in Preußen dann Halbtagsschule. In Bayern wurde erst 1964 die letzte traditionelle Ganztagsschule auf dem Land aufgelöst.
Online-Redaktion: Und wie sah die Situation den Städten aus?
Seelmann-Eggebert: Dort wurde die moderne Halbtagsschule an Volksschulen mit dem dicht gedrängten Unterricht am Vormittag zuerst in Hamburg und Berlin eingeführt. Die Volksschullehrerschaft forderte Gleichbehandlung mit den Gymnasiallehrern, die nun freie Nachmittage hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Elend in den Städten gingen viele Volksschulen mit Genehmigung der Behörden zur Halbtagsschule über, etwa wegen fehlenden Heizmaterials. Also ebenfalls auch aus der Not heraus.
Online-Redaktion: Besitzt die Historie ausreichend Überzeugungskraft?
Seelmann-Eggebert: Nein. Ich versuche in meinen Gesprächen deutlich zu machen, dass die Halbtagsschule viele Nachteile für Schüler und Lehrer hat. Der Stress am Vormittag kann auch durch einen freien Nachmittag nicht ausgeglichen werden. In der Ganztagsschule kann der Tagesablauf rhythmisiert werden durch Phasen der Anspannung und Entspannung. In der Coronakrise ist deutlich geworden, dass Schulen in Deutschland einen massiven Modernisierungsbedarf haben. Unser Schulsystem muss auf die Anforderungen für selbstgesteuertes und digital unterstütztes Lernen vorbereitet werden. Schulen brauchen mehr Freiräume und eine Kultur des Wohlfühlens, müssen Orte des persönlichen Wachstums werden. Das alles ist in einer Ganztagsschule eher umsetzbar.
Online-Redaktion: Wo sehen Sie aus Sicht der Lernenden heute den Vorteil im Ganztag?
Seelmann-Eggebert: Wenn ich von „gutem Ganztag“ spreche, denke ich an die gebundene Form. Nur sie ermöglicht eine schülergerechte Rhythmisierung, den Wechsel von geistiger Anregung, Bewegung, Austausch und Ruhephasen. Und nur der gebundene Ganztag erreicht alle Schülerinnen und Schüler, bietet allen verbesserte Lernbedingungen. In der offenen Form folgen auf den Pflichtunterricht sicher sinnvolle Angebote, die aber eben nur diejenigen erreichen, die für den Ganztag angemeldet sind. Wie viele bin ich überzeugt, dass sich der Ganztag positiv auf das Lernen auswirkt. Wenn es mehr als zehn Prozent gebundene Ganztagsschulen gäbe, würden das auch Studien zeigen können.
Online-Redaktion: Warum fördert der rhythmisierte Ganztag Ihrer Meinung nach das Lernen?
Seelmann-Eggebert: Der angesehene Psychiater Krafft-Ebing warnte bereit 1885, dass kein Mensch länger als drei Stunden am Stück hintereinander effektiv lernen kann. Der Wechsel, die Beschäftigung mit anderem, auch die Ruhephase macht den Kopf wieder fit fürs Lernen. Wir wissen es doch alle aus eigener Erfahrung: In der sechsten Stunde haben viele von uns mit offenen Augen geschlafen. Ich übrigens auch. In Schweden liegt häufig am Ende des Ganztags noch eine Unterrichtsstunde. Und die Schülerinnen und Schüler sind aufnahmefähig. Wir wissen auch, dass viele Jugendliche morgens um 8 Uhr noch nicht fit sind und wir gegen 12 Uhr ein Lerntief erreichen. Dem müsste die Ganztagsschule bei uns noch stärker Rechnung tragen.
Online-Redaktion: Als Begründung für den Ganztag wird oft als erstes die Vereinbarkeit von Familie und Beruf genannt. Welches Argument würden Sie anführen?
Seelmann-Eggebert: Natürlich spielt die Vereinbarkeit eine wichtige Rolle. Aber es gibt mehr wichtige Sichtweisen. Ich möchte die Entwicklung der Persönlichkeit, Aspekte des sozialen Lernens, das Entdecken und Fördern von Talenten sowie die Unterstützung des Individuums durch seine Wahrnehmung aus multiprofessioneller Sicht nennen. Aber es geht auch um mehr Freude und Spaß an Schule. Der Zeitdruck der Halbtagsschule macht alle unzufrieden und viele auch krank. Mal ganz abgesehen davon, dass die Unterrichtsqualität mit Sicherheit steigt, wenn die Lehrkräfte zwischen den Unterrichtsstunden auch einmal durchatmen, sich sammeln und auf die nächste Herausforderung konzentrieren können. Ich denke aber auch an die Kinder und Jugendlichen, die die deutsche Sprache erst erlernen oder verbessern möchten. Das gelingt im Wesentlichen durch die Kommunikation mit den Mitschülerinnen und -schülern. Auch dafür bietet der Ganztag einfach mehr Zeit und Raum.
Online-Redaktion: Sie haben 18 Jahre lang den Ganztagsschulverband Hessens geleitet und waren sechs Jahre im Bundesvorstand des Ganztagsschulverbandes aktiv. Was hat sich in den Jahren getan?
Seelmann-Eggebert: Unserem Vorstandsteam ist es gelungen, in Hessen deutlich an Akzeptanz zu gewinnen. In regelmäßigen Gesprächen mit den Kultusministern und Kultusministerinnen und den bildungspolitischen Sprechern und Sprecherinnen der demokratischen Parteien konnten wir unsere Positionen, aber auch Forderungen immer wieder vorbringen. Ein Highlight sind unsere jährlichen Fachtagungen zum Thema Ganztag mit teilweise über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. In der Lehrerschaft Hessens wurde der Verband wahrgenommen, die Mitgliedschaft hat sich deutlich erhöht. Gerne werden Vertreter des Vorstandes zu pädagogischen Konferenzen an Schulen eingeladen.
Online-Redaktion: Und auf Bundesebene?
Seelmann-Eggebert: Seit 2013 ist der Ganztagsschulverband, damals mit dem Vorsitzenden Rolf Richter, jetzt mit Eva Reiter an der Spitze, deutlicher in der Öffentlichkeit aufgetreten. Der Verband hat sich klar für die gebundene Ganztagsschule als Zukunftsperspektive in Deutschland positioniert, ohne dabei offene Ganztagsschulen abzuwerten. In einer Befragung hatten sich auch Schulleiter und Schulleiterinnen in Deutschland klar für das gebundene Modell entschieden. In der Organisation neuer Formen von Kongressen hat sich vieles positiv entwickelt. Die Pressearbeit wurde deutlich intensiviert. Die Anliegen des Ganztagsschulverbandes haben wir auch gegenüber den demokratischen Parteien im Bundestag offensiver vertreten.
Online-Redaktion: Sie waren selbst viele Jahre Schulleiter und beraten bis heute Ganztagsschulen. Wo sehen Sie den größten Unterstützungsbedarf?
Seelmann-Eggebert: Unterstützung benötigen zum einen Schulen, die sich auf den Weg zum Ganztag begeben, zum anderen Schulen, die ihren Ganztag weiterentwickeln möchten. Ich rate, zwei, drei Jahre Erfahrungen zu sammeln, zu schauen, was auf Akzeptanz bei Lehrkräften, Eltern, Schülerinnen und Schülern stößt und was nicht. Danach kann man das Angebot sensibel anpassen. Wichtig ist: Es gibt keine Patentrezepte. Man kann sich zwar in Netzwerken Eindrücke und Erfahrungen anderer anschauen. Aber jede Schule muss ihren eigenen Weg finden und gehen.
Eine ganz wichtige Zukunftsaufgabe und daher auch häufig gestellte Frage ist die der Digitalisierung. Sie spielt eine entscheidende Rolle für das eigenständige Lernen. Bezogen auf Hessen kommt immer wieder der Pakt für den Nachmittag zur Sprache. Hier überlegen viele Schulen, ob ihr Ganztag um 16 Uhr oder doch schon um 14.30 oder 15.00 Uhr enden soll. Ich kann mich mit der kürzeren Variante gut anfreunden, wenn es anschließend noch ein kommunales Betreuungsangebot gibt und die Schulen sich für ein gebundenes Modell entscheiden können. Wir benötigen die Akzeptanz der Eltern. Viele von ihnen wünschen sich Zeit für Aktivitäten der Kinder auch außerhalb der Schule. Und das ohne Stress.
Online-Redaktion: Sie haben jüngst noch mehr Forschungsergebnisse zum Ganztag angemahnt. Welches Wissen fehlt?
Seelmann-Eggebert: Vieles ist ja inzwischen, nicht zuletzt dank der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) bekannt. Ein Ergebnis ist beispielsweise, dass Lernzeiten in der Schule, die die traditionellen Hausaufgaben weitgehend ersetzen, die Eltern-Kind-Beziehungen unterstützen. 2015 haben im Ifo-Bildungsbarometer 61 Prozent der Befragten den Ganztag bis 15 Uhr begrüßt, fast 50 Prozent sogar einen längeren Nachmittag. Meines Erachtens müssten vor allem die Auswirkungen des gebundenen Ganztags auf die Lernerfolge genauer unter die Lupe genommen werden. Wenn sich bestätigt, dass sie dort deutlich zunehmen, wird die Akzeptanz des Ganztags weiter ansteigen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Ganztag vor Ort - Partizipation
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