Wattenmeer und mehr im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Die „Zugvogelmusikschule“ im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer bietet Ganztagsschulen eine einmalige Verbindung von Naturschutz, Musik und Migration. Katharina Stephan im Interview.
Online-Redaktion: UbuZuSchu hält Einzug in niedersächsische Schulen. Gestartet wurde es in Biosphärenschulen am niedersächsischen Wattenmeer. Was verbirgt sich dahinter?
Katharina Stephan: Es handelt sich um die Abkürzung unseres neuen, didaktisch ganzheitlichen Programms „Unsere bunte Zugvogelmusikschule“. Wir, die Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer, und das Musiklabel Run United bringen damit Kindern auf musikalische Art und Weise die Thematik des Vogelzugs im Wattenmeer und dessen Verbundenheit mit der Vielfalt der Gesellschaften und ihrer Kulturen entlang des Zugweges näher.
Online-Redaktion: Wie läuft das konkret ab?
Stephan: Wir bieten Ganztagsschulen, aber auch Schulen ohne Ganztag, Unterrichtseinheiten an, in denen sich alles um einen Zugvogel dreht, der alljährlich den Sommer in der niedersächsischen Wattenmeer-Region verbringt. Eine Schauspielerin, in unserem Pilotprojekt meine Kollegin Stefanie Lenz, verkleidet sich als Sandregenpfeifer – ein typischer Brutvogel hier bei uns Strand, der aber auf seinem Zug Rast zum Beispiel in Kamerun, aber auch im Wattenmeer macht. Sie erzählt eine kurze Geschichte über ihn, schildert seine tatsächlichen, aber auch fantasievollen Alltagserlebnisse, seine Lieblingsnahrung, die Gefahren auf seiner Reise durch die verschiedenen Länder und alle anderen möglichen Erfahrungen, die er als Vielflieger so sammelt.
Online-Redaktion: Wie werden die Schülerinnen und Schüler eingebunden und wie kommt die Musik ins Spiel?
Katharina Stephan: Wir ermöglichen ihnen unter anderem einen Perspektivwechsel, zum Beispiel indem wir sie bitten, sich eine Minute hinzustellen und mit den Armen Schwingbewegungen der Vögel nachzuahmen. So können sich die Kinder – wir richten unser Angebot im Moment in erster Linie an Dritt- und Viertklässlerinnen und -klässler – wie Vögel fühlen. So spüren sie beispielsweise auch, wie anstrengend so eine Flugreise für die Tiere sein muss.
Begleitet wird das Abenteuer von einem Musiker, beim Sandregenpfeifer von Njamy Sitson, einem Schauspieler und Musikwissenschaftler aus Augsburg, der die Bamiléké-Musik aus Kamerun beherrscht. Er spielt Melodien und Rhythmen aus Kamerun und erzeugt dabei typische Geräusche. Die Kinder werden animiert, auf bereitliegenden Rhythmusinstrumenten oder durch Mitsingen zu interagieren. Dabei singen sie auch einfache Worte in den für sie fremden Sprachen der Region.
Online-Redaktion: Erfahren die Schülerinnen und Schüler auch etwas über die Region?
Katharina Stephan: Genau das ist unser Ziel. Die Künstlerinnen und Künstler berichten über das Leben in dem Land, in dem sie geboren wurden und in dem der Zugvogel überwintert oder auf seinem Zugweg rastet. Sie zeigen und erklären ihre für die Kinder meist außergewöhnlichen Instrumente und erläutern die unterschiedlichen Sprachen, aber auch, wie Kinder in den jeweiligen Ländern groß werden. Am Ende der Stunde singen alle gemeinsam ein Lied über den Zugvogel.
Online-Redaktion: Ihr Projekt verfolgt aber Ziele über diese landeskundlichen Aspekte hinaus?
Katharina Stephan: Ja, zum einen stellt es eine Möglichkeit dar, Bildung für nachhaltige Entwicklung ganz konkret und praktisch in die Schulen zu bringen. So soll unter anderem der im Juni 2021 in Kraft getretene Schulerlass „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ umgesetzt werden. Wir wollen Kinder für den regionalen und globalen Naturschutz begeistern, indem wir eine Verbindung von Naturschutz, der Bedeutung von Schutzgebieten über Migration hin zu der damit einhergehenden gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt, herstellen.
In Kombination von Musik und Schauspiel wird ein neuer Zugang zur Natur geschaffen, und gleichzeitig wird das Bewusstsein für Vielfalt geschärft. Ich will es einmal so ausdrücken: Die Kinder erleben in diesen Unterrichtsstunden oder Arbeitsgemeinschaften, dass tausende Vögel aus allen Ländern im Wattenmeer friedlich nebeneinander leben. Warum sollen das die Menschen nicht auch können?
Online-Redaktion: Sie sagten, dass sie mit einem Pilotprojekt gestartet sind. Wer war dabei und welche Erfahrungen haben sie gesammelt?
Katharina Stephan: Im August 2020 fand unser erster Testlauf in drei Grundschulen in Cuxhaven, Wilhelmshaven und Carolinensiel statt. Die Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte zeigten sich gleichermaßen begeistert. Besonders in Erinnerung geblieben ist uns die Geschichte eines Jungen. Eine Lehrerin berichtete uns, dass er in der Vergangenheit im Unterricht recht schweigsam und in sich gekehrt wirkte. Dann kam UbuZuSchu. Er blühte geradezu auf, war fasziniert. Es stellte sich heraus, dass seine Familie kamerunische Wurzeln hat. Wir glauben, dass er dank des Musikers spürte, dass er hier die Kultur seiner Familie auch leben kann – zum Beispiel die Musik. Er kam plötzlich mit den Kindern in der Klasse ins Gespräch. Denn die zeigten sich fasziniert von den ihnen unbekannten Instrumenten, der Musik, der Sprache und wollten mehr darüber erfahren.
Online-Redaktion: Wie ist die Idee für das Programm entstanden?
Katharina Stephan: Jedes Jahr im Oktober, 2021 zum 13. Mal, finden bei uns die „Zugvogeltage“ im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer statt. Während dieser neun Tage dreht sich im gesamten Nationalpark, also vom Dollart bis an die Elbe, von Borkum bis Wangerooge, alles um Zugvögel und den Vogelzug. So groß wie der Nationalpark, so bunt ist die Palette der Angebote. Von Spiel und Spaß bis zum Vortrag, von Exkursionen bis zum kulinarischen Erlebnis – für jeden ist etwas Interessantes dabei.
Als eine Auftaktveranstaltung findet seit 2017 die „Zugvogelmusik“ statt. Wie im Watt selbst treffen sich hier auf der Bühne die Zugvögel über Bild, Ton und Text. Musikerinnen und Musiker aus den Ländern des Vogelzugs interagieren. So werden die Verbindung der Natur, die durch Zugvögel deutlich wird, mit den Menschen über Musik und Kultur symbolisiert, bis hin zur Bedeutung von Migration in unserer Gesellschaft. Als die Pandemiesituation keine großen Konzerte mehr möglich machte und unsere Schülerinnen und Schüler der Biosphärenschulen nur noch an wenigen außerschulischen Aktionen teilnehmen konnten, wollten wir etwas entwickeln, das zu den Kindern in die Schulen kommt. Der BNE-Erlass für niedersächsische Schulen spiegelt die Themen, Inhalte und Ziele unseres Programms geradezu idealtypisch wider.
Online-Redaktion: Für Schulen ist es immer bedeutsam, wichtige von außen angetragene Projekte im Schulalltag integrieren zu können. In Arbeitsgemeinschaften und Projekttagen ist dies unproblematisch möglich. Wie gelingt das für UbuZuSchu im Unterricht?
Katharina Stephan: Wir wenden uns ja zunächst bewusst an die Jahrgänge 3 und 4. Noch Jüngere überfordert das Projekt aufgrund der notwendigen, recht lange anhaltenden Konzentration. Allerdings kann es sowohl für Jüngere als auch Ältere angepasst werden. Unser Angebot nimmt Bezug auf das Kerncurriculum des Sachkundeunterrichts der Jahrgänge 1 bis 4. Es finden sich Themen zu einem bestimmten sogenannten Lebensraumtyp, einer Landschaft: dem Wattenmeer. Zugleich wird ein Ansatz zur Vermittlung interkultureller Bildung ermöglicht. Querbezüge lassen sich unter anderem zu den Kerncurricula Kunst und Musik herstellen. Eine Übersetzung der erzählten Geschichte in weitere Sprachen ermöglicht es, zusätzliche Querbezüge zu anderen Fächern oder aber einem bilingualen Unterricht herzustellen. Es können manche Aspekte in anderen Fächern aufgegriffen werden: Religionen, Lebensweisen, kulturelle Aspekte.
Online-Redaktion: Wer kann sich am Projekt beteiligen?
Katharina Stephan: Wir beginnen erst einmal hier bei uns in der Region, wollen aber diesen Impuls auch auf ganz Deutschland ausbreiten. Voraussetzung sind entsprechende Räumlichkeiten und die Ausstattung der interessierten Schulen. Wir sind überzeugt, dass es jede Mühe lohnt, schon bei den Jüngsten die für die Gegenwart und Zukunft so zentralen Lebensinhalte Naturschutz und Migration nachhaltig in den Köpfen zu verankern.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview.
Kategorien: Bundesländer - Hessen
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