Verrückte Sportstunde in der Ganztagsgrundschule : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Vor 30 Jahren gründeten Wolfgang und Petra Richter die gemeinnützige Einrichtung freshFANTASY. Dazu gehört eine "verrückte" Sportstunde in Ganztagsgrundschulen. Sie soll Kinder zu Sport und Bewegung motivieren. Ziel ist die Präventionsarbeit.

Online-Redaktion: „Crazy Wolfi“ werden Sie genannt. Ein Kompliment?

Wolfgang Richter: So, wie es gemeint ist, auf jeden Fall. Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte, aber auch die Eltern haben mir den Spitznamen verpasst, weil ich eine eben nicht normale Sportstunde anbiete. Halt Wolfis total verrückte Sportstunde. 

Online-Redaktion: Wie darf man sich die vorstellen?

Richter: Vergessen Sie einfach alles, was eine herkömmliche Sportstunde kennzeichnet. Das fängt schon mit unserer Ankunft an. Wir fahren in einem knallgelben Bus vor, neben mir sitzt Miss Piggy – das Begleitschwein. In der Turnhalle angekommen, werden, kaum dass die Schülerinnen und Schüler da sind, witzige Sprüche gemacht. Wir wärmen uns mit Rennen, Springen und Tanzen bei Discomusik auf. 

Danach folgt ein buntes Programm mit Hula-Hoop in Kombination mit Seilspringen, dem schnellsten Hip-Hop-Tanz-Kurs der Welt – ich garantiere, in drei Minuten kann jedes Kind Hip-Hop - , Let`s do the Moonwalk und Limbo-Dance. Wir spielen „Flucht vor durchgeknallten Schlümpfen“ (blaue Schaumstoff-Frisbees), messen uns im Tauziehen, tanzen Macarena und trainieren die Balance auf dem Snakesurfer, einer Art durchgesägtem Waveboard. Und zum Schluss folgt als Highlight der Gangnam-Macarena-Style. Er fördert Kondition und Koordination dank der speziellen Choreographie, des Hüpfens und rhythmischen Laufens.

Online-Redaktion: Sorry, das klingt mehr nach Bespaßung als nach Unterricht...

Richter: Natürlich geht es um Spaß. Wenn Bewegung Spaß macht, ist das denn etwa kein Sport? Ich will die Kinder zur Bewegung animieren. So, dass sie nach Hause gehen, die Eltern, die älteren Geschwister, Freunde und Nachbarn überreden, sich auch zu bewegen. Wenn die Kinder in meiner Sportstunde Feuer fangen, dann brennen sie. Und wenn es optimal läuft, werden sie sogar zu ganz wertvollen Multiplikatoren. Mal ganz ehrlich: Wenn die Kinder die Turnhalle verlassen und davon schwärmen, dass dies die schönste Sportstunde ihres Lebens war, wenn sie sich ausgepowert und Freude an der Bewegung entwickelt haben – was kann ein Sportlehrer denn mehr erreichen?

Online-Redaktion: Junge Menschen wollen ernst genommen werden. Sie sprachen eben von flotten Sprüchen. Vielen Jüngeren fällt es schwer, ältere Menschen zu respektieren, wenn die krampfhaft versuchen, sich mit ihnen auf eine Stufe zu stellen, oder als 60-Jährige wie Teenager reden. Eine Gefahr Ihres Konzeptes? 

Richter: Nur dann, wenn das Verhalten aufgesetzt ist. Bei mir ist es grundehrlich, authentisch und die Folge grenzenloser Begeisterung für diese Zielgruppe. Und wir reden hier von Sechs- bis Zehnjährigen. Für sie gibt es nichts Besseres als eine lustige, smarte und witzige Stunde. Bei Älteren würde das sicher etwas anders aussehen müssen. 

Online-Redaktion: Die Schulen würden Sie kaum einladen, wenn es tatsächlich nur um Spaß ginge. Welche ernste Idee verfolgen Sie? 

Richter: Den Spaßfaktor will ich gar nicht kleinreden, weil er die Grundlage dafür ist, die Kinder – und wir reden hier von Grundschulkindern, die noch sehr zugänglich sind – zur Bewegung zu motivieren. Dahinter aber steckt der tiefe Sinn, Sport und Bewegung als Prävention zu nutzen. Und zwar in vielerlei Hinsicht: Gesundheits-, Drogen-, aber auch Gewaltprävention. Wenn Kinder erst einmal zu Drogen jeglicher Art greifen, wenn sie zu dick sind und krank werden, dann kostet das die Gesellschaft sehr viel Geld. Doch bedauerlicherweise wird hierzulande viel in die spätere Reparatur investiert und viel zu wenig in die Vorbeugung. Wenn wir die Kinder früh, möglichst schon im Kindergarten für die Bedeutung von Bewegung sensibilisieren, wenn sie eine Alternative zum Abhängen, Süßes konsumieren, erst recht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kennenlernen, ist das die größte Sparmaßnahme, die wir uns denken können.

Online-Redaktion: Reichen 90 Minuten Sportunterricht von „Crazy Wolfi“ aus?

Richter: Sicher nicht. Ich kann da allerhöchstens erste Impulse setzen. Fort- und umsetzen müssen das die Schulen, aber auch die Eltern. Ich baue darauf, dass Kinder, die meine Sportstunde erlebt haben, Ähnliches immer wieder einfordern. Wenn Kinder etwas wollen, können sie ganz schön hartnäckig sein. 

Online-Redaktion: Warum kann der normale Sportunterricht Ihrer Meinung nach diese Präventionsarbeit nicht leisten?

Richter:  Er tut es ja ansatzweise, aber weder finanzielle noch personelle Ausstattung und schon gar nicht der straffe Lehrplan ermöglichen es den Lehrkräften, dies in einem Umfang zu tun, wie es für Kinder und Gesellschaft zu wünschen wäre. Den Fachhochschulen und Unis fehlt zudem bislang leider der Mut, echte Querdenker ins Dozententeam zu holen.  

Online-Redaktion: Die Kinder sind begeistert. Doch wie reagieren Eltern und Lehrkräfte?

Porträtfoto Wolfgang Richter
Wolfgang Richter © Koechlin, Holzwickede

Richter: An den Grundschulen arbeiten ja zumeist Lehrerinnen. Sie sind sehr offen für solche Innovationen. Ich habe schon oft gehört, dass Lehrerinnen unser Konzept anschließend in ihren Unterricht integriert haben. Aber es gibt natürlich auch solche, die das Ganze für einen netten Gag, eine lustige Abwechslung halten. Auch die Eltern reagieren unterschiedlich. Wenn ein Kind nach Hause kommt und auf einmal den Vater nach der Arbeit zum Hula-Hoop bitten will, sagt manch einer: „Okay, das machen wir.“ Aber es gibt natürlich auch solche, die nur antworten: „Du hast ja nicht alle Tassen im Schrank.“   

Online-Redaktion: Wie oft werden Sie gefragt, was Sie zu dieser Arbeit befähigt?

Richter: Oft. Aber es ist die völlig falsche Fragestellung. Es geht doch nicht darum, was ich studiert habe, ob ich Professor oder arbeitslos bin. Entscheidend ist die Antwort auf die Frage, was ich kann. Und die lautet: Ich kann Kinder für Sport und Bewegung, für Rhythmus und Körpergefühl, für ganz viel Sinnliches gewinnen. Meine Frau und ich haben vor 30 Jahren damit angefangen. Unsere Philosophie war immer schon: Prävention, Prävention, Prävention. Ich selbst habe übrigens nie Leistungssport betrieben. Aber ich hatte einen unersättlichen Bewegungsdrang. Darum vermitteln wir den Kleinen auch immer: Du musst nicht gewinnen. Wichtig ist, dass wir tobende und aktive Kinder haben. Und manchmal entdecken wir dabei, wie neulich in der Grundschule eines kleinen Dorfes, große Talente. Da zeigte uns doch glatt ein Sechsjähriger Break-Dance mit einer Drehung im Kopfstand. Und keiner wusste zuvor von seiner Begabung. 

Online-Redaktion: Asphaltierte Schulhöfe, zugeparkte Straßen, fehlende Bewegungsräume in der Natur stehen dem freien Toben auch entgegen – oder?

Richter: Der These stimme ich nur bedingt zu. Sicher war es in unserer Jugend leichter und ungefährlicher, vor der Haustür auf der Straße zu spielen, im nahe gelegenen Wald auf die Bäume zu klettern. Es fehlt zunehmend aber auch an Vorbildern und daran, die Kinder Ihre Fantasie austoben zu lassen. Wir sind alle so vorsichtig und behütend. Was den Asphalt angeht, widerspreche ich. Es hat sich der Trend eingeschlichen, alles schön grün zu machen, Asphalt wegzureißen, Sitzgruppen und Schulgärten anzulegen.

Vieles ist ja gut und schön, aber wo können die Kinder noch Gleichgewichtssinn trainieren, sich auf Skate- und Waveboards bewegen. Wir brauchen nicht nur schöne und coole Plätze. Wir brauchen auch glatte Flächen. Kürzlich war ich im Kölner Hafen. Da haben sie für teures Geld auch so einen Skate-Park mit Half-Pipe angelegt. Doch wer nutzt das Angebot: kaum einer. 95 Prozent aller, die auf Rollen unterwegs sind, wünschen sich schlichte, glatte und saubere Flächen, die ein Bruchteil eines Skateparks kosten würden. Das sagen uns die Kinder.  

Online-Redaktion: Die gehen zu einem großen Teil inzwischen in eine Ganztagsschule. Und sind dann, so ist immer wieder zu hören, für die Sportvereine verloren. Richtig?

Richter: Ach was. Es stimmt zwar, dass Vereine, die mit ehrenamtlichen und meist berufstätigen Übungsleitern arbeiten, nicht so leicht am Vor- oder frühen Nachmittag in die Schulen gehen können. Aber da muss man halt kreativ sein. Vereine können sich zusammenschließen oder in den Unterricht pensionierte Vereinsmitglieder schicken. Die Vereine müssen sich auch verändern, sich öffnen und die Chance nutzen, im Ganztag neue Mitglieder zu gewinnen. Vor allem aber müssen sie ihrer Aufgabe gerecht werden, Kinder und Jugendliche zum Sport zu motivieren.

Online-Redaktion: Bietet die Ganztagsschule größere Möglichkeiten der Präventionsarbeit?

Richter: Natürlich. Ich bin ein großer Anhänger der Ganztagsschule, aber nur, wenn da attraktive Lern- und Lebensräume existieren. Und die Freude an der Bewegung kann man dort viel intensiver und gezielter wecken. 

Online-Redaktion: Zum Abschluss haben Sie einen Wunsch frei...

Richter:  Um die Teilnahme an der total verrückten Sportshow noch mehr Kindern zu ermöglichen, planen wir für 2014 eine bundesweite Kooperation mit Ganztagsgrundschulen, die eine Dreifeldhalle haben. Dort würden wir gerne für die Kinder und Lehrkräfte aller Grundschulen einen richtig großen und spannenden Event veranstalten – inklusive Lehrer-Fortbildung. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Schulen und Kommunen mitmachen. Im Interesse der Kinder. 

 

Zur Person
Wolfgang Richter wurde 1953 in Berlin geboren. Einen Tag vor Mauerbau zog er mit der Familie in den Westen. Dem Realschulabschluss und der Ausbildung zum Maschinenbauer am Internat Schloss Reutti/Neu-Ulm folgte die sozialpädagogische Ausbildung in Tübingen. 1985 gründete er mit seiner Frau die gemeinnützige Einrichtung freshFANTASY mit dem Ziel, innovative Präventionskonzepte und -veranstaltungen zu entwickeln und durchzuführen.
Seither haben rund 4.000 Aktionen und Kooperationen mit Kindergärten, Schulen, Krankenkassen und der freien Wirtschaft stattgefunden. Richter ist ausgebildeter Karate-Übungsleiter und Gastdozent am Institut für Sportwissenschaften an der Universität Augsburg. Er war verantwortlich für Promotion-Events für Harry Belafontes Breakdance-Kino-Film „Beat Street".


 

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