Sport und Ganztag: Kinder wieder in Bewegung bringen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Ob die Auslobung des Deutschen Schulsportpreises oder die Kooperation von Vereinen mit Schulen, die Deutsche Sportjugend ist aktiv dabei. Ihr neuer Vorsitzender Stefan Raid über aktuelle Herausforderungen.
Online-Redaktion: Herzlichen Glückwunsch zur Wahl, Herr Raid! Welche Ziele haben Sie sich als frischgebackener erster Vorsitzender der Deutschen Sportjugend im Deutschen Olympischen Sportbund gesetzt?
Stefan Raid: Kurzfristig möchten wir gemeinsam mit dem Deutschen Kinderhilfswerk möglichst viele Familien und Vereine motivieren, sich an einer großen Bewegungs- und Sportaktion in der Woche rund um den Weltspieltag am 28. Mai 2021 zu beteiligen. Wir wollen das Thema Bewegung noch stärker ins Bewusstsein aller rücken. In den sozialen Medien können unter den Hashtags #Weltspieltag und #lasstunswasbewegen Fotos oder Videos gepostet werden, die Menschen entweder bei ihrer geliebten Sportart, beim Sport an ungewöhnlichen Orten oder bei einer für sie unbekannten Sportart zeigen.
Darüber hinaus arbeiten wir an gemeinsamen Forderungen für mehr Bewegung von Kindern und Jugendlichen. Natürlich ist die aktuelle Lage eine besondere Herausforderung. Unser erstes Ziel lautet, unsere Mitgliedsorganisationen gut durch die Pandemie zu bringen. Wir möchten sie unterstützen, Kinder und Jugendliche wieder aktiv für Bewegungs- und Sportvereinsangebote zu begeistern. Sportvereine bieten ihnen geschützte Räume, in denen sie gemeinsam mit ihren Freundinnen und Freunden ihrem Spaß an Bewegung, Spiel und Sport nachgehen können und wo sie sich bei zahlreichen Bildungsgelegenheiten in ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln können. Wir müssen Kinder und Jugendliche wieder in Bewegung bringen.
Online-Redaktion: In der aktuellen Lage häufen sich Sorgen, dass der Sport in den Schulen vernachlässigt wird. Auch Arbeitsgemeinschaften in Ganztagsschulen, in denen die Bewegung gefördert wird, fallen aus. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Raid: Allein die Alltagsbewegung von Kindern und Jugendlichen hat sich in der Pandemiezeit weiter verschlechtert. Der gesamte Bewegungsumfang der jungen Menschen wurde deutlich reduziert. Bereits die Ergebnisse der Motorik-Modul-Studie (MoMo) offenbarten eine bedenkliche Entwicklung. Danach erreichen derzeit gerade noch 16 Prozent der Jugendlichen die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Bewegungszeit von einer Stunde pro Tag.
Ohne neue Medien verteufeln zu wollen, die inzwischen einfach zum Alltag gehören und viele Ideen und Möglichkeiten, sie mit Spiel, Sport und Bewegung zu kombinieren, bieten, sehen wir schon, dass viele Jugendliche ihrem Reiz erliegen. Sie bewegen sich häufig nur noch auf dem Weg zur Schule und in den wenigen Sportunterrichtstunden. Bewegung leistet aber auch ihren Beitrag, mit psychischen Belastungen umzugehen und einen Ausgleich vom Alltag, sie fördert Teamgeist und Gemeinschaftsdenken. Der Bewegungsmangel ist nur eines der Problematiken von fehlendem Sportangebot. Dagegen müssen wir etwas tun. Die jetzt langsame breitere Öffnung der Schulen kann dabei als begleitender Neustart für den Sport verstanden werden.
Online-Redaktion: Was können Sie bis dahin unternehmen?
Raid: Viele unserer Mitgliedsorganisationen haben schon im April vergangenen Jahres damit begonnen, in vielfältiger Form Möglichkeiten zu kommunizieren, wie Kinder und Jugendliche sich auch in und aus der Distanz in Bewegung halten können. Unter den Hashtags #Sportjugendarena und #Heimarena der dsj finden sich zahlreiche Vorschläge. Das Gute daran ist, dass sie bundesweit und zu jeder Zeit abrufbar sind.
Kinder und Jugendliche, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher oder auch Eltern sind also nicht darauf angewiesen, dass in ihrer Region etwas zu finden ist. Die Verbände und Vereine tun das natürlich auch in dem Wissen, dass jedes Kind, das so begeistert werden kann, den Verein vielleicht nicht verlässt. Er bleibt so im Kopf der Kinder und ihrer Eltern und die Kinder zumindest etwas in Bewegung
Online-Redaktion: Ein Verein, der aktuell mit seinen Online-Fortbildungen Furore macht, ist ALBA Berlin. Weit mehr als 8.000 Personen haben bislang seine Angebote genutzt. Ein Vorzeigeprojekt?
Raid: Ja, ALBA zeigt, wie es gehen kann. Es handelt sich um ein ideales Modell. Aber ich kenne Ähnliches beispielsweise auch aus Nürnberg, Hamburg und anderen Orten. Sie gestalten den Ganztag mit und liefern auch in der Pandemiezeit entsprechende, im Rahmen des Möglichen liegende Beiträge, um Schülerinnen und Schüler in Bewegung zu halten. Die lokale Nähe und Verbundenheit spielen bei allen Kooperationen natürlich auch eine Rolle.
Online-Redaktion: Kleinere Vereine werden jetzt einwenden, dass sie sich ein solches Engagement mit ihren ehrenamtlichen Strukturen gar nicht leisten können...
Raid: Der Einwand ist berechtigt, auch wenn mir viele Beispiele bekannt sind, wo gerade kleine Vereine intensiv mit Ganztagsschulen zusammenarbeiten. Aber natürlich ist es leichter, hauptberufliche Trainerinnen und Trainer dafür einzusetzen und nicht hoffen zu müssen, dass es eine ehrenamtliche Kraft nach dem Ende der eigenen Arbeitszeit schafft, noch schnell eine Arbeitsgemeinschaft durchzuführen.
Was an ALBAs Konzept positiv auffällt, ist die Einbindung anderer kleinerer Vereine in Berlin und Brandenburg in ihr Engagement an den Schulen. Es hilft dem Großverein am Ende auch nicht, wenn er in der Stadt alleine existiert. In anderen Bundesländern engagieren sich mehrere kleinere Sportvereine in einem sogenannten Karussell und wechseln sich darüber mit ihren Ganztagsangeboten ab.
Online-Redaktion: Zurück zur Kooperation mit Ganztagsschulen. Noch 2013 schlug der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Dr. Thomas Bach, eher kritische Töne an. Der Staat dürfe nicht auf kaltem Weg Aufgaben an das Ehrenamt delegieren, ohne finanziellen Ausgleich. Wie bewerten Sie die Entwicklung?
Raid: Sie ist sehr positiv. Schulen und Vereine profitieren gleichermaßen von der Zusammenarbeit. Nicht umsonst ist der Sport so stark wie kein anderer außerschulischer Partner in Ganztagsschulen präsent. Die Schule kann für Vereine ein ganz wichtiger Berührungspunkt zwischen Übungsleiterinnen und -leitern darstellen. Wir begrüßen auch die in den Bundesländern geschlossenen „Rahmenverträge“ zur Zusammenarbeit von Ganztagsschulen und Sportvereinen.
Aus unserer Auslobung des Deutschen Schulsportpreises sind uns zahlreiche sehr erfolgreiche Kooperationen zwischen Schulen und Sportvereinen bekannt. Hier gestalten Sportvereine den Ganztag mit unterschiedlichen Bildungsangeboten mit oder haben sogar Trägerschaften im Ganztag übernommen. Wenn es noch etwas zu verbessern gibt, sind es wohl die Honorare für die Übungsleiterinnen und -leiter sowie Trainerinnen und Trainer, die aus den Ganztagstöpfen der Schulen finanziert werden.
Online-Redaktion: Sie haben es eingangs angesprochen, und es ist ja auch immer wieder Thema: Was tun Sie, dass die Vereine auch immer die geschützten Räume für Kinder und Jugendliche bieten?
Raid: Mit verschiedenen Studien wird aktuell erforscht, ob und wann Kinder und Jugendliche in Sportvereinen Gewalterfahrungen erleben. Wir wissen zu wenig über die Bedingungen im Breitensport. Seit vielen Jahren steht die Präventions-, Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit zum Schutz vor Grenzverletzungen, sexualisierter Belästigung und Gewalt, aber auch vor emotionalem Druck, der mitunter im Sport erzeugt wird, sowie ganz allgemein in Bezug auf Süchte ganz oben auf unserer Agenda. Es ist unsere Aufgabe, Kinder und Jugendliche zu schützen.
Wir im Dachverband tun Verschiedenes: Wir stellen spezialisiertes Personal ein, wir koppeln die Vergabe von Fördermitteln an unsere Mitgliedsorganisationen an Schutzstandards, mit denen sich die Verbände beschäftigen müssen. Wir publizieren Infomaterialien, wir schulen und bilden fort, wir sensibilisieren für eine Kultur des Hinsehens, und wir fordern auch Betroffene auf, zu sprechen. Das ist alles nicht einfach, aber nur so kommen wir weiter.
Online-Redaktion: An welchen Stellschrauben sollte noch gedreht werden?
Raid: Gerade in Bezug auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie gilt es, möglichst alle Kinder und Jugendlichen in Bewegung zu bringen. Dazu können öffentlich-zugängliche niedrigschwellige Angebote verhelfen. Darüber hinaus sollte aber gezielt die Motorik der Kinder und Jugendlichen in einzelnen Sportarten gefördert werden können. Dazu benötigen wir kleine Gruppen, um auf die Einzelnen eingehen zu können.
Wenn ich die Art sehe, wie viele Kinder heute beim Sprung vom Kasten landen, weiß ich, welche Schwierigkeiten sie eines Tages beispielsweise mit ihren Gelenken haben werden. Oder schauen Sie sich an, welche Probleme viele beim rückwärts laufen haben. Grundsätzlich sollen Bewegung, Spiel und Sport aber auch als wesentliche Bausteine für ein gesundes Aufwachsen und eine ganzheitliche Entwicklung gesehen werden.
Online-Redaktion: Wenn Sie die Augen schließen – von wie vielen Sportstunden in der Schule träumen Sie?
Raid: Ich wünschte mir, dass mindestens eine tägliche Bewegungsstunde im Schulalltag verankert werden würde und diese dann über eine gelungene Kooperation mit dem Sportverein vor Ort noch weiter vertieft wird. Dann kämen unsere Schülerinnen und Schüler auf annähernd ausreichend körperliche Aktivität.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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