"Sport ist Bildung und spricht alle Sprachen" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Deutschlands Sportvereine möchten die Sportangebote an Ganztagsschulen stärker als bisher mitgestalten und nicht nur Dienstleister sein. Das wurde bei der Fachkonferenz Sport & Schule 2015 am 22. und 23. Oktober in Düsseldorf deutlich.
Die Sportvereine in Deutschland – ob groß oder klein – dürfen die Augen vor den gesellschaftlichen Veränderungen nicht verschließen. Sie sollten und wollen die Ganztagsschule als Chance be- und ergreifen. Darin waren sich die rund 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Fachkonferenz „Sport & Schule 2015“ am 22. und 23. Oktober in Düsseldorf einig. Eingeladen hatten der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und die Deutsche Sportjugend (dsj). Überschrieben hatten sie ihre Veranstaltung: „Der organisierte Sport zwischen Dienstleister und Mitgestalter im Ganztag“. Einhelliger Tenor der zweitägigen Konferenz: „Wir wollen mehr sein als ein Dienstleister.“
Im Malkasten Skizzen für Kooperationen mit Ganztagsschulen gezeichnet
Passender hätte der Name des Tagungsortes nicht lauten können. Man traf sich im Malkasten des gleichnamigen Künstlervereins, um im übertragenen Sinne eine rosige(re) Zukunft der Kooperation zwischen Ganztagsschulen und Vereinen zu zeichnen. So versicherte Bernd Neuendorf, Staatssekretär im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW, gleich zum Auftakt: „Sport ist Bildung. Darum gilt es, Zugänge zu Sport und Spiel zu erhalten und zusätzliche zu öffnen. Die Ganztagsschulen bieten dazu besondere Chancen.“ Wissend um den Erfolg der engen Verzahnung des Ganztags mit dem Landessportbund (LSB) – wie im Programm „NRW bewegt seine Kinder“ – appellierte er an die Vereine in ganz Deutschland: „Sie dürfen sich nicht in die Schmollecke zurückziehen.“
Dem stimmte der Präsident des Landessportbundes, Walter Schneeloch, ausdrücklich zu. Es sei außerdem ein Irrtum zu glauben, der Ganztag koste die Vereine Mitglieder. Die Zahlen blieben konstant und stiegen sogar bei jenen, die mit Ganztagsschulen kooperierten. Dabei engagierten sich dort nicht nur Großvereine. „Auch Vereine mit weniger als 100 Mitgliedern finden den Weg in die Schule“, betonte er. Erforderlich für ein erfolgreiches Miteinander seien lokale Verträge zwischen Kommunen und Vereinen – Musterverträge liefere der LSB.
Flüchtlingssituation eine Herausforderung für den Sport
In einer kleinen sich anschließenden Talkrunde beschäftigten sich die Vizepräsidentin des DOSB, Prof. Dr. Gudrun Doll-Tepper, und Ingo Weiss, Vorsitzender der Deutschen Sportjugend, unter anderem mit der aktuellen Flüchtlingssituation. Während Doll-Tepper diese als „große Herausforderung für alle, uns auch“ bezeichnete und daran erinnerte, dass „Sport alle Sprachen spricht“, mahnte Weiss angesichts der immer häufigeren Nutzung von Sportstätten als Übergangsheime: „Auch der Sport hat Grenzen. Wenn wir keine Hallen mehr haben, um Sport anzubieten, kriegen wir ein Problem.“
Mit Blick auf den kürzlich veröffentlichten 3. Kinder- und Jugendsportbericht forderte die DOSB-Vizepräsidentin zusätzliche Forschungen, um noch konkreter zu erfahren: „Was wissen wir über das Sportverhalten von Kindern und Jugendlichen, was nicht, und was sollten wir wissen?“
Institutionalisierte Kindheit
Wie zuvor Bernd Neuendorf erinnerte der Direktor des Deutschen Jugendinstituts, Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, an das veränderte Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Der Dreiklang Familie, Schule und Vereine habe seine Selbstverständlichkeit eingebüßt. „Heute können wir von einem Zeitalter der institutionalisierten Kindheit sprechen“, betonte er in seinem Impulsvortrag. Das beginne mit der Kita – „und dort immer früher“ – gehe über Ganztagsschulen bis hin zur Ausbildungsphase. „Unsere Kinder sind pädagogisch begleitet wie noch nie“, sagte er.
Das habe selbstverständlich auch Folgen für den organisierten Sport. „Die Institutionalisierung lässt sich nicht aufheben. Sport, Spiel und Bewegung müssen also in den Institutionen, wo sich die Kinder aufhalten, stattfinden“, rief er den Vereinen zu. Dazu müsse sich aber auch das Selbstverständnis des organisierten Sports ändern. Man werde zum Bildungsbegleiter. Es sei künftig die Aufgabe des Sports, den Entwicklungsprozess der Kinder in öffentlicher Verantwortung und in lokalen Bildungslandschaften mitzutragen. Er äußerte die Überzeugung: „Die Dualität von Schul- und Vereinssport ist aufgehoben.“
Das berge einerseits Risiken für den Vereinssport („Wenn sich Vereine der Kooperation entziehen, kann sich das Interesse an ihnen reduzieren“), aber auch für den Schulsport („Schulsportstunden werden zur Disposition gestellt, wenn es ein gutes nachmittägliches Sportangebot der Vereine gibt“). Und immer wieder schwang zwischen den Zeilen die Aufforderung Rauschenbachs mit: Nur gemeinsam werde man erfolgreich die Aufgabe meistern, Kinder und Jugendlichen zu ausreichend Sport, Spiel und Bewegung und Freude daran zu motivieren.
Auf den „Zug Ganztag“ frühzeitig aufspringen
Das Stichwort „Zug Ganztag“ zog sich wie ein roter Faden durch die folgende Diskussionsrunde. Eingebracht hatte es Rainer Ruth von der Sportjugend NRW, als er an das erfolgreiche Landesprogramm „NRW bewegt seine Kinder“ erinnerte und an die Vereine appellierte, „möglichst früh auf den Zug Ganztag aufzuspringen – später ist das deutlich schwerer“. Wie gelingen Kooperationen, wie kann deren Qualität gesichert werden, welche Folgen hat die Ganztagsschulentwicklung für den Leistungssport? Diese drei Fragen erörterten neben Rainer Ruth auch Rüdiger Bockhorst (Reinhard Mohn Stiftung), Lars Höft (Landesschülerrat Niedersachsen), Daniel Knoblich (Hamburger Sportjugend), Jens Schug (Eintracht Trier) sowie Prof. Dr. Lutz Thieme (Hochschule Koblenz).
Für Rüdiger Bockhorst steht fest: „Schule und Sportverein sind unterschiedlichen Zielen verpflichtet, die in einer Kooperation in gleichem Maße berücksichtigt werden müssen.“ Der Sportwissenschaftler Lutz Thieme ergänzte: „Die Grundlage für die Qualitätsentwicklung sollte die Verständigung der Schulen und Vereine über die Ziele, die sie gemeinsam mit und für die Schüler verfolgen, bilden.“ Jens Schug verwies auf den fehlenden Masterplan einer guten Zusammenarbeit und erinnerte daran, dass die Vereine bei der Anbahnung von Kooperationen und bei Vertragsgesprächen Unterstützung benötigten. Insbesondere gelte das für den ländlichen Raum.
Auch die Folgen des Ganztags für den Leistungssport waren ein Thema. Daniel Knoblich verwies darauf, dass es erste Hilferufe von Sportverbänden nach mehr Schulen, die den Leistungssportgedanken trügen, gebe. „Es ist klar, es muss Schnittstellen zwischen Schulen und Leistungssport geben“, brachte es Lutz Thieme auf den Punkt, während Schülerrat Lars Höft deutlich formulierte: „Es wird für Schülerinnen und Schüler schwierig, im Leistungssport aktiv zu sein, wenn Schulen nur Verständnis dafür haben, wenn wir uns ehrenamtlich oder politisch engagieren.“
Reichlich Raum für intensiven Gedankenaustausch
Den intensiven Gedankenaustausch hatten sich die Veranstalter ausdrücklich gewünscht und als ein Hauptziel der Fachkonferenzen „Schule & Sport“ deklariert. Am Abend und in den freitäglichen Gesprächsforen nutzten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Zeit und Kontakt, Anregungen aufzunehmen, eigene Erfahrungen weiterzugeben. „Bedauerlich ist nur immer wieder, dass man zwischen vielen spannenden Themen wählen muss, weil die Foren parallel angeboten werden“, meinte eine junge Sportengagierte.
Sechs Gesprächskreise zum Sport im Ganztag standen dieses Mal auf der Tagesordnung: „Entwicklung und Erprobung unterschiedlicher Mitgliedschaftsmodelle“, „Freiwilligendienste und Engagement für den Sport im Ganztag“, „Vielfalt und Teilhabe“, „Sportkonzepte der Spitzenverbände in der Ganztagsbildung“, „Qualifizierung“ und „Good-Practice-Modelle“. In der Tat die Qual der Wahl.
Neuber: „Keine abgesicherten Befunde zum Sport im Ganztag“
Eingestimmt auf die Foren hatte die Gäste zuvor Prof. Dr. Nils Neuber, Sportwissenschaftler an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, mit seinem Impulsvortrag „Bewegung, Spiel und Sport im Ganztag – Status Quo und Herausforderungen“. Er machte unter anderem deutlich, dass es nach wie vor keine abgesicherte Befundlage zum Sport im Ganztag gebe. Diese aber sei erforderlich, wolle man die Qualität der Sportangebote und der Kooperationen weiter steigern. Sicher sei, dass inzwischen jedes dritte Angebot im Ganztag ein Sportangebot sei. Was ihn zum Fazit führte: „Die Frage ist nicht mehr, ob der Sport im Ganztag stattfindet, sondern wie er stattfinden soll.“ Die zukünftige Aufgabe liege in der Qualität der Sportangebote im Ganztag.
Neuber ist überzeugt, dass Kinder „mit den Füßen abstimmen.“ Sagen ihnen die Offerten nicht zu, bleiben sie ihnen fern. „Daher sind Partizipation und das Berücksichtigen der Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ein Schlüssel zum Gelingen.“
Abschließender Kommentar eines Sportverband-Vertreters: „Nach diesem Vortrag wissen wir, was wir noch zu tun haben. Aber mir ist deutlich geworden, ein Engagement in der Ganztagsschule lohnt sich.“
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